Thomas Böhme: stoff der piloten

„Nur bezogen auf die Lyrik ist mir Platen näher als Heine, George näher als Kraus, Benn näher als Brecht“, bekannte Thomas Böhme in einem Werkstattgespräch mit Thomas Wieke, als sein jetzt vorliegender dritter Gedichtband im Manuskript schon abgeschlossen war. Böhme ließ auch wissen, wo er Gemeinsames sah zwischen Allen Ginsberg und Stefan George: beide seien sehr nächtlich – vielleicht sieht er es nunmehr schon wieder anders. Nicht ausdrücklich erwähnt hat er dazumal eine andere, für ihn wohl weit wesentlichere Gemeinsamkeit jener beiden Phasen-Idole: beide stehen nicht in der Hausapotheke unter den frei greifbaren lyrischen Stärkungsmitteln, eher schon, wenn überhaupt, gab es sie auf besondere Verschreibung in homöopathischen Dosen, wobei der mündlich überlieferte Beipackzettel lang vorher die zahlreichen möglichen Nebenwirkungen vor allem für die aktiviert, die Allergiker sind, speziell die Alltagsallergischen, denen bereits der Anblick von drei Molekülen Normalität Pusteln aus der Haut treibt.

Das Flair der verbotenen Frucht verbindet Böhmes Idole und wenn er überhaupt irgendwo „Generation“ repräsentiert, dann vor allem an diesem Punkt. Thomas Böhme hat sich über die Jahre, in die er nun langsam auch kommt, immer am weniger leicht Zugänglichen in des Wortes mehrfacher Bedeutung orientiert und wenn es die Gelegenheit hergab, hat er das auch gleich erbetheoretisch grundiert: „Man hat es ganz oder man hat es gar nicht, das jeweils Passende gibt es da nicht, und am wenigsten das so gierig Begehrte: ein Widerspruchsloses von gestern als Ahnherr des Widerspruchslosen von heute und morgen.“ Mit Franz Fühmanns Worten sagte das Böhme und so hat er schon Charles Bukowski gelesen, als den noch nicht die renommierten (westlichen) Taschenbuchverlage unter die warmen Semmeln mischten, sondern die kleinen Undergrounder noch ihn flapsig verdeutschten. Inzwischen ist der Bart an, die Jüngeren werden immer jünger, die diskret übersehenen Unterschiede können nicht mehr diskret übersehen werden: Ramba-Zamba ist jetzt schon nur noch im Nebenzimmer und wird im vierten oder fünften Band den Titel „Nächtliche Ruhestörung“ erhalten.

Thomas Böhme schlägt sich nun in die Bresche für Stefan George und Gottfried Benn, für Friedrich Nietzsche und Hanns Henny Jahnn. Gelegentlich auch für Egon Friedell, der auf einem anderen Blatt steht. Und er weiß mittlerweile, behauptet es jedenfalls munter: Rezensenten arbeiten mit Netz, Gedichte dagegen entstehen ohne. „Dass der Quell nicht vertrocknet, dem wir auf Gedeih und Verderb verbunden sind, bleibt unser Amt. Ob wir uns zu ideenlosen Lokomotiven eines fragwürdigen Fortschrittsgedankens machen oder uns als organische Wesen begreifen, denen die Erde anvertraut ist, aber nicht ausgeliefert sein darf, wird über den Bestand des Lebens entscheiden.“ Mit Netz also halte ich dagegen: wie wäre es mit dem Versuch, sich zur ideensprühenden Lokomotive eines vernünftigen, zum Beispiel dialektischen Fortschrittsgedankens zu machen? Als organisches Wesen? Popanze lassen sich so leicht bekämpfen. Ich habe Thomas Böhmes jetzt von ihm selbst distanzierte Gedichte der ersten beiden Bände mit einigem Genuss gelesen, habe mir auch (das Netz) allerlei zugängliche Rezensionen angeschaut und gefunden, dass das Alter der Kritiker eine auffallend große Rolle spielte.

Als alten 68er will ich ihn auch heute noch nicht anerkennen, da waren Ältere als er zu jung. Nahe war er mir, wo er gestand, eigentlich ein zurückhaltender und stiller Junge gewesen zu sein. Die sind es nämlich, wenn sie losgelassen … Nun hat er aber den „stoff der piloten“ portioniert und einigermaßen erfolgreich damit den Eindruck erweckt, als wäre er nun ein neuer Thomas Böhme. Doch zwischen so genannter Formenstrenge, eingesparten Satzzeichen und Kleinschreibung lugt er immer wieder durch: er. Und macht sich ungewollt (oder gewollt) auch zur Probe auf das Exempel, ob formale Übernahmen solche inhaltlicher Art nach sich schleppen, was ja in den Fällen Benn und George nicht gänzlich bedeutungslos wäre. Und siehe: die Form ist doch kein leerer Schlauch für beliebige Weine. Diese Art von elegischem Grundton ist doch ein bisschen wie ein Kuckucksei. Natürlich kann Wortmagie etwas sein, natürlich ist die Sprache ein reizvolles Instrument für den Virtuosen, aber: vollendete Schönheit ist kalte Schönheit, erhabene Größe ist einsame Größe.

Thomas Böhme möchte sich nicht mit rascher Oberflächenwirkung bescheiden, kennt ihre Flüchtigkeit. „es ist eine zeit der zeichen, / sagt aron, / ohne bedeutung. du wirst lange / suchen müssen / im verholzten gewirr der symbole, / die keine mehr sind.“ Ist es eine Zeit der Zeichen ohne Bedeutung? Wie Fremdkörper nehmen sich einige Gedichte in diesem Band aus, „präparate inc.“ etwa oder „marinus van der lubbe“, sehr viele haben für mich den Charakter von aufwendigen Verpackungen für winzige Signalpartikel, denen für sich gesehen das Überraschungsmoment fehlt. Viel nackte Männerhaut kommt vor, die Reihe der angedichteten Künstler flankiert das ergänzend. Das sind Gedichte der Ausgrenzung, der Zugang zu ihnen biologisch bestimmt. Und am Ende steht: „weltende! weltende! doch das hatten wir schon.“ Es ist Thomas Böhmes Variation auf die Antwort Jessenins an Majakowski, Reminiszenz an van Hoddis, Fingerzeig auf Oswald Spengler, Antwort ausgeschlossen. Die Tür schlägt zu, der Schlüssel steckt innen. Fortan und für immer?
Zuerst veröffentlicht in SONNTAG 14 1989, S. 4, 2. April 1989, unter der Überschrift
„Flair verbotener Frucht“; nach dem Typoskript


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