Johannes Bobrowski antwortet Irma Reblitz

„Ich erinnere mich an ein Fest bei Richter: wild tanzend Elisabeth Johnson und Bobrowski. Und das kam bei Elisabeth nicht so häufig vor, dass sie wild tanzte.“ Das verriet Günter Grass in einem Gespräch mit Roland Berbig und Erdmut Wizisla, das am 18. März 1991 in Behlendorf geführt wurde. Richter ist Hans Werner Richter, der mit der Gruppe 47, die es verstand, die restliche deutsche, vor allem westdeutsche Literatur erfolgreich vom Feld zu beißen. Elisabeth Johnson ist die Gattin Uwe Johnsons, die seit 1977 getrennt von ihm lebte und später das Feuilleton mit ihrem Anteil am Rechtsstreit um Uwe Johnsons Erbe beschäftigte. Wenn sie wild mit Johannes Bobrowski tanzte, heißt das mindestens, dass der ein leidlicher Tänzer war. Wenn Grass das in Erinnerung behielt, dann wohl, weil auch er wilden Tänzen nicht abgeneigt war, wie das berühmte Foto vom Schwoof nach der Nobelpreis-Verleihung in Stockholm für immer und ewig zeigt. Wenn am heutigen 50. Todestag von Bobrowski die SÜDDEUTSCHE ihren Beitrag mit einem Foto versieht, auf dem Grass neben Bobrowski zu sehen ist, dann scheint mir das fast ein wenig zu viel der Ehre. Für Grass. Denn viel mehr als das eingangs Zitierte hat der zu Bobrowski nicht hinterlassen.

Umgekehrt hat Bobrowski Grass sogar öffentlich verteidigt. In einem Gespräch, das Irma Reblitz für den Sender Freies Berlin (12. November 1953 bis 1. Mai 2003) mit Bobrowski führte, meinte dieser: „Der Grass läuft hier herum im Gerede der Leute als eine Art Buh-Mann, was er wirklich nicht ist. Vielleicht im Äußeren oder in der Art. Aber wenn die Leute ihn besser kennenlernten, könnten sie ihn auch besser beurteilen.“ Womit der Übergang gefunden wäre. Irma Reblitz, die sich einen Namen als Übersetzerin aus dem Französischen, beispielsweise Claude Simon, gemacht hat, verdanken wir neben dem zitierten Interview, das am 24. April 1965 im SFB lief, ein weiteres, das der Saarländische Rundfunk am 30. Mai 1965 ausstrahlte. Sie zeigen einen Bobrowski, der vom ersten bis zum letzten Satz fasziniert. Einen, der mit einer rasanten Selbstverständlichkeit ein deutsch-deutscher Dichter mit Wohnsitz in der DDR, genauer in Berlin-Friedrichshagen war. Der Sätze sagte, die heute in 36-Punkt-Schrift auf sehr viele Spiegel geklebt gehörten. Ihre durchschlagende Wirkungslosigkeit aber zeigt abermals und eigentlich niemanden überraschend, dass kluge Gedanken fast noch schneller aus dem Gedächtnis der Mitwelt fallen als horrender Blödsinn, der offenbar mehr Haftkraft entwickelt.

Ein Beispiel, über den Umgang Westdeutschlands mit Literaten der DDR: „Da gilt es schon als ein Talentausweis, wenn es von dem Mann gerüchtweise heißt, er hätte irgendetwas Unerwünschtes oder Unbequemes gesagt.“ Kürzer und treffender lässt sich die Hauptrezeptionsweise des Westens gegenüber dem Osten nicht beschreiben. Nach dem Mauerfall schwanden sogar das Interesse und die Aufmerksamkeit für die verkaufsfördernd vom Gerücht Betroffenen. Nur ganz, ganz wenige überlebten, ihnen gesellte sich eine halbe Handvoll Vorzeige-Ossis bei, denen der Markt eine Nische zugestand, der Rest ist Schweigen. Auch um Bobrowski natürlich. Verleger Klaus Wagenbach hat vollkommen recht mit seinem Urteil, Bobrowski sei vergessen, daran ändern auch die paar mehr oder minder jubilierenden Print-Beiträge des heutigen Todestages nichts. Indianertanz der westdeutschen Verleger nannte Bobrowski im SFB das alljährliche Treiben um die Gruppe 47, deren Preis einmal, 1962, auch ihn ereilte. Heute umkreist der mediale Tanz die Longlist des Deutschen Buchpreises. Auf die Frage von Irma Reblitz nach den Preisen beharrte Bobrowski auch fast störrisch darauf, den Alma-Johanna-Koenig-Preis einen österreichischen zu nennen, auch den gab es 1962, für ein einziges Liebesgedicht übrigens.

