Stefan Andres: El Greco malt den Großinquisitor

Als Volker Weidermann vor ein paar Jahren seine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute veröffentlichte unter dem Titel „Lichtjahre“, gab es manche öffentliche Beschwerde über die Behandlung dieses oder jenes Namens, einige erhoben der Einfachheit halber gleich in eigener Sache ihre Stimme, einer aber konnte sich nicht mehr beklagen, weil er tot war: Stefan Andres. Geboren am 26. Juni 1906 in Breitwies bei Trier, gestorben am 29. Juni 1970 in Rom, sein Grab ist auf dem Campo Santo Teutonico der Vatikanstadt zu finden, falls man dort zum Suchen vorgelassen wird. Nicht einmal fällt in Weidermanns Buch der Name Andres und man könnte jede wie auch immer geartete Beschäftigung mit ihm mit einer Listung der Fehlanzeigen beginnen. Er fehlt bei den Großkritikern. Man suche bei Fritz J. Raddatz, bei Reinhard Baumgart, bei Walter Jens, bei Gottfried Just, bei Eckhard Henscheid, um nur einige zu nennen. Von den verehrten Kollegen fühlte sich niemand aufgerufen, ihm Gutes oder wenigstens irgendetwas nachzureden. Böll ist die namhafteste Ausnahme, doch in seiner Doppelbesprechung von Andres und Siegfried Sommer (wer war das denn??) geht er eilig zu Sommer über. Ansonsten verzeichnen die Listen der Sekundärliteratur einmal Luise Rinser, zwei- oder dreimal Karl Krolow, und dann war es das schon.

Fast jedenfalls. Christoph Hein fühlte sich zu freundlichen Sätzen angeregt, als ihm der Stefan-Andres-Preis verliehen wurde, ausgeprägte Detailkenntnis des Werkes und seiner verkannten Schönheiten offenbarte er nicht. Der Kritiker Jürgen P. Wallmann hat in einer Äußerung zu einem Buch von Paul Konrad Kurz eher nebenbei das Betriebsgeheimnis der westdeutschen Ignoranz gegenüber Stefan Andres offengelegt. „Wer hört, dass ein katholischer Theologe mit kirchlicher Druckerlaubnis ein Buch mit dem lapidaren Titel „Über moderne Literatur“ vorlegt, meint von vornherein zu wissen, womit er zu rechnen hat: mit dem Lob der „heilen Welt“, der Klage über den „Verlust der Mitte“, mit der Empfehlung von Stefan Andres, Reinhold Schneider, Gertrud von le Fort und ähnlichen Autoren. Doch der Leser des neuen Buches von Paul Konrad Kurz wird sich in dieser bangen Erwartung aufs angenehmste enttäuscht sehen.“ Bange Erwartung also war es, die eine bestimmte tonangebende literarische Öffentlichkeit mit dem Namen Stefan Andres verband. War der katholische Autor, gemeinhin der so genannten inneren Emigration zugeordnet, obwohl er gar nicht so sehr innerhalb lebte, im Westen so etwas wie Otto Gotsche im Osten, einer, für den die Partei immer recht hatte, diesenfalls der Pontifex im Rom, in dessen Nähe Andres seine zehn letzten Lebensjahre verbrachte, weil ihm seine rheinisch-katholische Heimat dann doch stärker missfiel?

