Heinrich Böll: Stichworte

Wer Nachworte zuerst liest, was natürlich jedem Leser frei steht, ist in keiner anderen Situation als der, der ein Vorwort zuerst liest, falls es eins gibt. Er muss damit rechnen, dass ihm eine Lesart vorgegeben wird. Der der oder die Texte, die folgen oder vorhergingen, nicht nur keineswegs entsprechen müssen, sondern fast regelmäßig nicht entsprechen. Im vorliegenden Fall dokumentiert das Buch, in dem ich Bölls „Stichworte“ las, eine Sendereihe des hessischen Rundfunks mit verschiedenen Beiträgern, acht an der Zahl, die auf dem Titel in alphabetischer Folge genannt sind, im Buch selbst aber nicht in dieser Ordnung erscheinen, sondern vermutlich in der zeitlichen Folge der Sendungen. Das schon erwähnte Nachwort hält sich da bedeckt. Es erwähnt überhaupt keine Sendetermine. Den für Böll erfährt man, wenn man den Text in dem Böll-Sammelband „Heimat und keine. Schriften und Reden 1964 – 1968“ aufsucht, es war der 17. Januar 1965. Wenn man, wie ich, wegen eines offenbaren Druckfehlers einen kurzen Textvergleich betreibt, stößt man auf den verblüffenden Umstand, dass „Stichworte“ in „Heimat und keine“ um volle fünf Druckseiten länger ist als in „Das Tagebuch und der moderne Autor“. Herausgeber Uwe Schultz, der auch das Nachwort verantwortet, hat offensichtlich diese fünf Seiten ohne Erklärung dazu gestrichen.

Zu Böll schreibt er: „Forum einer Polemik, die sich selbst prüft, bevor sie an die Öffentlichkeit tritt, die im „Stichwort“ die Grenzen der Unabhängigkeit gegenüber der Umwelt zieht, ist das Tagebuch für Heinrich Böll. Industrielandschaft, Fußball-Fanatismus, Konsum-Korruption, Kirchenpolitik und Kriegskatastrophe sind Phänomene einer Welt, zu der ein klares, nicht zuletzt moralisch intaktes Verhältnis gewinnen, das Tagebuch die Chance bietet, einen Prüfstand, auf dem die eigene Position der stilistischen Argumentation standhält.“ Mit Bölls Text „Stichworte“ hat das, wohlwollend gelesen, rein gar nichts zu tun. Vermutlich musste der Herausgeber das, was Böll zur Sendereihe beitrug, da es nun einmal war, wie es war und eingeplant vermutlich außerdem, so deuten, als trüge es tatsächlich zum vorgegebenen Thema bei, was es aber tatsächlich nicht tut. Böll benutzt in der allerersten Zeile einmal das Wort Tagebuch, dann kommt es auf allen folgenden Seiten nie wieder vor. Böll bietet weder Auszüge aus seinem Tagebuch noch teilt er mit, ob er und wenn ja, wie genau, ein Tagebuch führt, noch debattiert er mit sich und den potentiellen Rundfunkhörern darüber, was ihm selbst oder wem auch immer ein Tagebuch sein sollte oder ist. Böll liefert dem Sender, was man in der Schule, Tatort Aufsatz, mit „Thema verfehlt“ beschreibt.

