Klaus Schlesinger 80

Zum Glück hat Klaus Schlesinger (9. Januar 1937 – 11. Mai 2001) auch Interviews gegeben und Bücher geschrieben. Wenn er nur ein Teilnehmer an insularen Gesprächen gewesen wäre, die dem langjährigen ZEIT-Feuilleton-Chef Ulrich Greiner 1994 den Eindruck vermittelten, dass „ nationalkonservative und exkommunistische Intellektuelle sich argumentativ umarmten in der Abwehr einer bloß formalen Demokratie, im Affekt gegen eine als bedrohlich empfundene Moderne“, dann lohnte es kaum, seiner zu gedenken. In einem späten Interview hat Schlesinger bekannt, dass er mit Verfechtern der Totalitarismustheorie nichts anfangen kann, die vereinfache ihm zu stark. „Und dann gibt es noch jene, die von Kommunisten zu Antikommunisten geworden sind. Mit denen kann ich überhaupt nichts anfangen, weil ich nie Kommunist war.“ Hier ist die Begründung interessant: weil er nie Kommunist war. Die Reihe der Namen wäre ellenlang, die hier in Frage kämen als Männer (und Frauen), mit denen Klaus Schlesinger demzufolge nichts anfangen kann, Namen, die in der Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und auch in der deutschen Literaturgeschichte dieser Zeit eine herausragende Rolle spielten. Nur wer Geschichte inklusive dieser ihrer Inhalte ausschließlich als Gesinnungsgeschichte sehen kann, begeistert sich oder ereifert sich, wenn einer da nicht wütend genug oder dort zu wütend oder nur indifferent war.

Schriftstellers Beruf ist das Schreiben. Fühlt er sich zum Kanzelprediger berufen oder zum Rädelsführer, ehrt ihn das in den Augen derer, die glauben wollen oder derer, die folgen wollen und stets einen Führer brauchen. Die unheilbaren Deppen und Deppinnen aber, die einen Schriftsteller lieben, weil er gute, oder, ich beuge mich ausnahmsweise ihren Bekennern, wichtige Bücher schreibt, die dann der Übereinkunft nach, die ich ausdrücklich nicht teile, auch schlecht sein dürfen, die wollen das Geschriebene. Im schon genannten Interview, 2001 in „die horen“ veröffentlicht, sagte Schlesinger auf die Frage hin, warum er in den neunziger Jahren vor allem essayistisch tätig gewesen sei, dass er Zeit brauche, Distanz: „Ich kenne nur einen, der das kann, der diese Distanz nicht braucht, um die richtige Form zu finden für das, was ihn bewegt: Das ist Stefan Heym.“ Man darf bezweifeln, ob das Finden der richtigen Form die Stärke des späten Stefan Heym gewesen ist, immerhin haben sehr verständige Kritiker seine Romane teilweise heftig verrissen, weil sie der Kolportage immer näher rückten. Klaus Schlesinger aber wollte hauptsächlich dies damit sagen: „Ich konnte auch über den Bau der Mauer, der ein fürchterliches, ein sehr schwer wiegendes Ereignis in meinem Leben war, nicht sofort schreiben. Das ging erst zehn Jahre später, als ich eine gewisse Distanz hatte und sich eine Gelegenheit dafür bot.“ Die Gelegenheit war eine Anthologie.

Geschrieben hat er über den Bau der Mauer in „Am Ende der Jugend“. Die Geschichte war vorgesehen für die „Berliner Geschichten“, jene Autoren-Anthologie, die mit vereinten Kräften zahlreicher Funktionäre, inoffizieller Stasi-Mitarbeiter und anderer schließlich verhindert wurde. In der später mit dazu gehörigen Dokumenten bei Suhrkamp veröffentlichten Ausgabe findet sich die Zeitangabe „Erste Fassung, 1973“. Die angefügten Dokumente zeigen, dass die Schnüffel-Zensoren an gerade dieser Geschichte eigentlich nichts zu bemäkeln fanden, da gab es andere, die für Aufregung sorgten. So darf es nicht wirklich verwundern, wenn die Geschichte dann schon wenig später die Geschichten-Sammlung „Berliner Traum“ (Hinstorff Rostock 1977) abschließt und das sogar mit dem deutlich gegen Ulbricht gerichteten Wutpassus eines Bauarbeiters: „Den Spitzbart meine ich, den Spitzbart!“, der durch den Mauerbau seinen Charlottenburger Arbeitgeber über Nacht verlor, nachdem er 23 lange Jahr als Polier dort arbeitete. DDR-Kenner wissen allerdings, dass unter Honecker eine Spitze gegen den entmachteten und zum Ende hin auch öffentlich lächerlich gemachten Ulbricht eine allenfalls lässliche Kleinsünde war. Der Titel „Am Ende der Jugend“ ergibt sich nicht zwanglos aus dem Text, dessen Hauptfigur am 13. August 1961 24 Jahre alt ist und von diesem Tag in Ich-Form erzählt. Gesetzlich endete DDR- Jugend mit 27 Jahren.

