Jurek Becker: Die Serie zur Einheit

Großen Verlockungen soll man folgen. Die Verlockung, an Jurek Beckers 80. Geburtstag, der drei Tage vor dem Tag der Deutschen Einheit liegt, seiner auf die deutsche Einheit bezogenen Fernseh-Serie „Wir sind auch nur ein Volk“ einige Blicke zu gönnen, ist groß genug, ihr zu folgen. Zumal, wenn man an Vormittagen arbeitet, und nicht etwa am Radio faulenzt. Ich habe mich selbst und den Familienrat befragt: es gibt keine Erinnerung daran, auch nur eine der neun Folgen seinerzeit gesehen zu haben. Obwohl es einen Manfred-Krug-Fanblock im Haus gab, 25 Prozent der vierköpfigen Familie Ullrich umfassend. Irgendwie war Manfred Krug weder als Fernfahrer noch als Liebling in Kreuzberg unsere Kragenweite und das keineswegs wegen mangelnder Qualität der Folgen, wohl aber wegen des Zwangs zur Fortsetzung, dem wir uns bis heute höchst ungern aussetzen. Die drei Taschenbücher des Suhrkamp-Verlages Frankfurt am Main, die noch 1994 in den Buchhandel kamen, alle neun Folgen in Drehbuch-Form enthaltend, standen recht lange neben „Jakob der Lügner“, „Irreführung der Behörden“, „Aller Welt Freund“, „Bronsteins Kinder“, „Der Boxer“. Als dann noch die Briefe, die Biografie von Sander L. Gilman, „Nach der ersten Zukunft“, „Ende des Größenwahns“ und natürlich auch „Warnung vor dem Schriftsteller“ hinzugekommen waren, war der Platz für die Drehbücher in der vorderen Reihe einfach nicht mehr ausreichend.

„Wir sind auch nur ein Volk“ wanderte in die zweite Reihe und fiel dort unter das Gesetz der Gewohnheit: Aus den Augen, aus dem Sinn. Als ich dann der „Warnung vor dem Schriftsteller“ am 14. März 2017 an dieser Stelle einige Gedanken widmete, plante ich für den achtzigsten Geburtstag nicht etwa ein Dossier über seinen Auftritt während der Solothurner Literaturtage 1989, die nicht einmal sein Biograf für der Erwähnung wert hielt, sondern wankte zwischen den Aufsätzen und Vorträgen und eben der ARD-Serie, die letztlich den Zuschlag erhielt, wenngleich nur die erste Folge, die am 18. Dezember 1994, einem Dienstag zur besten Sendezeit unmittelbar nach der Tagesschau, ausgestrahlt wurde. Romane kann ich immer haben, ich muss nur ins Theater gehen. Also: Folge 1 steckt zwar nur den Rahmen, führt aber das Personal schon mehr als nur ein. Als da sind: Ein Filmproduzent namens Eugen Meister, ein Schriftsteller namens Anton Steinheim, die Familie Grimm aus Ostberlin: bestehend aus Benno (knapp 56), Gertrud, genannt Trude (48), Theo (27) und Trudes Vater Karl Blauhorn (78). Elf Herren der obersten ARD-Runde wollen eine Serie mit hoher Zielerwartung: „Sie werden mir zustimmen, wenn ich sage, dass unsere Fernsehanstalten für die Lösung der Probleme, die sich aus der deutschen Einheit ergeben, mehr tun könnten als in der Vergangenheit.“ Die elf Herren gehen miteinander um, wie Klein Mäxchen sich das so vorstellt.

