Arthur Eloessers Moliére

Das Leben Moliéres wäre vermutlich kein Thema für Arthur Eloesser gewesen. Dafür begann er seine akademische Laufbahn, die dann keine wurde, mit einer Dissertation „Die älteste deutsche Uebersetzung Moliérescher Lustspiele“. Der Separatdruck des ersten Teiles nennt auf dem Titelblatt den 12. August 1893 als Tag der öffentlichen Verteidigung, den kompletten Text inklusive Berichtigungen, sechs an der Zahl, veröffentlichten die „Berliner Beiträge zur germanischen und romanischen Philologie“ (C. Vogts Verlag) als Nummer 3 der Germanischen Abteilung. Dass man seine Vita im Anhang in lateinischer Sprache abzufassen hatte, mutet heute beinahe abenteuerlich an. Erwähnt ist dabei auch der Studienaufenthalt in Genf im Jahr 1889, der ganz sicher entscheidend beitrug zu jener Sprachkenntnis des Französischen, die als Basis gerade einer solchen Doktorarbeit unabdingbar erscheint. Dass sich in der ohnehin spärlichen Eloesser-Literatur nie jemand zur Qualität dieser Arbeit geäußert hat, ist wohl als verzeihliches Eingeständnis eigener sprachlicher Inkompetenz zu deuten. Folglich ist auch offen, ob jemals jemand auf die Vorleistung Eloessers für eine eigene Arbeit im thematischen Umkreis zurückgriff, und wenn, in welchem Sinn.

Der junge Doktorand Eloesser jedenfalls, der am Tag der öffentlichen Verteidigung seinen 23. Geburtstag noch keine fünf Monate hinter sich hatte, musste neben seiner leicht überprüfbaren Sprachkompetenz natürlich auch eine sichere Werk-Kenntnis in der Hinterhand haben. Bis heute lässt sich nicht sagen, wie oft er einen Moliére auf der Bühne sah. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er schon in Paris, vielleicht auch andernorts in Frankreich, wo er sich bis zu seiner Berufung an die „Vossische Zeitung“ Ende 1899 überwiegend aufhielt, und später immer wieder besuchsweise, Inszenierungen sah, die er vor Augen hatte. Bis heute nachgewiesene 13 Theaterkritiken aus seiner Feder zwischen 1899 und 1930 können herangezogen werden, um sein Moliére-Bild mit halbwegs abgesicherten Konturen auszustatten, auch in mehreren seiner Bücher ist er immer wieder einmal auf ihn zurückgekommen. Eine Fußnote im Abschnitt III seiner Dissertation nennt Paul Schlenthers Buch „Frau Gottsched und die bürgerliche Komödie“ als eine seiner benutzten Quellen, das Buch ist heute als halbwegs preiswertes Reprint zu haben, ebenso im deutlich teureren Original aus dem Jahr 1886. Ob Paul Schlenther davon umgehend oder später erst erfuhr, wissen wir leider nicht.

Eloessers erstes „richtiges“ Buch jedenfalls, „Das Bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert“ (Verlag von Wilhelm Hertz 1898), soll Schlenther bewogen haben, den Verfasser als seinen Nachfolger in der Redaktion der „Vossischen Zeitung“ vorzuschlagen; das Buch hat, kaum wäre es anders denkbar, natürlich auch einige knappe Moliére-Bezüge. Einmal geht es um die sächsische Komödie, die er als Produkt französischer Bildung sieht, „zu dem Moliére und andere Komiker, wie Regnard und Destouches, das Beste beigetragen hatten.“ Von Kotzebue schreibt er, er habe Moliére (und andere) „mit großer Findigkeit ausgenutzt“. Mercier kritisiert er, weil er wegen seines doktrinären und unhistorischen Standpunktes nicht einmal den Dichter, den er am höchsten schätzte, nämlich Moliére, „nach Gebühr anzuerkennen“ in der Lage war. Die einzige substantielle Aussage zu einem Werk Moliéres betrifft „Le Misanthrope“: „Moliéres Alceste war Misanthrop von Charakter, er ist tragisch veranlagt; sein Misstrauen, das aus einem krankhaften Gemüte stammt, ist unüberwindlich. Sein Leiden fließt weder aus der Flattersucht seiner Céliméne, noch aus irgend einem anderen Unglück, sondern er ist bestimmt zu leiden, sich überall durch ein Nichts unglücklich zu machen. Er ist sein eigener Feind und wird als unheilbarer maniaque entlassen.“

