Wolfgang Hildesheimer: Das Ende einer Welt

Sein erstes Venedig-Erlebnis hatte Wolfgang Hildesheimer 1937. Und er fand es herrlich, allein durch die Straßen zu bummeln, die, jeder weiß es, der je dort war, meist eher Gassen sind als Straßen. Er sah auch Murano und staunte über die herrlichen Sachen, die dort gemacht werden: „Sonst ist Murano eine schmutzige Insel mit lauter Kohlenlagern.“ Das ist lange vorbei, doch gibt es nicht wenige Stellen, wenn man die Insel im Boot umrundet, die daran zu erinnern scheinen, wenn man weiß, dass es so war. Nahe Murano aber soll die Insel gelegen haben, die Wolfgang Hildesheimer sich erfand für seine „Lieblosen Legenden“. Aus der Geschichte „Das Ende einer Welt“, mit der die DDR-Ausgabe der Legenden 1977 sogar eröffnet wurde, damit deutlich von den Ausgaben der Bundesrepublik (1952 und 1962) abweichend, die das als Epilog tatsächlich ans Ende setzten, ist eine Funkoper mit Musik von Hans Werner Henze geworden, aus der wiederum noch eine Bühnenfassung erstellt wurde. Die Erstausstrahlung im Nordwestdeutschen Rundfunk war am 4. Dezember 1953, die Premiere in den Kammerspielen der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main am 30. November 1965. Es geht um das Ende einer Welt, nicht das Ende der Welt, wohlgemerkt.

San Amerigo ist der Name der Insel nahe Murano, auf der sich das Ende abspielt. Die Insel wurde künstlich aufgeschüttet, was ihr ein anderes Fundament gibt als Venedig auf seinen Tausenden von Pfählen. Genau dieses Fundament wird der Insel und der Welt, die sie verkörpert, zum Verhängnis. Die Insel ist Privateigentum einer Marchesa Montetristo (sprechender Name, gerade so noch tolerabel) und trägt den Prachtbau eines Palazzo, der dem Palazzo Vendramin am Canale Grande getreulich nachempfunden wurde. Dieser liegt am linken Ufer des Canale und gehört zum Viertel Cannaregio, wurde von 1481 – 1509 von Mauro Codussi errichtet. Venedig-Kenner wissen, dass in diesem Palazzo ein gewisser Richard Wagner starb. Von Codussi (1440 – 1504, genauere Daten unbekannt) stammen mehrere Bauten in Venedig, auch berühmte Fassaden, darunter der Uhrturm an der Piazza San Marco. Die Marchesa, so erfahren Leser sowohl des Funkopern-Librettos als auch der Prosa-Fassung der „Legenden“, fand unter den vorhandenen Inseln keine, die ihr zusagte, sie verabscheute das Festland, und entschied sich deshalb der vermeintlichen Einfachheit halber für eine eigene neue Insel, „da der Gedanke, sie mit jemandem teilen zu müssen, ihr unerträglich war.“

Die Inselwelt wie die Miniaturwelt des kopierten Palazzo ist im doppelten Sinne künstlich. Und dass der Eulenspiegel-Verlag 1977 gerade das „Ende einer Welt“ an den Anfang setzte, hatte kaum verborgene politisch-ideologische Gründe: traf der Autor doch mit dem westdeutschen Kunstbetrieb den Kapitalismus in einem seiner (aus DDR-Sicht) charakteristischen Überbau-Phänomene, die weit entfernt waren von dem, was Kunst sein sollte, genauer, zu sein hatte im Land, da neben der Parteilichkeit der Kunst vor allem deren „Volksverbundenheit“ gefordert und gefördert war. Hier aber, noch dazu wie symbolisch auf einer Insel fern dem festen Lande, das genaue Gegenteil. Abgehobene, realitätsblinde, ja ignorante Genießerzirkel, denen letztlich, so die von Hildesheimer natürlich intendierte Botschaft, selbst der Weltuntergang völlig gleichgültig bleibt, falls er den Genuss einer Flötensonate stört. Satirische Darstellungen solcher Art wurden früher gern ätzend genannt, man soll am Ende auch die Assoziation des berühmten Orchesters auf der „Titanic“ haben, das noch spielte, als die Schnürsenkel der Lacklederschuhe schon feucht wurden. Herrlich, wie Hildesheimer das elitäre Publikum über Kopf klatschen lässt, weil das Wasser schon so hoch steht.

In beiden Fassungen hat Hildesheimer einen Erzähler eingesetzt, der in der Erzählung Sebald, im Hörspiel Fallersleben heißt. Sonst ähneln sie sich aber sehr. Beide waren einmal in Geldsorgen, beide wurden diese los, als sie der Marchesa eine Badewanne verkauften, in der angeblich der französische Revolutionär Marat ermordet wurde. Die Marchesa sammelt solche Stücke aus dem achtzehnten Jahrhundert und ist offenbar unbegrenzt solvent. Wenn sie einlädt für acht Uhr, wird erwartet, dass man nicht vor zehn Uhr bei ihr ist. Es gibt ausgesuchte Genüsse. Aus unerfindlichen Gründen hat Hildesheimer die Überfahrtszeit zur Insel in der Funkoper um eine Stunde gegenüber der Erzählung verlängert: was in Prosa zwei Stunden benötigt, braucht mit Gesang drei Stunden. Dass bei dieser Überfahrt schon Todesfälle vorkamen, verschweigt das Hörspiel, während der Prosa-Erzähler weiß: „... und in der Tat hatte schon mancher Gast sein Ziel nicht erreicht, dafür sein Seemannsgrab gefunden“. Von der erlesenen Gästeschar weiß Fallersleben: „Denn man darf – ja, man sollte – annehmen, dass die hier Versammelten alles gesehen, gelesen und gehört haben, was wahre Bedeutung besitzt.“ Ein Professor unter ihnen will die Monarchie in der Schweiz einführen.