Mit solchen Äußerlichkeiten und der mit ihr verbundenen Willkür hat Schlesingers Geschichte selbstredend nichts im Sinn (Jugendfunktionär konnte man in der DDR noch sein, wenn die eigenen Kinder schon den Aufnahmeantrag für die FDJ stellen durften). Das Ende der Jugend hat mit jenem Erwachsenwerden zu tun, das gerade nicht an ein definiertes Alter gebunden ist, nicht umsonst sagt man umgangssprachlich über manchen Menschen (deutlich öfter über Männer als über Frauen interessanterweise): der wird nie erwachsen. Der Laborant Gottfried, der seine Erzählung mit der Schilderung eines natürlich auffällig symbolischen Traumes beginnt, altert an diesem 13. August 1961 weit über die Zeit hinaus, die dieser Tag chronometrisch bedeutet. Man muss kaum geheimnisvoll raunen, wenn man selbst in Details autobiographisches Erleben des Autors wähnt. Für Berliner kann der 13. August nichts anderes als ein einschneidendes Ereignis gewesen sein. Im Gespräch mit Detlev Lücke, am 15. November 1996 im FREITAG gedruckt, sagte Schlesinger: „Der 13. August war einer der schlimmsten Tage meines Lebens. Ich habe immer beiderseits der Grenze gelebt. Und das sollte nun vorbei sein? Unfassbar!“ Und er sagte auch, die Frage nach einer Liberalisierung in der DDR danach beantwortend: „Aber Tatsache ist, der Lebensstandard verbesserte sich nach dem Mauerbau. Und es gab tatsächlich bald ein offeneres Klima.“

Tatsächlich gab es in der DDR nach Ereignissen, die man Krisen nennen darf, Phänomene, die mit dem so genannten „Tauwetter“ in der Sowjetunion nach Stalin verglichen werden können, jede wie auch immer verursachte Liberalisierung wurde jedoch nach meist recht kurzer Zeit, und dann bisweilen fallbeilartig, beendet, das berüchtigte 11. Plenum des ZK der SED Ende 1965 ist das gravierendste Beispiel, elf Jahre später leitete die Biermann-Ausbürgerung dann schon die letale Phase der DDR ein und 1979, als Schlesinger zu den neun aus dem DDR-Schriftstellerverband Ausgeschlossenen gehörte, gab es wie unbeeindruckt von allem das Nationale Jugendfestival zum 30. Jahrestag, das ein Fortleben des Geistes der Weltfestspiele von 1973 simulierte, aber keine Euphorien mehr auslösen konnte. „Am Ende der Jugend“ sieht Laborant Gottfried seinen Freund Martin in einer aus Unachtsamkeit oder einfach nur in der Kürze der Zeit nicht restlos geschlossene Lücke zwischen den Stacheldraht abrollenden Kampfgruppen-Mitgliedern und den Uniformierten der Westberliner Polizei hindurch verschwinden. Man kann das Geschehen auf das Gelände der Berliner Charité eingrenzen, das unmittelbar an die Demarkationslinie reichte, die nun zur gemauerten Grenze wurde. Eine Tür, die immer geschlossen war, erweist sich beim Druck auf die Klinke als offen. Und der Erzähler fragt sich, ob er sie gedrückt hätte, hätte er die Folgen geahnt.

Liest man die Geschichte aus der Perspektive der Druckgenehmiger, dann muss man nüchtern sagen: die Geschichte einer Republikflucht ist die Geschichte einer erschrockenen Distanzierung von einem Republikflüchtigen. Der Erzähler sieht seinen Freund Martin in einem Pulk von Journalisten und Fotografen verschwinden und tastet sich selbst wie in Zeitlupe zurück zu jener Tür, hinter der die Hauptstadt der DDR beginnt, die sowjetische Zone, sein Arbeitsplatz, wo seine Kollegen stehen. Schlesinger-Kenner haben angemerkt, dass eine solche Szenerie des Verlusts eines Freundes bei ihm immer wieder auftaucht. Jochen Schmidt hat es im Umfeld des zehnten Todestages von Schlesinger so kommentiert: „Gute Autoren können dasselbe immer wieder beschreiben, immer genauer ...“. Wobei nicht verschwiegen werden darf, dass wiederholtes Beschreiben als solches kein eigenes Gütesiegel darstellt. Jochen Schmidt unterstellt natürlich, dass Klaus Schlesinger zu den gemeinten guten Autoren gehört. Freund Martin sagt, als ihn Rosenberg aushorchen will, wortkarg: „Ich glaube, sagte er zwischen zwei Zügen, es gibt Alternativen, vor die ein Mensch nicht gestellt werden sollte.“ Rosenberg ist der, der dem Erzähler am Morgen die Nachricht vom Mauerbau bringt. Den verlangt es, bevor er zum Institut kommt, seinen Freund Martin zu sehen, der zunächst einfach nicht aufzufinden, dann aber plötzlich da ist.