Weil sie das tun, warnt der Drehbuch-Autor Becker im Regietext vor: „Die folgende Szene ist wahrhaftig kein getreuliches Abbild einer Programmkonferenz der ARD“. Dazu hätte man ja auch bei einer Zeuge sein müssen und die Zeugenschaft allein hätte den Verlauf so geändert, dass der Zeuge anschließend immer noch nicht hätte schreiben können, wie es dort tatsächlich zugeht. Wie auch immer, man kommt überein, den Produzenten Meister und den Schriftsteller Steinheim zu binden, um das Projekt zu realisieren. Meister ist gezeichnet, wie sich Klein Mäxchen einen locker-flockigen Produzenten vorstellt, schlecht, aber ausdauernd Golf spielend, sich seine eigenen Anweisungen nicht merkend, immer anderen die Schuld gebend, wenn etwas nicht gleich klappt und vor allem scheißjovial, wenn es gilt, den widerstrebenden Anton Steinheim final zu ködern. Steinheim hat echte Skrupel: „Es ist nicht ganz unproblematisch, über etwas zu schreiben, wovon man keine Ahnung hat.“ Und später: „Mit ein bisschen Lektüre ist es nicht getan. Ich kenne keinen Menschen im Osten, ich war noch nie in Sachsen, Thüringen oder wie das alles heißt.“ Man könnte auf den Gedanken kommen, Becker habe ein wenig auf Wolfgang Menge gezielt, der im Westen mit seinem Ekel Alfred in „Ein Herz und eine Seele“ ein Straßenfeger gewesen sein muss, dann aber mit „Motzki“, ausgestrahlt in 13 Folgen vom 2. Februar bis 27. April 1993, Wallungen produzierte.

An die wilden Hitzewallungen im Osten kann ich mich dunkel erinnern, an die Filme nicht, weil mir ein Ausschnitt beim Zappen, in welcher Folge, weiß ich nicht mehr, ausreichte. Vom 14. Dezember 1993 bis zum 1. März 1994 strahlte das MDR-Fernsehen seine Antwort auf „Motzki“ aus, sauoriginell „Die Trotzkis“ genannt. Das waren aber nicht Leo und seine Sippe, Leo, den ein KGB-Agent in Mexiko mit dem Eispickel erschlug, sondern Trotzki aus Leipzig, gespielt von Heinz Rennhack als Anti-Jürgen-Holtz. Davon sah ich nie eine Minute. Zwischen 1973 und 1979 gab es schließlich fünf Staffeln mit je sechs Folgen von „Klimbim“, auch dieses Vorbild scheint in Andeutungen bei Becker erkennbar. Da stand die Mauer noch wie eine feste Burg, ARD und ZDF hing noch kein Privatfernsehen auf der Pelle. Fällt übrigens in Folge 1 bei Jurek Becker wegen Fehlens auf: die elf Herren denken nicht einen Moment an die private Konkurrenz, obwohl die doch zweifelsfrei für Programmkonferenzen der Öffentlich-Rechtlichen viel eingreifender war, nicht zuletzt deshalb, weil die ehemaligen DDR-Bürger, das wurde damals hinreichend rasch erforscht, das ehemalige Westfernsehen nun immer noch für Westfernsehen hielten und deshalb deutlich überproportional an RTL und SAT1 klebten. Noch in der letalen DDR-Phase gab es landesweit Kabelgraben-Aushebe-Vereine, um über Antennen-Gemeinschaften ans Privat-TV zu kommen.

Davon hat Jurek Becker entweder nichts mitbekommen oder es bewusst ausgeklammert. Seine Ostberliner sind ein ehemaliger Dispatcher, herrlich, wie die doofen Westler nicht wissen, was ein Dispatcher war oder ist, und eine Lehrerin, die nicht entlassen wurde, weil unbelastet. Allerdings sind solche Herrlichkeiten ausgesprochene Mangelware in Folge 1. Hier hat Becker auch nicht sehr intensiv recherchiert: die Entlassung Belasteter traf vor allem Schulleiter und Schulleiterinnen, wie Walter Momper mit dem roten Schal gesagt hätte, einfache Lehrer eher nicht, allenfalls noch Pionierleiterinnen. Und wurde, jedenfalls in Thüringen, sogar unter Einbeziehung des Kollektivs entschieden und nicht streng administrativ. Also: Becker installiert als Familie einen arbeitslosen Dispatcher, den in der wirklichen Welt bald die damals großzügige Vorruhestandsregelung ereilen wird oder eine ebenso großzügige ABM, und eine noch arbeitende Lehrerin im besten Alter. Dazu einen Opa und einen Sohn. Der Sohn brach sein Philosophiestudium wegen dessen Langweiligkeit ab. In Ostberlin hat der auf keinen Fall Philosophie studiert, denn das war dort alles Mögliche, nur nicht langweilig. Der Opa durfte als Rentner schon in den Westen wie alle Opas, es sei, sie waren der Volksbildungsministerin unterstellt. Deren Opas sollten noch schikanöse volle drei Jahre warten, ehe sie auch „rüber“ durften. Opa Karl Blauhorn darf fast wie weiland der Klimbim-Opa reden.