Eine irgendwie ins Unbescheidene tendierende Betrachtung ist hier nicht beabsichtigt. Als Leser aus der einstigen DDR, der sich anmaßt, etwas mehr von und über Literatur zu wissen als ein Rangierer auf einem stillgelegten Güterbahnhof an der Mosel, hatte ich in der Tat auch etwas wie eine bange Erwartung. Sie bezog sich auf Bücher aus dem Benno-Verlag Leipzig, von denen ich hie und da eins erwarb in der Buchhandlung „Sonne“ am Hackeschen Markt in Berlin. „Die unglaubwürdige Reise“ hieß eins, hatte ein Vorwort von Elisabeth Antkowiak, eine ungemein dürftige Einleitung, sage ich heute unumwunden, verglichen beispielsweise mit dem Nachwort von Karl-Heinz Berger zur Andres-Sammlung „El Greco malt den Großinquisitor und andere Erzählungen“ des Berliner Union-Verlages. Bei Berger gibt es Kritik, nicht blinde Verehrung oder neutrale Paraphrasen des Erzählten, er kommt sogar auf wichtige Kernpunkte, die viele westdeutsche Texte zu Andres, soweit ich solche kenne, dezent ausklammern. Generell scheint mir, dass unsere Brüder und Schwestern auf der anderen Seite viel tiefer an der Nachkriegs-Geringschätzung der Literatur der Emigranten fortleiden, als sie sich selbst zugestehen würden. Es kommt am deutlichsten zum Ausdruck in filigranen Widerstandsdefinitionen für jene, die blieben und von innerer Emigration philosophieren. Vielleicht sind DDR-sozialisierte Leser nachträglich besonders sensibel für Nano-Widerstände.

Damit sind wir bei „El Greco malt den Großinquisitor“. Ich besitze die Erzählung, die bisweilen auch Novelle genannt wird, in vier DDR-Büchern, zwei sind genannt, die beiden anderen sind Anthologien. Also, so könnte man meinen, auch die totalitäre DDR hatte kein Problem mit dem angeblich so anti-totalitären Widerstandswerk von Stefan Andres. Sie ignorierte zwar aus sehr verständlichen Gründen die zweite immer wieder und überall genannte Novelle „Wir sind Utopia“ aus dem Jahr 1942, weil dort, man muss kein Geheimnisträger gewesen sein, um das zu ahnen, ein Priester, der für Franco kämpfte, zum Helden gemacht ist, was in der DDR, wo selbst Autoren, die nie in Spanien kämpften wie Stephan Hermlin, sich gern als Spanien-Kämpfer gesehen hätten, gar nicht ging. Bis zum Ende der DDR lebten in ihr Flüchtlinge aus Spanien. Franco war Faschismus. Man kann aber, kleine kurze Abschweifung, bei einem vermeintlich unverdächtigen Autor wie dem schreibenden Bergarbeiter Hans Marchwitza in dessen Buch „In Frankreich“ nachlesen, wie stark eine bestimmte Franco-Propaganda ins Nachbarland gewirkt hat nach 1936: die in Moulins anzusiedelnden ehemaligen Interbrigadisten werden von französischen Nonnen nach den ermordeten Priestern in Spanien gefragt. Marchwitza und sein Held schweigen sich dazu aus.

„El Greco malt den Großinquisitor“ folgt einem Zug der Zeit, wie ihm zahlreiche Autoren der 20er und 30er Jahre folgten: der Erzähler greift in die Geschichte, um an Beispielen aus ihrem unendlichen Reservoir gegenwärtige Dinge zu verhandeln. Man braucht nur Namen wie Heinrich Mann, Feuchtwanger, Stefan Zweig aufzuzählen, Otto Flake, Alfred Döblin, die Reihe ist beinahe zufällig, um zu sehen, dass Stefan Andres beim Wählen seines Stoffes eher weniger originell war. Der Maler El Greco (1541 – 1614) hieß eigentlich Domenikos Theotokopoulos. Er hatte einst als Ikonenmaler begonnen, war über die Stationen Venedig und Rom schließlich nach Spanien gelangt und wird heute als Hauptvertreter des spanischen Manierismus genannt. Das Bild des Kardinals Nino de Guevara hat er tatsächlich gemalt, wenn auch nicht 1598, wie Stefan Andres in seiner Erzählung nahelegt mit dem Datum des Todes von König Philipp II., sondern erst 1600. Das aber ist die lässlichste aller Sünden der Literatur, mit historischen Fakten bedarfsgemäß umzugehen. Von dieser Zeit haben in Deutschland mehr Leute eine Vorstellung als von beliebigen anderen Zeiten der Geschichte Spaniens und zwar aus einem sehr einfachen Grund: Sie kennen „Don Carlos“ von Schiller. Don Carlos wird von Stefan Andres auch ausdrücklich erwähnt: der historische Infant.

