Arthur Holitscher: Das Fest Russland

Nein, Arthur Holitscher ist keiner von den allseits verhassten und darum zum Missdeuten freigegebenen Putin-Verstehern. Als Putin geboren wurde, war Holitscher fast auf den Tag genau bereits elf Jahre tot, gestorben in Genf im Exil am 14. Oktober 1941. Die Grabrede dort hielt ihm kein Geringerer als Robert Musil, der wiederum fast auf den Tag genau ein halbes Jahr später, am 15. April 1942, ebenfalls in Genf verstarb. Aus dem Entwurf zu dieser Grabrede hat, soweit ich sehe, zuerst Ruth Greuner 1969 in ihrem Buch „Gegenspieler“ zitiert. Die am 24. Juli 1931 geborene Autorin, verdienstvoll vor allem als Herausgeberin für verschiedene DDR-Verlage, gehört zu den Unauffindbaren im weltweiten Netz, Suchmaschinen liefern alles, nur keine verlässlichen biographischen Angaben, nicht einmal die aus Meyers Taschenlexikon „Schriftsteller der DDR“, einen Reim mag ich mir darauf nicht machen. Zu Holitscher herrscht seltene Übereinstimmung: „Arthur Holitscher ist heute fast unbekannt.“ (Frank Beer 1973) „Neben der NS-Herrschaft hat seine nur sporadische politische Parteigängerschaft dazu beigetragen, sein Werk vergessen zu lassen.“ (Gert Mattenklott, Killy Literaturlexikon) „Kaum jemand kennt ihn heute noch“. (Volker Weidermann 2008). Vielleicht kommt ja 2019 zum 150. Geburtstag ein später Versuch dagegen an.

Um den im Jahr des hundertsten Geburtstages von Arthur Holitscher geborenen Weidermann zuerst zu zitieren: „Wenige Bücher haben mich während der Arbeit an diesem Buch so beeindruckt und bewegt wie die Lebenserinnerungen des Schriftstellers Arthur Holitscher (1869 – 1941).“ Weidermann meint die Arbeit an seinem „Buch der verbrannten Bücher“, bei Kiepenheuer & Witsch in Köln erschienen und jederzeit empfehlenswert. Holitscher war mit seinen Büchern unter denen, die auf den Scheiterhaufen des NS-Regimes landeten. Seine Erinnerungsbücher heißen „Lebensgeschichte eines Rebellen“ von 1924, zu mäßigen Preisen in der Erstausgabe in diversen Antiquariaten zu kaufen, und „Mein Leben in dieser Zeit“ (1928). Zur „Lebensgeschichte eines Rebellen“ gibt es eine ausführliche und selbstredend wunderbare Kritik von Kurt Tucholsky, der Holitscher auch sonst sehr mochte. Schlägt man nach, auch bei Weidermann spielt es vor allem anderen eine Rolle, dann erfährt man, dass der Detlev Spinell in Thomas Manns „Tristan“ das bösartige Bild Holitschers zeichnet. Und dass Franz Kafka für sein Fragment „Amerika“ sich bei Holitschers erstem richtig großen Erfolg „Amerika. Heute und Morgen“ (1912) bedient haben soll.
Hier aber soll es ausschließlich um den Sowjetunion-Reisenden Holitscher gehen.