„… und dass das meiste, was jetzt alles geschieht, für mich nicht so furchtbar neu ist, von der Wiedervereinigung hab ich mir nichts versprochen und bin deshalb auch nicht so enttäuscht wie diese Trottel, die alle dachten, ab jetzt fließen Milch und Honig.“ Gegen Illusionen hätte auch das Westfernsehen bereits gut helfen können, der Realismus hatte nur meist die späteren Sendezeiten, zu denen der vollbeschäftigte DDR-Dreischichtler längst im Bett lag, um morgens fit für die Planerfüllung zu sein. Der Raum Dresden ausgenommen. Dort sind die Trottel noch heute enttäuscht und verleihen dem so Ausdruck, wie es sich Jurek Becker vielleicht nie hätte träumen lassen, es sind bekanntlich mehr als zwanzig Jahre seit seinem Tod am 14. März 1997 vergangen. Bei Becker gibt es zunächst die eher harmlosen Enttäuschungen: Benno Grimm schmeckt die Bockwurst nicht mehr, Vertreter schwatzen den Ahnungslosen des Ostens vom Zeitungsabo bis zur überteuerten Heizdecke alles auf, was über die Treibhausnachfrage die Konjunktur im Westen treibt. Schon bei den Bockwürsten müsste man wieder fragen, wie gut sich Becker informierte: nicht die nun schlechtere Bockwurst war das Imbiss-Problem der ersten Nachwende-Zeit, sondern die wie eine Heuschreckenplage übers Land kommende Invasion der Pommes-Buden auf Rädern. Was an Macken der Exposition in Folge 1 dann in 2 bis 9 noch korrigiert wird, bleibt hier offen.

Benno Grimm, den Manfred Krug zu spielen hatte, seine Frau Trude war Christine Schorn, pflegt übrigens ein beneidenswertes Hobby: er sammelt Anker-Steinbaukästen. Spätestens hier werden Rudolstädter Humoristen-Ohren sicher grautierlang: Die von Otto und Gustav Lilienthal erfundenen, von Friedrich Adolf Richter als Patent angemeldeten Bausteine wurden ab 1882 in Rudolstadt in der pharmazeutischen Fabrik Richters hergestellt, der später auch einen Patentstreit dazu gewann. Seit 1895 war Anker offizielles Markenzeichen. 1953 wurde das Werk zum VEB, 1963 die Produktion eingestellt. Für Beckers Text bedeutet das, dass die Steinbaukästen zum Ende der DDR bereits seit mehr als einem Vierteljahrhundert ein abgeschlossenes Sammelgebiet darstellten, was immer besonders reizvoll ist wegen der anzuvisierenden Vollständigkeit der Sammlung. Benno Grimm hat tatsächlich ein beneidenswertes Hobby. 1995 nahm vor Ort eine Anker Steinbaukasten GmbH die Produktion wieder auf. Ihr Sitz: Breitscheidstraße 148. Schon die Testzuschauer einer Voraufführung waren mit dem Gesehenen arg unzufrieden (das dokumentiert die „taz“, Anfang der 90er Jahre die Tageszeitung mit den meisten Druckfehlern milchstraßenweit). Die Zuschauerquote ging, so Biograf Gilman, während der Ausstrahlung der Serie kontinuierlich zurück. Gilman zitiert den Autor Steinheim: „Ich muss einen Knall gehabt haben ...“


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