Es war also, auch hier muss niemand eigens einen Geschichtskurs an der Volkshochschule belegen, die Hoch-Zeit der Inquisition, die, tatsächlich oder nur bei Schiller, so mächtig war, dass am Ende sogar der König vor ihr kuschte. Einer der exponiertesten Vertreter der kirchlichen Macht, ein Kardinal, der zugleich Großinquisitor war, genannter Fernando Nino des Guevara (1541 – 1609), dem Maler gleichaltrig also, wollte sich von El Greco, dem Griechen, wie er eben in Spanien genannt wurde, weil er von Kreta stammte, porträtieren lassen. Das war weder ein besonders überraschender, noch ein besonders bedrohlicher, es war schlicht und ergreifend ein ziemlich normaler Vorgang. Porträtmalerei war (und ist) ein tragender Teil der Malerei überhaupt, bis zur Erfindung der Fotografie und zur Entwicklung des Films hatte sie vor allem eine sehr simple Aufgabe zu leisten: Ähnlichkeit mit dem lebenden Vorbild zu erzeugen. Ganze Scharen von Malern, deren Namen außerhalb der spezialisierten Kunstgeschichte längst vergessen sind, leben fort in endlosen und mehrheitlich unfassbar langweiligen Porträtgalerien in Schlössern, Burgen, Museen. Ihr Nutzen: Man weiß durch sie ungefähr, wie eine bestimmte historische Person aussah. Eine dem äußerlichen Porträt aufgebürdete zusätzliche Funktion wie Charakterzeichnung wäre der Sonderfall.

Sonderfall aber nur insofern, als man natürlich jedem beliebigen Porträt, auch einem Foto, gewisse Züge eines Menschen ablesen kann, falls man sie vorher oder nebenher kennt und erfährt. Ein Mann kann auf einem Foto in einer bestimmten Situation aussehen wie Joshi, der Mörder und dennoch ein sehr liebevoller Kindergärtner sein. Denn dummerweise sehen Mörder selten aus wie Mörder, man brauchte keine Kriminalpolizei andernfalls. Wenn also ein Maler auf Enthüllungspfaden unterwegs sein sollte, dann ist er mit einem reinen Porträt auf der unglücklichsten Bahn unterwegs, er müsste seinen Mann, seine Frau, seinen Diversen mindestens in einen Zusammenhang stellen auf seinem Bild, idealerweise bei einer Handlung zeigen, die ihn dann wirklich charakterisieren könnte in seinem Wesen. Schon Reden vom „inneren“ Wesen wären albern, Wesen ist immer innerlich, sonst wäre es nicht Wesen, sondern Erscheinung, Grundkurs Hegel im Jahr 250 nach seiner Geburt. Sollte es in der wirklichen Geschichte anders zugegangen sein als bei Stefan Andres, dann wäre das, ausdrücklich und nachdrücklich betont, kein Argument gegen ihn. Er erzählt eine Geschichte, in der der Maler von der Aufforderung, sich nach Sevilla zum Großinquisitor zu begeben, erschreckt wird. Er verschweigt aber fast vollständig, warum die Aufforderung den Maler in Schrecken versetzt.

Wir wären schon hier an der Stelle, da anzumerken ist, woran Interpretationen dieser Geschichte leiden, noch ehe sie irgendeine These aufgestellt, widerlegt oder untermauert haben: Sie stellen sich keine einfachen Fragen. Was wäre, so lautet eine solche sehr einfache Frage, an einem Mann zu enthüllen, von dem alle, aber auch wirklich alle, in seinem Lande wissen, welches Amt er bekleidet und was es bedeutet, wie er es bekleidet. In Zeiten, da fast täglich Scheiterhaufen brannten, da Folter im Namen der Kirche und ihrer ewigen Wahrheit Alltag waren, überrascht doch niemanden, dass der Großinquisitor einer sein muss, der das System nicht nur mitträgt, sondern es entscheidend gestaltet und prägt. Der Maler also, der zu ihm kommt und meint, er müsse mehr als Ähnlichkeit auf die Leinwand bringen, und zwar möglichst große Ähnlichkeit, ist der vielleicht nicht schon von Beginn an auf der falschen Fährte? Andres-Interpretationen leben von Behauptung, er habe das Verhältnis von Macht und Kunst zeigen wollen, er habe den Diktatoren aller Zeiten und Farben den Spiegel vors Gesicht halten wollen und dergleichen mehr. Einfach und provokant gefragt, wie es meines Wissens bisher niemand tat: Warum, um alles in der Welt, flieht einer aus dem Faschismus Hitlers in den Faschismus Mussolinis, um dann auch gleich noch auf Diktator Stalin zu zeigen?