Der war nicht weniger als fünfmal dort, zuletzt 1927 zu den Feiern zum zehnten Jahrestag jener Revolution, die heute nur noch von Hartgesottenen Große Sozialistische Oktoberrevolution genannt wird. 1927 hat er auch in „Die neue Bücherschau“, Heft V, einen kleinen Beitrag veröffentlicht mit dem Titel „Lenin spricht“. Er schildert darin sein Erlebnis während des Kongresses der III. Internationale im November 1922, als Lenin ihm den Eindruck machte, wieder vollkommen gesundet zu sein und dennoch keine 15 Monate mehr zu leben hatte. Lenin sprach deutsch. Wenn ihm ein Wort fehlte, ließ er sich von seinem neben dem Rednerpult verharrenden Sekretär helfen, Formulierungs-Vorschläge aus der deutschen Delegation dagegen nahm er laut Holitscher nicht an. „Sein Wesen ist ganz umwittert von dem Unerklärlichen, dem Magnetismus der gewaltigen schicksalhaften Persönlichkeit. Dieses Unerklärliche ist es eben, in seinem Wesen begründet, was die Masse, die zu ihm aufblickende Masse bestimmt, an ihn zu glauben.“ Lenin ist für diese Massen, heißt das, Gegenstand des Glaubens, der Umgang mit ihm nimmt bereits zu Lebzeiten kultisch-religiöse Züge an, der Schritt zum Personenkult ist nur noch ein kleiner und Lenins Nachfolger ist ihn sehr konsequent und mit breitester Blutspur hinter sich gegangen.

Liest man heute die kleine Schrift „Das Fest Russland“, fällt zuerst auf, dass ein Name fehlt, der, den ich eben auch nicht genannt habe. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Holitscher hat ihn tatsächlich selbst ausgeklammert oder die milde Oberaufsicht des sozialistischen Buchwesens hat, als sie 1973 in Lizenz des S. Fischer Verlages Frankfurt am Main den Sammelband „Reisen“ erscheinen ließ, für die dezente Retusche gesorgt. Verwundern würde das nicht, der stellvertretende Kulturminister der DDR, Alexander Abusch, hat für seine dickleibigen Werkausgaben-Bände auch alle Stalin-Spuren getilgt und das sogar, ohne darauf eigens hinzuweisen. Die Anmerkungen im Band „Reisen“ zeigen in später auch in der DDR nicht mehr so praktizierter Radikal-Verlogenheit ihr fälschendes Bild der Geschichte der Sowjetunion. Denn wenn auch der Name Stalin auffallend fehlt bei Holitscher, die Namen Radek, Rykow, Sinowjew, Kamenjew, Bucharin, Tomski, selbst Trotzki, sind bei ihm präsent. Alle anderen Namen sind im Anmerkungsteil mit ihren Lebensdaten angegeben, selbst der Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin, der 1936 starb, hat seine Lebensdaten. Der Grund ist einfach: Er starb, wie auch Lunatscharski, wie Woroschilow, eines natürlichen Todes, die anderen wurden erschossen.

Trotzki war die Ausnahme, der wurde im Exil von einem gedungenen Mörder erschlagen, der Mörder bekam zur Belohnung von Stalin den höchsten Ehrentitel der Sowjetunion und alles zusammen karikiert aufs grausamste, was Arthur Holitscher als sein Bild der Sowjetunion zu Papier brachte. Gerade deshalb aber sind Schriften wie seine von einer speziellen Authentizität selbst dort noch, wo sie 1927 den bereits allgegenwärtigen Propaganda-Lügen des Regimes aufsitzen. Man lese, was Holitscher über politische Gefangene zehn Jahre nach der Revolution schreibt, es stehen einem in Kenntnis der tatsächlichen Entwicklung die Haare zu Berge, schlimmer war auch die Täuschung von Rot-Kreuz-Delegationen in deutschen Konzentrationslagern kaum. „Die Gefangenen haben einen Klub, ein Theater, ein Kino“, wird ihm vorgeführt. „Über nichts sind solche giftigen, niederträchtigen Lügen in der Welt im Schwung wie über die Frage der politischen Gefangenen. Ihre Behandlung ist humaner als woanders in der Welt.“ Holitscher und die anderen dürfen einen weißgardistischen Kavallerie-General besichtigen. Ein anderer Konterrevolutionär hat in Haft eine Tolstoi-Biographie geschrieben und arbeitet nun an einer über Bakunin. Und er kennt sogar die übersetzten Bücher von Erich Mühsam, Johannes R. Becher und, tatsächlich, Holitscher.