Unter den 13 bisher aufgefundenen Moliére-Kritiken Eloessers betreffen zwei „Le Misanthrope“, sie liegen ein Vierteljahrhundert auseinander, zwei „Die Schule der Frauen“, zwei „Die lächerlichen Preciösen“, je eine „Der eingebildete Kranke“, „Der Bürger als Edelmann“ und „Amphitryon“, die restlichen vier widmen sich dem „Tartuffe“. Nur „Die lächerlichen Preciösen“ spielen auch in der Dissertation eine Rolle, dort noch unter dem Titel eben der frühen Übersetzung und der lautete „Die köstliche Lächerlichkeit“. Die vier weiteren dort einzeln behandelten Werke sind „Sganarelle“, „L'amour médicine“, übersetzt als „Amor der Artzt“, „George Dandin“ und „L'Avare“, damals „Der Geitzige“, der er heute immer noch ist, nur eben nicht mehr in der alten Schreibweise. Schauen wir, ob sich der Kritiker des „Misanthrope“ selbst bestätigt, ob er sein Bild erweitert oder sich gar, das wäre alles andere als eine Kritiker-Sünde, korrigiert. 1905 aber spielt als Gast Josef Kainz den Alceste. Mit dem ist Eloesser in persönlicher Freundschaft verbunden, er lässt sich kein Gastspiel entgehen, ist später sein Nachlass-Verwalter und Herausgeber von Briefen des jungen Kainz. Die Freundschaft, das nebenbei, schließt einen kritischen Blick auf die Abendleistung niemals aus.

Für Eloesser ist „Le Misanthrope“ einer, und damit ergänzt er sich schon, „der Rousseau um hundert Jahre und schon ein Stück Ibsen, wenigsten von der „Wildente“ um zweihundert Jahre vorwegnimmt. Er hat Kainz in dieser Rolle bereits gesehen, wann und wo, wissen wir leider nicht, und attestiert ihm, „dass der Alceste über seinen Adoptivvater Fulda zu seinem wahren Vater Moliére hinaufzusteigen schien.“ Der Kritiker der frühen Übersetzungen hat immer noch, wenn er sich zu Moliére äußert, den Übersetzer im Blickfeld, in diesem Falle ist es Ludwig Fulda (15. Juli 1862 – 30. März 1939). Von dem erschienen 1892 „Moliéres Meisterwerke“, 1901 schon in dritter, vermehrter Auflage, 1921 bereits zweibändig mit fast 800 Seiten Umfang. „Die Rolle bietet eine Schwierigkeit, über die heute nur ein hoher Kunstverstand und ein feingestimmtes Stilgefühl hinwegkommen kann, es ist eine tragische Figur in einer Komödie.“ 25 Jahre später hat Eloesser seinen Kainz noch immer lebendig vor Augen und Ohren, weshalb er in der letzten bisher bekannten Moliére-Kritik Anfang Dezember 1930, es geht um ein Gastspiel in der Komischen Oper Berlin, mit den Veteranen der Comédie Francaise Cécile Sorel und Louis Ravet, an ihn erinnert.

Eloesser schreibt: „Moliére ist uns nicht fremd geworden wie die französischen Tragiker; wir haben ihn annektiert und werden ihn nicht wieder herausgeben. Sein Menschliches hat ihn jung erhalten; es springt herzhaft, mutwillig, weise auch aus der gebundenen Form, die unser Theater nicht kennt oder nicht gern anerkennt.“ Die Gäste aus Paris sprechen eben die Alexandriner mit eigener Selbstverständlichkeit, jede einzelne Rolle hat ihre eigene Tradition. „Für uns ist Alceste der Menschenfeind ein Rousseau-Schwärmer vor Rousseau, bei starkem Geist eine empfindliche, empfindsame, leicht verwundbare Seele, die aus der Konvention an die Natur flüchten möchte. Moliére hat über die Zeit des Barock hinaus geahnt; die Natur war damals noch nicht erfunden.“ Mit dem Spiel der Gäste kann sich der Kritiker letztlich nicht wirklich anfreunden, er erkennt zwar die Qualitäten beider Hauptdarsteller, doch jener Alceste, wie ihn einst Kainz vorführte, steht ihm näher: „Ein Alceste, der uns nicht leid tut, wird auch auf unsere Liebe verzichten müssen.“ Und damit letztlich auch der Übersetzer Ludwig Fulda, „der den Moliére mit seinen gereimten Knittelversen etwas sehr verdeutscht, aber doch leicht sprechbar und bühnenfähig gehalten hat“.