Niemand kann und soll Stefan Andres daraus einen Vorwurf machen, dass er nach Positano in Italien ging, als ihm, vor allem wegen seiner Frau, die den Nürnberger Rassegesetzen zufolge als „Halbjüdin“ galt, die Heimat nicht mehr zusagte. Er ging in ein katholisches Land, er lebte die letzten zehn Jahre seines Lebens in Rom, das ist nur bedingt mit dem Begriff Exil abzubilden, auch der Begriff Emigration ist nicht ohne Grund in Anführungszeichen gesetzt oder mit Fragezeichen versehen worden, wenn es um Andres ging. Niemand kann allerdings auch leugnen, dass er fast bis zum Ende der Hitlerzeit in Deutschland publizieren durfte, auch als er nicht mehr Mitglied der Reichsschrifttumskammer war. „El Greco malt den Großinquisitor“ erschien in Deutschland noch 1944 als „Feldpostausgabe“ in 36. Auflage. Als besonders systemfeindlich, gar hitlerkritisch ist die Erzählung also auf keinen Fall rezipiert worden, weshalb auch gelegentlich gefragt wurde, ob die faschistische Zensur in Deutschland eventuell eine besonders blinde war. Im Lexikon „Literatur in Nazi-Deutschland“ von Hans Sarkowicz und Alf Mentzer ist zu lesen, dass sich Texte von Andres sogar im „Völkischen Beobachter“ fanden bis 1943. So ergibt sich für einen der immer zitierten Sätze aus der Erzählung unfreiwillig eine womöglich mehr als nur pikante Nebenbedeutung.

„Wisst, es ist umsonst, die Inquisitoren zu töten. Was wir können, ist – das Antlitz dieser Ächter Christi festzuhalten!“ lässt Andres seinen El Greco sagen und es ist gedeutet worden als Ausdruck den unbedingten Festhaltens des Dichters am Gebot „Du sollst nicht töten!“ 1944 aber, der Satz stand natürlich auch in der Feldpostausgabe, wollten hohe Offiziere den höchsten der „Inquisitoren“ Deutschlands töten. Und schon vor Beginn des Krieges 1939 hatten andere, einzelne immer nur, versucht, ihn per Attentat zu beseitigen. Für sie alle musste die Botschaft des Dichters Andres wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Auch sonst finden sich seltsame Passagen in dieser Erzählung, die von Interpreten zusätzlich seltsam gedeutet wurden. Man stelle sich, angeblich zielt Andres ja auf Hitler-Deutschland und alle anderen Diktatoren gleich mit, nur einmal kurz vor, ein Maler hätte den Auftrag, Reinhard Heydrich zu porträtieren, der ein netter Familienvater, ein Musik-Liebhaber war und selbst Klavier spielte. Dürfte ein Schriftsteller eine Geschichte schreiben, in der ein Maler diesem Massenmörder und Holocaust-Organisator menschlich immer näher käme und am Ende zum Schluss, das sei ein „heiligen Henker“? Man braucht die Frage nur stellen, um zu sehen, in welche Abgründe „El Greco malt den Großinquisitor“ führt, wenn man nüchtern und einfach den Text nimmt, wie er gedruckt ist. Natürlich dürfte ein Dichter. Aber wir Leser dürften dann auch.