Johannes R. Becher war Delegationsmitglied, auch Käthe Kollwitz war dabei und Helene Stöcker, man trifft später auf viele Berühmtheiten von Theodore Dreiser bis Diego Rivera, von Bela Kun bis Panait Istrati, von Henri Barbusse bis Clara Zetkin. Man erlebt Aufmärsche und Kongresse, alles längst so choreographiert und dramaturgisch gestaltet, wie man es später in allen sozialistischen Ländern und heute noch in Nordkorea unermüdlich nachahmte. Endlose Vorbeimärsche, die für alle auf den Tribünen die pure Strapaze waren, weil sie stundenlang in der Kälte standen, während die Vorbeimarschierenden, die Vorbeitanzenden, die Vorbeireitenden ja wenigstens in Bewegung waren. Bis zu zwölf Stunden mussten einige auf dem Dach des nun schon existierenden Lenin-Mausoleums ausharren und grüßen, Holitscher ging nach fünf Stunden, ohne dass ihm etwas daran übel genommen wurde, jedenfalls schreibt er davon nichts. Dafür aber: „Wegen seiner Gesinnung allein sitzt kein politisch Andersdenkender in russischen Gefängnissen. Erst wenn er konspiriert, spioniert, Aufruhr mit Waffen gegen die Sowjets unterstützt oder sich dabei aktiv betätigt, fasst man ihn, macht ihn unschädlich.“ An solchen Stellen wird die Sprache verräterisch: unschädlich machen, liquidieren, das ging auch einem Holitscher verblüffend leicht von den Lippen.

Das Verfahren, Andersdenkende zu kriminalisieren, hat später im real existierenden Sozialismus der DDR beispielsweise zu Strafrechtsreformen mit Einführung neuer Sonderparagraphen geführt, in Stalins Sowjetunion folterte man die einstigen Kampfgefährten aus Revolutionszeiten einfach so lange, bis sie bekannten, deutsche oder japanische Spione zu sein, dann konnte man sie rasch und ohne das aus den USA bekannte Verfahren, Todeskandidaten noch jahrzehntelang zu verwahren bis zum Finale, erschießen. Arthur Holitscher und seine Freunde und Bekannten sahen als Bestandteil des gigantischen Vorbeimarsches auch mitgeführte Galgen, an denen symbolisch Politiker des Westens baumelten. Wir wissen demnach, bis zu welchen Wurzeln dieser neuerdings bisweilen in Sachsen gepflegte Brauch zurück führt. Überhaupt hatte der Demonstrationszug gar nicht wenige Elemente deutscher Rosenmontagszüge an sich. Arthur Holitschers Bericht oszilliert zwischen Begeisterung und Gerührtsein und vollkommen unaufgeregter Klarsicht, dass es ein Vergnügen ist, das so lange nach den Geschehnissen zu lesen. „Wenn Schiller sein Jahrhundert das tintenklecksende genannt hat, dann verdient unser zwanzigstes, besonders in diesen nördlichen Himmelsstrichen, das redenschwingende genannt zu werden.“ Holitscher hat gezählt.

„Alles in allem dürften es an die fünfhundert gewesen sein, die unsere Gruppe gehalten hat und anhören musste. Mit den Übersetzungen ins Russische etwa siebenhundert.“ Er selbst hielt während der Rundreise siebzehn Reden. Überall wird den Gästen aufgetafelt, dass sich die Tische biegen und das trotz der nach wie vor herrschenden Armut, der Knappheit. „Dazu Reden, Reden, Sturzbäche, Wasserfälle, Stromschnellen von Reden, die sich in allen Sprachen der Welt ablösen...“. Auf dem Dorf müssen sich die Intellektuellen fragen lassen, warum sie wie Bourgeois aussehen. Und sie erfahren während eines von Lunatscharski geleiteten Kongresses der revolutionären und proletarischen Dichter der Welt, dass eine „Zentralisierung der Schriftstellergruppen unter Führung der russischen“ anvisiert wird. Dass die befreite Arbeit noch immer nicht das pure Vergnügen ist, sehen auch die Gäste aus dem Westen. Holitscher dazu: „Der Arbeiterklub, die Kameradschaft, die Aufklärung über Wesen und Zweck der Gemeinschaft, das Ziel adelt noch die drückendste Form des Schuftens.“ Aber es gilt ihm trotz allem: „Wer den russischen Arbeiter mit Arbeitern kapitalistischer Länder vergleicht, hat keine Augen, kein Herz, keinen Verstand.“ Kurz vorher hatte er, ohne das so zu nennen, die wilde Umweltverschmutzung im Erdölfördergebiet geschildert.