Genau fünf Stichworte hat Heinrich Böll sich gewählt: Wetter, Örtlichkeit, Post, Lektüre, Arbeit. Natürlich sind das Tagebuch-Stichwörter, jeder Leser von gedruckten Tagebüchern weiß das und weiß ebenso natürlich auch, dass die Tagebücher von Prominenten und solchen, die sich für solche halten, immer mit dem Blick auf die spätere Öffentlichkeit geschrieben werden, wenn sie nicht wie heute unter der neuen Tarnbezeichnung Blog gleich so verfasst werden, ein tägliches Wunschbild von sich selbst im Netz zu präsentieren. Der eine fühlt sich bemüßigt, drei- bis fünfmal pro Woche seine vorbildliche Gesinnung auszustellen, der andere teilt mit, welch bedeutende Persönlichkeiten er während seiner zahlreichen Reisen mit Bussen und Bahnen auf jedem Bahnhofsklo trifft, mit wem er Kaffee trank, mit wem bulgarischen Rotwein. Ein sehr berühmter Mann aus dem Niedersächsischen notierte mit erkennbarem Kürzel die Sexualkontakte mit der Gattin, Goethe gar verschwendete von den wenigen Zeilen, die er von seinen jeweiligen Schreibdienern zu Papier bringen ließ, überreich Platz an die Titel und Ränge der Herren und Damen, denen er vorlas, die ihn besuchten, mit denen er speiste. Wetter findet sich in vielen Tagebüchern mit Regelmäßigkeit, Örtlichkeit auch, man will sich ja erinnern, wo man war. Böll hat nur Wetter mit Tagebuch-Bezug.

Post, logisch, das zeigt, mit welchen Größen man korrespondiert, Lektüre ist schwieriger, weil ab einer gewissen Berühmtheit, es darf auch die an sich selbst erfühlte sein, es schwer fällt, der Mit- und Nachwelt Kenntnisdefizite einzuräumen. Die wirklich bedeutenden Köpfe haben nie im Leben etwas gelesen, sie haben es immer nur wiedergelesen und dabei dann meist erstaunliche Dinge entdeckt, die man offenbar nie beim Lesen, immer aber beim Wiederlesen entdeckt. Böll verschont uns mit solchen Maskeraden. Und man muss seine frühen Briefe sehr intensiv gelesen haben, um zu verstehen, welche Lektüren der empfänglichen Jahre die tiefsten Langzeitwirkungen nach sich zogen, Leon Bloy etwa, aber wir schweifen ab. Arbeit ist wichtig. Es gibt Arbeitstagebücher, die dokumentieren, wie ein Buch entsteht und diese Entstehungsgeschichte ist dann ein neues Buch, von dem sich ebenfalls eine Entstehungsgeschichte zu Papier bringen ließe. Für ältere Schriftsteller mit hinreichendem Grundruhm bei gleichzeitig nachlassender Ideenmasse ist das Verfahren ein probates Mittel. Heinrich Böll also beginnt mit dem Wetter in Köln, genauer: „Wir erklären uns die zähe, graue Dunkelheit mit der Tatsache, dass Köln von Giftküchen eingekreist ist...“. Schon mit dem Stichwort Örtlichkeit geht er in den Dunstkreis Autobiographie über, Tagebuch überflüssig.

Wir erfahren, wo und wie Böll da in Müngersdorf wohnt, wie er von einem der Söhne erfährt, dass da die zweitgrößte Rotbuche Nordrhein-Westfalens steht, was manche Menschen bekanntlich stolz macht, obwohl sie natürlich mit Größe und Schönheit des Baumes nicht einmal dann etwas zu tun haben, wenn sie ihren Hund an ihm sein Bein heben lassen. Wo er steht, von da ungefähr hat Napoleon auf Köln geblickt. „Trotz aller seit Kriegsende Zugezogenen, trotz der Neubauten, sind es die alten Dorfbewohner, die dem Dorf Stil verleihen … Manche sehen aus wie Leibl-Modelle.“ Böll meint Wilhelm Maria Hubertus Leibl (23. Oktober 1844 – 4. Dezember 1900), dessen Großvater mütterlicherseits Dr. Jakob Lemper Professor am Kölner Gymnasium Montanum war. Leibs Name steht für Realismus, der 1965 eher nicht besonders im Kurs stand. „In meiner Kindheit war Müngersdorf noch sonntäglich-bürgerliches Ausflugsziel … mit Bauernstuten, Butter und Marmelade in einem der großen Gartenrestaurants an der Aachener Straße“. Bauernstuten sind, ich muss es nachschlagen, Weizenmischbrote mit zirka achtzig Prozent Weizenmehl. Böll lesen bildet. Die Crux des Wohnortes Müngersdorf aber ist der Fußball: „Es ist nicht nur nicht leicht, sondern fast unmöglich, an Heimspieltagen des 1. FC nach Hause oder von zu Hause wegzukommen.“