Im Hörspiel ist Hildesheimer lakonischer geworden, hat Kleinigkeiten weggelassen, die in der Prosa noch ergänzen und erklären sollen, jetzt setzt er auf die Wirkung der Sätze ohne dies. Man führt zwei Flötensonaten eines Zeitgenossen von Rameau auf, die gar nicht von diesem Zeitgenossen sind, sondern von dessen Biografen und Erforscher, gespielt wird auf historischem Cembalo und historischer Flöte. „Auch die Flöte hat ihre Geschichte, aber keiner kennt sie.“ In der Erzählung klang das noch so: „Auch die Flöte hatte ihre Geschichte, aber ich habe sie vergessen.“ Auch zum Cembalo gibt es Varianten. Im Hörspiel meint der Erzähler zu Fallersleben, die Pedale beim Cembalo seien so wichtig, in der Erzählung meint dagegen Sebald: „Ich weiß allerdings nicht, ob sie beim Cembalo sehr wichtig sind.“ Es geht um die Wirkung des Wassers der Lagune, wenn es eine gewisse Höhe erreicht hat. Denn, nun sei es endlich verraten: die künstliche Insel fällt ihrem offenbar instabilen Fundament zum Opfer. Fallersleben bemerkt die ersten Anzeichen der kommenden Katastrophe: Ratten, die gewissermaßen das sinkende Schiff verlassen. Die Genießer merken natürlich von allem nichts, „zumal die meisten von ihnen die Augen geschlossen halten“.

Die Diener flüchten mit den Gondeln, mit denen die Gäste kamen, auch Fallersleben entweicht in Richtung San Giorgio. Er muss schon aus dem Palast schwimmen. Während im Hörspiel die Schwimmgeräusche ein unheimliches Echo verursachen, klingt es in der Geschichte noch „wie in einem Hallenbad“. Er sieht das groteske Schauspiel des buchstäblichen Untergangs von außen. „Sie klatschen Beifall, zu welchem Zweck sie die Hände hoch über den Köpfen halten, denn das Wasser steht ihnen bis zum Kinn.“ Die Marchesa meinte noch vorher, nachdem ihr ein Diener die Lage ins Ohr geflüstert hatte: „Ich glaube, es ist in unser aller Sinne, wenn wir mit der Musik fortfahren, als sei nichts geschehen, nein, nichts geschehen.“ Der fliehende Fallersleben sorgt sich um seinen Anzug, und weicht mit seiner Flucht-Gondel aus, als der Palazzo in sich zusammenstürzt: „Es ist so mühsam, den Gips aus den Kleidern herauszubürsten.“ In der Prosafassung war noch ergänzt worden: „... hat sich der Staub einmal festgesetzt.“ Seine Gondel war die letzte und wir begreifen allmählich, warum die Überfahrten so lange dauern. Gondeln sind für lange Strecken einfach nicht die geeigneten Transportmittel, schon gar nicht in der offenen Lagune mit ihrem Wellengang.

Zum Schluss, Epilog und Finale genannt, sagt sich Fallersleben: „Schade um die Badewanne, denke ich, denn dieser Verlust ist nicht wieder gutzumachen.“ Und der Erzähler kommentiert: „Dieser Gedanke mag vielleicht manchen kaltherzig anmuten. Aber man braucht ja erfahrungsgemäß einen gewissen Abstand, um ein solches Erleben in seiner ganzen Tragweite zu erfassen.“ Ob mit der Badewanne die gesamte Waschutensilien-Sammlung der Marchesa unterging, ist nur zu vermuten. Den Spaß, den der Autor selbst an der Geschichte hatte, kann man aus einem Brief Hildesheimers an seine Eltern Hanna und Arnold Hildesheimer vom 4. Februar 1951 gut nachvollziehen. „Theoretisch dagegen könnte ich verzweifelt sein, bin es aber nicht, weil es mir nun einmal Freude macht, die Zustände, so wie sie sind ad absurdum zu führen, was in meinen bisherigen Geschichten zum Ausdruck kommt.“ Seine allererste Geschichte war am 30. März 1950 in der Süddeutschen Zeitung zu lesen gewesen, sie trug den Titel „Der Kammerjäger“, neu gedruckt erst wieder im ersten der sieben Bände „Gesammelte Werke“. Die Welt, die der Autor Wolfgang Hildesheimer zu auch eigenem Vergnügen versinken ließ, lebt im wirklichen Leben weiter, als Insel kaum erkennbar.


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