Verstörend, um einmal wieder diese Lieblingsvokabel aller Großsensibelchen des Feuilletons zu nutzen, ist für mich, und das nicht nur, weil ich selbst Brillenträger bin, die Tatsache, dass sowohl der Maler El Greco als auch der Dichter Stefan Andres mit unreflektierter Selbstverständlichkeit annehmen, eine Brille entstelle einen Menschen. Sicher könnten Kunsthistoriker wie aus einer Pistole geschossen sagen, wie selten oder wie häufig solche Porträts aus jener Zeit Menschen mit Brille zeigen. El Grecos Kardinal Nino hat jedenfalls eine auf der Nase und sein Gewand hat der Maler, auch hier sind sich alle mir bekannten Interpreten überaus einig, in einem souveränen Akt der Autonomie-Erklärung von Kunst, willkürlich umgefärbt: aus dem Violett wurde ein Rot. Wenn das schon eine künstlerische Heldentat war! Der Maler tritt bei Stefan Andres nicht ans Fenster, als draußen die Prozession der Inquisition mit den nächsten Opfern vorbeizieht, er reflektiert: „Die Neugierde der Menge schafft dem Henker selbst noch Gefolgschaft, er wird nicht ans Fenster treten.“ Das sind genau die stillen Widerstandsgesten, die ausschließlich der Selbstberuhigung dienen, die niemand bemerkt, deren Bedeutung sich niemandem erschließt; heute wird das „ein Zeichen setzen“ genannt. Es ist wenig, und auch dies Wenige wäre niemandem zum Vorwurf zu machen, denn es gibt im wirklichen Leben keine Pflicht zu irgendeinem Widerstand: gegen nichts.

Eine Stelle gibt es ziemlich am Anfang der Erzählung, da reflektiert der Maler, warum er nicht weggeht aus diesem Land, das ihn ängstigt, womöglich sogar sein Leben bedroht: „In dieser Stunde verwünschte el Greco seine Ruhmsucht, die ihn aus der freien Luft Venedigs in den Bannkreis des Eskorials getrieben hatte“ Das ist sehr ehrlich sich selbst gegenüber, denn die ersten großen Arbeiten sollten ihm eben den König Philipp II. gewogen machen, der kaum weniger ein Porträt in der Art dessen verdient hätte, wie El Greco es dann (bei Stefan Andres) von Nino de Guevara malt. Ob mit dieser Erwägung tatsächlich eine der Antworten zu gewinnen ist auf die Frage, warum Stefan Andres im Bannkreis des Faschismus verblieb und kein wirkliches Exil wählte, will ich nicht bewerten, ich lasse die Frage stehen. „Das Licht ist das Gewand der Dinge, es kann verhüllen und Entblößen. Ein Gesicht hat tausend Gesichter, jedoch nur eines ist gültig.“ Das glaubt nach dem Willen von Stefan Andres der Maler El Greco und es ist falsch. Warum es falsch ist, kann man ebenfalls bei Hegel nachlesen. Der Aussagen zum Wesen von etwas mit den Zusammenhängen in Zusammenhang bringt, in denen das Etwas steht oder in die es immer wieder und immer neu gerät. Ein ein für allemal gültiges Gesicht wäre schön und bequem, ersparte hinfort alles Erkennen.

Der Arzt Cazalla ist eine zweite Hauptperson sehr überschaubaren Personnage, die Andres aufbietet. Ihn lässt er sagen zu seinem Freund, dem Maler: „So hab ich recht mit meinen Gedanken: Ihr malt die Furcht, um Euch nicht fürchten zu brauchen.“ El Greco hält dagegen: „Die Furcht zerschneidet die Welt, die Furcht dringt bis ins Kerngehäuse vor. … Ich sage Euch, Cazalla, die Furcht gibt die Sicherheit und die Freude, die Furcht sondert die Welt, ja, wahrhaftig, sie ist der Anfang der Weisheit.“ Und ergänzt wenig später: „Ich male also nicht die Furcht, sondern vielmehr meine Furcht malt.“ Damit könnte man ganz einfach und ein wenig flach alle Deutungen zurückweisen, die hier mehr sehen wollen: große überzeitliche Kritikpotentiale gar. Man könnte gerichtserfahren sogar behaupten; wenn Furcht malt, malt sie befangen, sie kann bestenfalls subjektive Wahrheiten ins Bild bringen, nie und nimmer aber DIE Wahrheit. Sehr nüchtern sah das Karl-Heinz Berger: „In der Konfrontation des Künstlers mit dem Repräsentanten der institutionalisierten Gewalt gelingt ihm eine beeindruckende Skizze vom eigenen Unbehagen und auch von der eigenen Angst im historischen Gewand.“ Den aber kennt nicht einmal die Bibliographie des „Kritischen Lexikons der deutschen Gegenwartsliteratur“. Das auch nach 1990 keine Rückstände aufzuarbeiten gewillt war.