Was sieht er in ukrainischen Bauernhütten: „Neben dem großen warmen Ofen, an der Wand: sieben Heiligenbilder, ein Bild Lenins im Rahmen mit Papierblumen und ein alter Öldruck: die Zarenfamilie!!“ Das ist ihm sogar zwei Ausrufezeichen wert. Das Reisen selbst hat ihm kein pures Vergnügen geliefert: „Achtzehn Tage lang in einem Waggon unterwegs … Nie weniger als vier Menschen in einem Abteil, nie weniger als zu viert in einem Hotelzimmer. Keine Minute allein.“ Das ist er, der bürgerliche, der linksbürgerliche Intellektuelle, dem der Voll-Kollektivismus sogar körperliches Unbehagen bereitet. Wer versteht das nicht? Aber Holitscher sah auch das, was er unglaubliches Völkergemisch nannte und täuschte sich darin, es 1927 als überwunden zu sehen. Anmerkenswert scheint mir die unbekümmerte Art, wie er von Rassen und Negern spricht, er bedauert geradezu den Argentinier, der wegen seiner hellen Haut nicht von außen als Freund der Revolution zu erkennen ist, „aber ein Neger verbürgt widerspruchslos das Bestehen der Internationale über den ganzen Erdball.“ Die „Internationale“ wird nahezu ununterbrochen gesungen, nach jeder Rede auf alle Fälle. Und es gibt schon ungeheure Büsten von Lenin, ungeheuer hohe Standbilder von Lenin, nur eben Stalin, den gibt es nicht.

Nun zitiere ich Robert Musil: „Wir nehmen von einem Manne Abschied, dessen Werk ihn überdauern wird; und dessen persönliches Wesen, worin es sich ausdrückte, solange es bei Kräften war, die reine und erfrischende Wirkung eines Gewitters gehabt hat. Es ist ein kleiner Freundeskreis, der seinen armen Körper dem Boden Genfs übergibt: als dem der Stadt, die dem Flüchtling schon zu Lebzeiten die letzte Rast gewährt hat; und ihn nun als Geschenk empfängt. Denn die heute hier stehen, sind nicht die letzten, die an sein Grab in Genf kommen werden: Arthur Holitscher, den Dichter und Kämpfer zu ehren.“ Vielleicht verläuft sich auch heute jemand dorthin, ich stehe im Geiste neben ihm. Neun Jahre ist es her, dass ich Holitschers Erzählung „Mojave-Wüste“ las, ein Nebenprodukt seiner USA-Reisen, zwei Jahre nach seinem Amerika-Buch in „Die Neue Rundschau“ gedruckt. Die nach „Reisen“ zweite DDR-Sammlung „Ansichten“ (Volk und Welt 1979) mit Essays, Aufsätzen, Kritiken und Reportagen aus den Jahren 1904 – 1938) hat beim Blättern neue Neugier geweckt. Eine erneute Lektüre von Thomas Manns „Tristan“ habe ich mir verkniffen, meine vier Typoskriptseiten vom 21. April 1997 lösen keine heftige Unzufriedenheit in mir aus. Jetzt lese ich noch rasch einen Brief von Frank Wedekind an Arthur Holitscher. Von 1908.


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