Johannes R. Becher 125

Das erste Buch, das ich im Jahr 1970 las, Schüler der elften Klasse der Goethe-Schule Ilmenau, trug den kurzen Titel „Abschied“. Es war Pflichtlektüre, der Autor Johannes R. Becher war uns kein Unbekannter mit seinen Gedichten, als Roman-Autor auf alle Fälle eine Überraschung. In jenem Januar las ich sechs Bücher, alle aus der Bibliothek ausgeliehen. Das waren „Beinahe Anno Tobak“ von Rudolf Daumann (1896 – 1957), „Wolgafahrt“ von Erwin Bekier (1920 geboren), „Mexikanische Erzählungen“ von Bodo Uhse (1904 – 1963), „Der Sprung vom Heiligen Fisch“ von Eberhard Panitz (1932 geboren), „Die Uhr“ von Leonid Pantelejew (1908 – 1987) und eben zuerst „Abschied“. Später sah ich den Film „Abschied“, in dem Jan Spitzer den Hans Gastl spielte, Rolf Ludwig seinen Vater und Heidemarie Wenzel die Fanny Fuß. Sie hatte eine der frühen Nacktszenen der DEFA. Das Drehbuch schrieb Regisseur Egon Günther gemeinsam mit Günter Kunert, Kunert spielte eine kleine Rolle als Bildhauer. Mit von der Partie waren unter anderen auch Manfred Krug, Jürgen Heinrich, Rolf Römer, Annekathrin Bürger, Fred Delmare, Ernst-Georg Schwill. Überliefert ist, dass Walter Ulbricht das Kino demonstrativ verließ, als der Film anlässlich einer Johannes-R.-Becher-Ehrung gezeigt werden sollte. Becher war Autor eines hagiographischen Ulbricht-Porträts.

Plötzlich war da ein dunkler Punkt in der Becher-Biographie: ein erwünschter Doppel-Selbstmord mutierte zu einer, streng genommen, vorsätzlichen Tötung. Becher als Mörder, das war starker Tobak. Ich erinnere mich nicht an eine befriedigende Aufklärung des Sachverhaltes, auch von der zeitweise überstarken Drogenabhängigkeit, die der Dichter nie ganz los wurde, war nie die Rede, auch nicht hinter der berühmten vorgehaltenen Hand. Kunert dagegen war mir ein Becher-Stichwort, zu dem ich immer wieder einmal zurückkehrte, vor allem in den beiden Studentenjahren, da ich mich auf eine Diplom-Arbeit zu Günter Kunert vorbereitete, mit einer Beleg- und einer Jahresarbeit dazu mir eine gewisse Materialbasis schuf. Das berühmte Becher-Tagebuch „Auf andere Art so große Hoffnung“ für das Jahr 1950 mit Nachträgen 1951 enthielt Notizen über die ersten Begegnungen des repräsentativen Dichters Becher mit dem Nachwuchs-Dichter Kunert. Sie beginnen am 19. Januar 1950 so: „Ein junger Mensch hat mir seine Gedichte geschickt, und sie sind begabt. Günter Kunert muss kein Literaten-Internat besuchen, er geht in die Schule, die das Leben ist und er ist ein aufmerksamer und talentierter Schüler, und, wir hoffen, ein fleißiger auch.“

Andächtig, so Becher in dieser Eintragung, schreibe er das Gedicht „Erst dann“ ab und dann reißt ihn das Pathos dahin, das er gern auch sich selbst, seiner Person und seinem Schaffen widmet: „Und eine zerschlissene Fahne neigt sich, der Dichter in mir neigt sich, vor einem neuen Wehen.“ Dabei zeigt Kunert von Beginn an wenig Neigung, Becher selbst nachzufolgen und etwa Sonette zu schreiben, wie dieser es fast bockig gegen jeden Zeitgeist tat. Schon am Folgetag zitierte Becher ein weiteres Kunert-Gedicht in seinem Tagebuch und am 24. Januar sah er den jungen Mann erstmals persönlich: „Begegnung mit Kunert. Schlecht gekleidet, beinahe grotesk schlecht, mit eckigen, verlegenen Bewegungen, verhungertes Vogelgesicht. Solch ein Jüngelchen, Bübchen und solch ein Dichter.“ Später hat Günter Kunert auch schriftlich bekundet, wie sehr ihn solche Charakteristik verletzte, denn die vermeintlich groteske Kleidung war Eigenbau, auf den Kunert sehr stolz war, vorerst aber war dies wichtiger, was Becher festhielt: „... nun, wir werden uns seiner Sache annehmen. Er will einen Breughel-Roman schreiben.“ Aus diesem Projekt ist nichts geworden, auch sonst hat sich Kunert in der inzwischen fast endlos langen Reihe seiner Bücher nur einen einzigen Roman gegönnt: „Im Namen der Hüte“. Aber es erschien „Wegschilder und Mauerinschriften.“

Ohne Becher, daran bis heute kein Zweifel, hätte es diesen ersten Gedichtband Kunerts so schnell, in diesem Umfang und vor allem auch in diesem renommierten Verlag (Aufbau) kaum gegeben. Und es ging rasend schnell: heutige Lyriker würden wohl gleich reihenweise von den nächstliegenden Hochhäusern springen vor Begeisterung. Am 28. Januar nennt Becher Kunert „Grashüpfer“ und notiert: „Er hat schon einen Vertrag erhalten und hat Gedichte für zwei Zeitschriften ausgesucht.“ Im Mai vernachlässigte Becher sein Tagebuch ein wenig, erst der nahende 59. Geburtstag führte zu neuer Disziplin. „Wir haben das Tagebuch aus den Augen verloren.“ Pluralis majestatis, er freut sich über die Platten, auf denen Ernst Busch Bechers „Neue Volkslieder“ singt in der Vertonung von Hanns Eisler. Becher schreibt beiden rasch ein Widmungsgedicht mit der nicht ganz unbescheidenen Zeile „Ein jubelnder Chor nimmt auf mein Leben.“ Das blieb ja letztlich auch tatsächlich so, wobei nach seinem frühen Tod 1958 der Jubel leiser wurde und dennoch keineswegs sofort einer kritischen Sicht oder gar der ja keineswegs leicht zu fixierenden „Wahrheit“ Platz machte. Der 22. Mai 1950 war ein Montag. „Unversehens wie ein schreckliches Erwachen steht man vor der Tatsache, dass man bald sechzig Jahre alt wird ...“.