Den ausdrücklichen Hinweis finden wir im zweiten Band der großen Literaturgeschichte von 1930/31. Im ersten Band ist Moliére immerhin fünfzehnmal erwähnt, unter anderem als einer der Schöpfer des modernen Theaters. „Das moderne Theater entstand, als es sich erst von der Kirche, dann von Höfen, Schulen, Zünften unabhängig machte. Der Schauspieler hat es begründet, wie Shakespeare, Moliére Schauspieler, Dramaturgen und Direktoren und nicht zuletzt Großaktionäre ihrer Bühnen gewesen sind.“ Auch den Vers thematisiert Eloesser: „Racine konnte mit dem Alexandriner singen und schwärmen, Moliére ließ ihn hüpfen und Purzelbäume schlagen.“ Und hat die verführerische These, dass die Absetzung der alten komischen römischen Dichter, Terenz und Plautus, „nicht zuletzt durch seine Magd, die kein Latein konnte“, veranlasst wurde. Sie war, ist überliefert, seine erste Kritikerin, ihr las er neue Szenen vor. In seinem Buch „Literarische Porträts aus dem modernen Frankreich“ (Berlin 1904) taucht Moliéres Name nur gelegentlich auf, vor allem, wenn jemandem nachgesagt werden soll, „dass ein Tropfen von Moliéres Blut in seinen Adern fließt“, wie im Fall von Georges Courteline. Zu Moliére selbst bringt Eloesser dort nichts Neues.

„Die lächerlichen Preciösen“ gehörten zu jenen fünf Moliére-Stücken, deren Übersetzung Eloesser analysierte, um den Doktorgrad zu erlangen. Alle erschienen ihm 1893 nicht als die stärksten Werke des Franzosen. Den anonymen Übersetzern aber bescheinigte er, mit ziemlich sicherem Griff die Auswahl getroffen zu haben, die dem damaligen deutschen Publikum noch am ehesten zuzumuten war. Und zwar aufgrund bisheriger Erfahrungen dieses Publikums. Es fällt auf, dass er nur für „L'amour medicine“ den Inhalt der drei Akte ausführlich referiert, bei den vier anderen verzichtet er darauf. „Unter dem gegebenen Gesichtspunkt, dem der lebendigen Bühne, muss die Auswahl der fünf Stücke als eine glückliche bezeichnet werden. Es sind nicht die höchsten Leistungen Moliéres, aber die für ein ungebildetes Publikum wirksamsten.“ Zwei sind für den Doktoranden reine Possen, alle „ihrer Anlage und Technik nach Farcen“. Tieftragische Wirkung gesteht er dem „George Dandin“ zu, „auf der Grenze zur großen Charakterstudie“ sieht er „Der Geitzige“. Die „Preciösen“ schließlich, „die im Rahmen des beliebten Verkleidungsscherzes mit folgender Prügelscene eine literarische Satire von unvergänglicher Bedeutung enthalten“, veranschlagt er am höchsten.

„Moliére bringt in diesen Farcen Typen auf die Bühne, die durch die einseitige Betonung eines komischen Zuges gekennzeichnet sind. Gerade diese einseitig ausgeprägten Figuren, die den Stempel ihrer besonderen Lächerlichkeit auf der Stirn tragen, konnten dem deutschen Publikum die Anschauungen von einem Charakter beibringen, der sich selbst treu bleibt. … Diese Dramen waren die Brücke, welche zur Aufnahme und zum Verständnis der grösseren Schöpfungen des Dichters, des Tartuffe und des Misanthrope führen mussten.“ Ein paar Seiten vorher heißt es: „Das Verdienst, die Bedeutung Moliéres für die deutsche Bühne erkannt zu haben, gebührt den Komödianten. Der grösste Dramatiker Frankreichs, der sich durch geniale Hebung vorhandener populärer Motive aufgeschwungen hatte, fiel nicht in die Hände eines bühnenfeindlichen gelehrten Interpreten; an der Hand eines unbekannt gebliebenen Komödianten setzte er, der selber als wandernder Komödiant begonnen hatte, den Fuß sogleich auf die deutsche Bühne.“ Allein der Umstand, dass Eloesser an den gelehrten Interpreten erinnert, wirft ein bezeichnendes Licht auf eine speziell deutsche Theaterentwicklung, die in diesem Fall per Aneignung eben eine sehr glückliche Wendung nahm.