Bobrowski wörtlich: „Ja nun, Wien. Das ist natürlich nicht Deutschland, sondern die Österreicher legen berechtigten Wert darauf, eine österreichische Literatur zu haben. Ich finde das auch.“ So geht es hin in diesem Gespräch. Irma Reblitz zeigt taktvolle Zurückhaltung, wenn der Gesprächspartner ihr widerspricht. Das ist selten geworden, denn Medienleute werden sofort gallig, wenn der Partner ihre, heutig gesprochen, Fragekompetenz in Frage stellt. Das ist dann sofort Medienschelte und gegen die schreiten sogar Medien Seit' an Seit', die sonst keinen Seitenhieb gegeneinander auslassen, wenn er sich anbietet. Es steht zu vermuten, dass eine Grundüberzeugung Bobrowskis ihn heute in den Reihen des Vereins Deutscher Oberschlaumeier (VDOS) zum so genannten „Putin-Versteher“ degradieren würde. Bobrowski sagte Irma Reblitz, er schreibe, „um meinen deutschen Landsleuten etwas zu erzählen, was sie nicht wissen. Sie wissen nämlich nicht über ihre östlichen Nachbarn Bescheid. Bis heute nicht. Sie schätzen sie falsch ein; sie sehen sie nicht; sie kennen ihre Historie nicht ausreichend.“ Hat sich darin in den seither abgelaufenen fünfzig Jahren etwas geändert? Soll man das mediale Geschwafel von russischer Seele und russischen Bären etwa für fortgeschrittene Erkenntnis halten? Rezipiert der Westen heute nicht russische Literatur wie weiland die aus der DDR? Gerüchtweise muss es und so weiter, wir hatten es eben.

Der vorgebildete DDR-Leser muss, als er den Text des Interviews mit zehn Jahren Verspätung 1975 zu lesen bekam, von einer Ohnmacht in die andere gefallen sein. Wie selbstverständlich der Dichter Johannes Bobrowski da mit Namen hantierte, die in der DDR, wenn nicht tabu, dann aber wenigsten nicht unter den Top 200 waren. Grass ist nur einer der Namen, da gibt es Robert Wolfgang Schnell und Günter Bruno Fuchs, da gibt es Heinz von Cramer und Hanns Henny Jahnn, manche von ihnen durchaus in mehr als homöopathischen Dosen rezipierbar im Kleinstaat, dann Hans Bender, dann Manfred Bieler, der gerade 1965, als Bobrowski schon nicht mehr lebte, durch den Fleischwolf des berüchtigten elften Plenums gedreht wurde als Vorlagenlieferant für den Film „Das Kaninchen bin ich“, Friedrich Torberg, der Österreicher des Jahrgangs 1908, dessen Theaterkritiken bei mir längst Griff-Flecken haben, so oft nehme ich sie zur Hand. Von der Schuld der Väter meint der Dichter: „Ich muss die jungen Leute dann immer ein bisschen ermahnen, nicht so rigoros zu sein, denn die Verschuldungen der Väter sind auch noch unsere Verschuldungen, und man kann sich, gerade als Deutscher, von seiner Nationalgeschichte nicht freisprechen.“ Ist das nicht ein frappierender Gedanke: Rigorosität des Verurteilens als Selbst-Absolution? Und lässt sich das nicht mit west-östlichem Umgang mit der verflossenen DDR-Geschichte, mit dem stumpfsinnigen Trivial-Schema von Tätern und Opfern zwanglos in Deckung bringen? „Man kann nicht einfach Generationen abschreiben“. Sagt Bobrowski, mehr nicht dazu.

Bobrowski warnte vor Philosemitismus als Therapie gegen Antisemitismus: „... mit dem ist auch nichts getan.“ Einmal hatte Bobrowski natürlich auch den falschen Riecher in diesem Gespräch, auf Klopstock kommend: „Das ist für mich ein Meister, der, ich bin sicher, in seiner Wirkung in Deutschland alles überholen wird, was nachher gekommen ist.“ Wir ahnen, wen er insonderheit meinte und halten es dennoch fortgesetzt mit dem Klarseher Lessing, der die sattsam bekannte Frage aufwarf: „Wer wird nicht einen Klopstock loben? - Doch wird ihn jeder lesen? - Nein.“ Das sich anschließende Fazit: „Wir wollen weniger erhoben und fleißiger gelesen sein.“ gilt uneingeschränkt für Johannes Bobrowski – heute und nächste Woche immer noch. Es sei die Vermutung geäußert, dass gelegentliches chorisches Erheben wegen der damit rasch verbundenen Übersättigungseffekte um so sicherer das fortgesetzte Vergessen zementiert. Im übrigen kann man dem Interview auch Handreichungen entnehmen, die den Umgang mit seinen Texten tatsächlich erleichtern. Das aber wäre, demonstriert an seinen Erzählungen etwa, ein eigenes Thema.


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