Dann aber, Böll hat eben den Aufbruch der Zuschauermassen nach beendetem Spiel zur Sprache gebracht, formuliert er einen Satz, der ein überraschend scharf ausleuchtendes Licht auf ein wohl urdeutsches Phänomen wirft: „Wenn kein Feldwebel anwesend ist, der Disziplin zum Gegenstand des Gehorsams machen kann, erweist sich die Disziplin-, Halt- und Rücksichtslosigkeit der Gehorsamen.“ Überregulierte Gesellschaften, könnte man es anders sagen, produzieren die Massenphänomene Parksünder und Rasenlatscher. Dass Müngersdorf auch eine Gemeinde frommer Ukrainer hatte (vielleicht noch hat), fällt in die Rubrik Lernen mit Böll. Der den Hessischen Rundfunk gleich auch in eigener Sache benutzt. Unter dem Stichwort Post erregt er sich, noch eben so gebändigt, über einen Buchhändler, der sich bei ihm über zu hohe Buchpreise beklagte. Böll macht öffentlich, woran sich bis heute nichts geändert hat: Mindestens neunzig Prozent jedes wie hoch oder niedrig auch immer angesetzten Buchpreises fließen nicht in die Taschen des Autors. Von einer 50.000er Taschenbuch-Ausgabe erreichen, weil dort die Autorensätze noch niedriger liegen, den Autor laut Böll 1200 bis 1500 Mark, „also ungefähr das Monatseinkommen eines Volksschullehrers“. Aber 50.000er Taschenbuch-Auflagen sind und waren schon damals eher selten.

Auch das vierte Stichwort, Lektüre, nutzt Böll in eigener Sache und tagebuchfern: Er setzt sich mit einer Publikation der „Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln“ auseinander, die einen Vortrag von Dr. Hans Buchheim abdruckte, der Rolf Hochhuth, Carl Amery und Böll vorwarf, von Politik nichts zu verstehen. Buchheim (11. Januar 1922 – 14. November 2016), der den nur vier Jahre älteren Böll um mehr als dreißig Jahre überlebte, seinen eigenen Sohn Christoph immerhin auch noch um sieben Jahre, war in der fraglichen Zeit wissenschaftlich im Bundeskanzleramt von Konrad Adenauer tätig. Das Verhältnis von Heinrich Böll und Konrad Adenauer war und ist ein eigenes Thema, das hier nicht einmal näher berührt werden kann. Böll nennt voller Wut die Ausgangsposition der Kirchenzeitung politische Pornographie und hat umgehend eine eigene Definition von Politik zur Hand: „Politik ist weder eine Wissenschaft noch eine Kunst, sie ist nicht einmal ein Handwerk, sie ist ein von Tag zu Tag sich neu orientierender Pragmatismus, der bemüht sein muss, die Macht und deren Möglichkeiten übereinander zu bringen.“ Ich kenne schlechtere Wesensbestimmungen von Politik. Böll treibt seine Argumentation provokatorisch so weit, dass nach ihm nur Hitler etwas von Politik verstand, Karl Marx aber nie. Das soll als Aufruf zum Widerspruch gelesen werden.

Böll weist den Anschauungen Buchheims einen Platz noch unter der kommunistischen Geschichtsschreibung an: „Säuberungen, Revisionen, dauernd geänderte Geschichtsbücher beweisen immerhin, dass der offen zum Materialismus sich bekennende Teil der Welt noch in der Lage ist, sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen, indem er sie zu korrigieren, ja zu fälschen versucht.“ Buchheim aber ist nur das vorgeschobene Ziel der Böllschen Aggression: „ Das Elend des organisierten, von Funktionären bestimmten deutschen Katholizismus ist am besten abzulesen an der oberflächlichen Gekränktheit, mit der er sich artikuliert.“ Bölls eigene Argumentation zeigt mindestens auch Gekränktheit, für die er jedoch im Sinne seiner persönlichen Attacke den Begriff oberflächlich ablehnen müsste, um sich nicht selbst dem katholischen Elend zuzuordnen und damit ad absurdum zu führen. Das fünfte Stichwort, Arbeit, soll den Hörern des Hessischen Rundfunks vorführen, wie schwer es ein Autor wie Heinrich Böll hat, einem scheinbar einfachen Auftrag zu folgen, nämlich mitzuteilen, wie er das Jahr 1945 erlebt hat. In „Heimat und keine“ heißt das fünfte, das ungekürzte Stichwort, übrigens nicht Arbeit sondern „1945“. Mit Tagebuch und modernem Schriftsteller hat das noch weniger als alles andere zu tun. Es ist Erinnerungsarbeit, mehr kaum.