Er dankt der Mutter, dem Volk, den großen Genien, der Partei, der Sowjetunion, Lily und den Feinden, in dieser Reihenfolge: „Dank, nichts als Dank, siebenfacher, tausendfacher Dank.“ Dem Vater dankt er nicht. „Zu Hause ein Blumengarten. Und die Jugend mit ihren Fahnen. Sie empfängt mich singend.“ Immerhin weist er sich noch an seinem 59. Geburtstag selbst in die Schranken.
„Wenn einer gerühmt wird und Ruhm ihn umgibt, so tut er nur klug daran, diesen Ruhm nicht allzu lange mit sich herumzutragen, sondern ihn möglichst rasch abzugeben. Ruhm nicht abzugeben setzt Schimmel an.“ Unter dem 19. September findet sich dieser Eintrag: „Der Grashüpfer Kunert wie den Grashalmen Whitmans entsprungen.“ Liest man, was Kunert unter der Überschrift „Glück“ für den 1974 erschienenen Reclam-Sammelband „Erinnerungen an Johannes R. Becher“ beitrug, kann man von der fast manierierten Abstraktheit der kaum mehr als zwei Druckseiten irritiert sein. Wäre das nicht persönlicher gegangen? Es sollte nicht. In „Erwachsenenspiele“ offenbart Kunert, warum, ohne in allzu intime Details zu gehen. Dass es in offiziellen Gedenkbänden auch manche Verlogenheit gibt, überrascht nicht erst heute niemanden. Becher selbst hielt Lobreden für Leute, die er nie leiden mochte, Willi Bredel wäre ein stellvertretendes Beispiel. Fragen bleiben zuhauf.

Wie kann einer, der als ekstatisch wilder Lyriker begann, den die Zeitgenossen dieser Jahre vor dem Weltkrieg fast durchweg hoch schätzten, in den gar nicht so späten Jahren seines Lebens zu einem Mann werden, dem Funktionärssprache geläufig ist, der über alles Maß Fertigteilsätze spricht und schreibt? Becher war im sowjetischen Exil, Becher hat es unbeschadet überlebt, wenn man die inneren Schäden beiseite denkt, die mit Sehen und Schweigen verbunden sind, wenn man sah, was Becher sah und schwieg, wie Becher schwieg. Er spielte dort eine große und wichtige Rolle. Er hatte Macht, so machtlos er war. Seine Macht übertrug sich sogar auf Gattin Lily. Bei Hedda Zinner, die sich keineswegs rückhaltlos ehrlich, vor allem ehrlich gegen sich selbst, an die Exilzeit in der Sowjetunion erinnert, bekommt man eine Ahnung, wie das im Detail lief. Wie sie waren, die kommunistischen Männer, die päpstlicher sein zu müssen glaubten als der Papst, sprich linker als links noch in Deutschland, linientreuer als linientreu in Stalins Paradies. Wie die Frauen allem ausgeliefert waren. Brecht las in seinem Exil, was Becher in seinem redete und zu Papier brachte. Über einen Artikel in „Internationale Literatur“ notierte Brecht am 10. November 1943: „der stinkt von nationalismus“. Er fand schon das Nationalistische bei Schiller, Goethe oder Hölderlin unerträglich. Ihn verlangte nach einem Speikübel.

Heute ist selbst der 125. Geburtstag von Becher kein Anlass so zu tun, als müssten noch in großem Umfang ungehobene Schätze zu Tage gefördert werden, als müssten Bilder korrigiert werden, die bei Licht besehen in kaum einem Kopf ja überhaupt noch existieren. War da ein Schwarz-Weiß-Film, in dem Becher atemlos an seinen Lippen hängenden Pionieren aus seiner Ulbricht-Eloge vorlas (oder war es über Wilhelm Pieck), unter den atemlosen Pionieren erkennbar deutlich Monika Maron? Becher in Ahrenshoop? Becher und seine Nationalhymne, die Neigung des Müncheners zu deutscher Einheit? Dem Augsburger Brecht ging es da etwas anders. Nein, wir haben die brikettdicke Biographie von Jens-Fietje Dwars mit einem hier nicht zu erörternden Beigeschmack, wir haben die deutlich schmalere Darstellung der politischen Becher-Biographie von Alexander Behrens, zu der ich bei Gelegenheit lieber greife. Als ich vor fünf Jahren wegen des Kleist-Jahres Bechers „Kleist-Hymne“ wieder einmal las, verabschiedete ich mich von meinem stillen Vorurteil, den Expressionisten zu mögen, den reimenden Pathetiker nicht. Von den 18 Bänden der DDR-Ausgabe bevorzuge ich ohne alle Einschränkung die Bände 12 bis 18. Und stelle demnächst meine einzige gedruckte Äußerung zu Becher ins Netz, der Ehrgeiz dabei ist rein dokumentarisch.


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