Fritz Hofmann, DDR-Autor und DDR-Herausgeber, schrieb: „Der Künstler, der sich dem Repräsentanten der herrschenden Gewalt gegenübersieht und seinen Anordnungen folgen muss, besitzt immerhin die Möglichkeit, sich von dem äußeren Druck zu befreien durch sein Werk, das dem Geist vielleicht einen späten Triumph verschafft durch Entlarvung der Macht.“ Vielleicht ist hierbei das Hauptwort. Reinhold Grimm, kein DDR-Autor, fand in einer Arbeit über die „innere Emigration“, „dass zuletzt dem historischen Befund gegenüber geradezu eine Verschönung eintritt. Hier wurden, ob beabsichtigt oder nicht, Hoffnungen und Erwartungen geweckt, die in jeder Hinsicht fehl am Platze waren.“ Wilhelm Große, der oft zu Andres publizierte: „Der Künstler, der sich der Wahrhaftigkeit verpflichtet fühlt, übt Widerstand, indem er trotz seiner Furcht der Macht ins Angesicht blickt und dieses der Nachwelt unverstellt und ungeschönt übermittelt und das Leid objektiviert.“ Nach solchen Sätzen dürfte (im Westen vor allem) nie wieder irgendjemand irgendeinen DDR-Künstler wegen Widerstandsmangels verurteilen. Ins Angesicht blickten alle. Der einzige Großkritiker, der sich Stefan Andres nicht verweigerte, ihn dann aber auch nur durch den Kakao zog, war Marcel Reich-Ranicki, seine Kritik „Edle Menschen“ aus der ZEIT von 1966 findet sich bezeichnenderweise in seiner sehr hübschen, sehr lesenswerten Sammlung „Lauter Verrisse“.

„Indem El Greco die Schuld des Großinquisitors erkennt und ihn in seinem Porträt die Wahrheit erkennen lässt, erlöst er ihn nicht, aber weist ihm doch einen ersten Schritt zur Vergebung.“ Lesen wir bei Christoph F. Lorenz. Das mag sehr christlich sein, angesichts von bestimmten Dimensionen historischer Verbrechen und Verbrecher aber darf es als Fehlorientierung gelesen werden. Zum 100. Geburtstag von Stefan Andreas 2006 schrieb Roman Luckscheiter in der Neuen Zürcher Zeitung zum Thema der Farbgebung „blutrot“: „Eine größere Wirksamkeit als die zeichenhafte Verewigung einer unterdrückten Wahrheit wird dem Intellektuellen hier nicht zugeschrieben“. Hans Wagener (1940 – 2013) meinte: „Es ist offensichtlich, dass Stefan Andres damals noch an die Mission der Kunst in einer Diktatur und an die Möglichkeiten des inneren Widerstands glaubte.“ Bliebe am Ende, das ein willkürlich gesetztes ist, der Hinweis, dass Heinrich Böll nach übereinstimmender Aussage mehrerer Berufsleser in seinem Roman „Ansichten eines Clowns“ seinem katholischen Kollegen Stefan Andres ein ziemlich böses Porträt gesetzt haben soll: in der Figur des Schnitzler. Eifrige haben in diversen Parallelstellen der beiden einen der möglichen Gründe dafür gefunden. Gründe, Stefan Andres vornehm zu ignorieren, liefert das kaum, man nehme Leseproben bei ihm.


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