Es gibt in der Geschichte auch einen Schauspieler Schwager, von dem es dann heißt: „Ein halbes Jahr später spielte Schwager einen Kampfgruppenmann, der seine Freundin hindert, über die Grenze zu gehen.“ Dieser Satz scheint einen sehr realen Hintergrund zu haben. Denn in der DDR wurden nach der Errichtung des Bauwerkes mit der verordneten Bezeichnung „Antifaschistischer Schutzwall“ tatsächlich Spielfilme gedreht, die das Geschehen in das gewünschte Licht rücken sollten. Einer hieß „... und deine Liebe auch“ (Regie Frank Vogel), einer hieß „Sonntagsfahrer“ (Regie Gerhard Klein) und einer, allein wegen seines Hauptdarstellers, der auch Ko-Autor des Drehbuchs war, sicher der mit Abstand berühmteste, hieß „Der Kinnhaken“ (Regie Heinz Thiel). Manfred Krug spielte darin den Betriebskampfgruppen-Mann Georg Nikolaus, der mit dem titelgebenden Kinnhaken den Bubi (Jürgen Frohriep) zu Boden haut. Krug schrieb das Drehbuch gemeinsam mit Horst Bastian (15. Dezember 1939 – 14. April 1986), dessen Buch „Die Moral der Banditen“ zu meinen frühen Lieblingsbüchern gehörte und der zugleich von 1958 bis zu seinem frühen Tod 1986 als IM „Hartmut Möwe“ dem Ministerium für Staatssicherheit diente. „Ich weiß nicht, ob ich die Stadt jemals wieder so gesehen habe wie an diesem Tag.“ Sagt Schlesingers Erzähler. Man ahnt, was er meint, glücklich gesagt ist es dennoch nicht.

Als die Kollegen im Institut beisammen sind, referiert Rosenberg: „Ich glaube, dieser Tag ist der wichtigste, seit dieser Staat gegründet wurde, ja, vielleicht ist er sogar die wirkliche Geburtsstunde des deutschen sozialistischen Staates.“ Damit ist er die Stimme von Partei und Regierung und fast kläglich klingt dann der Laborant Messemer, der auch Gedichte schreibt: „Ich meine nur, hinter jedem Menschen der weggeht oder sogar aus dem Fenster springt, da steckt doch ein Schicksal...“. Schlesinger, der eigenem Bekennen nach nie Gedichte schrieb, hat diesen Laboranten zu dessen Nachteil ein wenig komisch-klischeehaft angelegt. Im Aufbau-Taschenbuch „Die Seele der Männer. Die Erzählungen“ (2004) fehlt jener längere Schlussabsatz von „Das Ende der Jugend“ ebenfalls, auf den schon der 77er Hinstorff-Druck verzichtete. Nur in „Berliner Geschichten“ geht Gottfried, nachdem er sich zurückgetastet hat hinter die Tür, umgehend nach Hause zu Marie, die hochschwanger ist und schläft. Es kommt ihm die Traumsituation des Anfangs wieder, darin jetzt Martin, der ihm Sorgen ausreden will, während der Erzähler nun von einer Wahrheit spricht: „... das Wort kam, von den Wänden hundertfach gebrochen, auf mich zurück, so dass ich mir vor Schmerz die Ohren zuhalten musste“. Und sich fühlt, „... als wäre etwas sehr Festes, Dauerhaftes in mir zerrissen.“ 1999 war Schlesinger sicher: „... die Anthologie, die war gar nicht so wichtig.“

Damit ist auch der Unterschied der Fassungen deutlich relativiert und fast interessanter, was Klaus Schlesinger von seiner eigenen Tätigkeit im Institut für Virologie ausplaudert, fröhlich, und wohl auch, um seine Gesprächspartner 1999 in Halle ein wenig zu irritieren: „Das waren die wunderschönen Produktionsbedingungen im Sozialismus: Ich hatte meine Arbeit in drei, vier Stunden gemacht, dann ging ich Tee trinken und diskutieren.“ Mit anderen Worten, die niedrige Arbeitsproduktivität in den Betrieben machte (für viele, nicht für alle ganz sicher) das Arbeitsleben wunderschön, wen kümmerte, was Lenin über den Wettstreit der Systeme, der eben gerade über die Arbeitsproduktivität entschieden werde, gesagt hatte. Tee trinkend der historischen Niederlage entgegen, manche trauern der herrlichen Talfahrt noch heute gerührt nach bei jeder Nachricht, die an sie erinnert. Klaus Schlesinger hat ausdauernd darauf bestanden, der solidarischen Gesellschaft DDR näher gewesen zu sein als der Gesellschaft der Konkurrenz im Westen. Er hat auch seinen Umzug aus Westberlin zurück nach Ostberlin damit begründet und auf das Publikum verwiesen: „... man fühlt sich sicherer, wenn es ein Publikum gibt, von dem Sie wissen, es interessiert sich für Sie.“ Genau das aber tat das Publikum im Osten nach 1990 eben nicht mehr. Er selbst hat es unter der Überschrift „Verlorene Einzelexemplare“ schon am 6. Dezember 1991 im FREITAG beklagt.


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