Böll zitiert sich nach Schilderung der Schwierigkeiten, einen Zugang, einen Anfang, zu finden, schließlich über fast zwei Druckseiten selbst. Man merkt, er ist wieder bei jedem Detail. Und der Herausgeber Uwe Schultz lässt den Text mit einem Satz enden, der wie der verdrehte Probelauf des berühmten (ausschließlich in der alten Bundesrepublik) Diktums von Richard von Weizsäcker gelesen werden kann, der 8. Mai sei ein Tag der Befreiung gewesen: „Entlassen aber wurde ich am 15. September 1945 aus deutscher Gefangenschaft.“ Nun gehe in dich, suggeriert das dem Leser.
Der Hörer des Hessischen Rundfunks aber wurde gerade nicht mit diesem Satz entlassen, es ging mit sehr profanen Details weiter. Böll schildert, wie er bekleidet war: „Ein Flanellhemd englischer Herkunft von einem barmherzigen amerikanischen Neger, der sich meiner Blöße erbarmte, mir geschenkt.“ Hemd, Hose, Schuhe, eine Blechbüchse, die irreführende Berufsbezeichnung Student, die aber hilfreich gewesen sein soll: „Beruf und Tätigkeit standen für mich schon seit dem siebzehnten Lebensjahr fest: Schriftsteller.“ Seine spätere Frau Annemarie musste ausbaden, wenn er in Briefen an sie den frühen Berufswunsch in Stilwillen münzte: das krampfhafte Bemühen, „hochliterarische“ Sätze zu formulieren, liest sich neben Normal-Briefen einfach nur grauenhaft.

Böll zieht aus alten Notizbüchern, offenbar ausdrücklich nicht Tagebücher genannt, Preise für Lebensmittel und andere Waren. Wichtig für den zwanghaften Raucher dabei: fünf Mark für eine Schachtel Streichhölzer, 32 Mark für vier Zigaretten, zwei Pfund Mehl und ein halbes Pfund Butter das Monatsgehalt einer Lehrerin. Böll bekennt sich als Stromdieb, der ertappt wurde, er ist mitten in seinen frühen Erzählungen. Dann aber, und hier genau stellt sich erstmals die Frage, ob diese Seiten zufällig gestrichen wurden: „Das erste deutsche Wirtschaftswunder fand lange vor dem amtlich festgesetzten Datum statt. Ist Wirtschaftswunder nur Wirtschaftstrick, Wirtschaftszauber nur Wirtschaftsschwindel?“ Was sich heute vollkommen harmlos anhört, war in Zeiten eines Adenauer ablösenden Ludwig Erhard womöglich nahe der Gotteslästerung. „Es gab damals mehr ehrliche Schwarzhändler als ehrliche Händler. Inzwischen gibt es nur noch einen Wirtschaftsminister, den die Preise nichts angehen.“ Mit Blicken auf sein Köln schließt Böll und hat vermutlich an dieser Stelle das Thema der Reihe längst vollkommen vergessen: „Als wir Köln wiedersahen, weinten wir.“ Und: „Das zerstörte Köln hatte, was das unzerstörte nie gehabt hatte: Größe und Ernst.“ Dass „Heinrich Böll und Köln“ ein großes eigenes Thema sind, bedarf keiner Erläuterung.


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