Die beiden Kritiken, die er den „Preciösen“ widmete, sind nur in einem Fall eine herkömmliche Theaterkritik, im zweiten (April 1908) geht es vorrangig um die Schauspielschule des Deutschen Theaters, die eben auch den Moliére spielte. „Eine Schule kann keine Talente schaffen, sie kann die Individualität nicht lenken, sondern nur leiten.“ Sieben Jahre früher, März 1901, beginnt er noch mit dem Übersetzer, Bierling. Es dürfte sich um Friedrich Wilhelm Bierling (22. März 1676 – 25. Juli 1728) handeln, einen Theologen und Historiker, „seine Verdeutschung trabt etwas schwerfällig hinter dem geschwinderen Tempo des Originals her“. Die „Preciösen“ sind dem Kritiker eine „ewig junge, immer wieder aktuelle Komödie“. „Moliéres Satire ist ernst und kühn, weil er einer sehr erlauchten, sehr einflussreichen Gesellschaft die Wahrheit sagt, und er blamirt sie, indem er ihre verrückte Geistreichelei auch schon die Gesindestube beherrschen lässt.“ Hier entwickelt Eloesser auch eine eigene Vorstellung, wie eine Rolle zu spielen sei, die des Dieners Mascarille: „Dieser Lakai ist ein Schöngeist, wie sein Herr sagt, und wenn er einmal vor den Damen glänzen darf, muss er seine Rolle vergessen, er muss sprudeln und sich an seinen eigenen Einfällen berauschen.“

1902 gastierte der berühmte Schauspieler Coquelin im Königlichen Schauspielhaus, dort, wo keine zehn Jahre früher der alte Fontane noch für die Vossische Zeitung im Parkett saß. Benoit Constant Coquelin (23. Januar 1841 – 27. Januar 1909) war zu diesem Zeitpunkt 61 Jahre alt, weshalb es dem Kritiker angemessen schien, von „einer für seine Jahre erstaunlichen Gymnastik“ zu schreiben. „Wirklich witzig ist die Gestalt für uns nur, wenn aus dem Munde der Einfalt die unfreiwillige Satire gegen die Dummheit und Eitelkeit der anderen strömt, aber im ganzen bleibt sie doch ziemlich monoton, und daran wird auch kein Schauspieler etwas ändern können, eine Erfahrung, die jeder macht und niemand eingesteht aus Respekt vor Moliére“. Auch darin kannte sich Eloesser bestens aus und wusste natürlich auch, wie „Der Bürger als Edelmann“ entstand, im Original „Le Bourgeois gentilhomme“: „Moliéres „Bourgeois Gentilhomme“ verdankt seine Entstehung einer Laune Ludwig XIV., der einmal türkisches Kostüm auf der Bühne sehen wollte, das der Liebhaberei der Zeit wohl als das Aeußerste an erreichbarem Exotismus galt.“ Moliére ließ sich des Königs Wunsch Befehl sein, er war eben auch deshalb „der genialste und geschickteste aller Hofdichter“.

Ein holländisches Gastspiel, das „Der eingebildete Kranke“ ins Hebbel-Theater brachte, fertigte Eloesser sehr kurz ab: „Wir haben das alles häufig schon viel schlechter, zuweilen aber auch viel besser gesehen, und unsere Gäste haben sich wohl mit der Reise nach Berlin zu viel Umstände zugemutet, wenn sie uns nur mit einem anständigen Durchschnitt bekannt machen wollten.“ Immerhin belegt eine solche Aussage, dass dieser Theaterkritiker wie auch sein großer Vorgänger Fontane sehr viel öfter ins Theater ging, als er schließlich auch darüber schrieb. 1912 sah er im Schiller-Theater Charlottenburg einen Moliére-Abend mit gleich zwei Stücken, dem „Misanthrope“ war „Die Schule der Frauen“ beigestellt. „Natürlich kann man sie leicht und derb nehmen, aber es ist ein Unterschied, ob die Laune der Künstler dem Stück Leichtfüßigkeit gibt, oder ob der Regisseur ihnen Laune zu zeigen befiehlt.“ „Auffallende Leistungen waren sonst nicht zu verzeichnen, höchstens von dem Manne hinterm Vorhang, der vor jedem Akte dreimal mit dem Stocke aufstieß. Wir sind doch nicht in Frankreich und geben doch einen übersetzten Moliére.“ Erst 18 Jahre später, 1930, nutzte der Kritiker eine zweite Gelegenheit mit der „Schule der Frauen“.

Er ging dafür zurück bis ins Jahr 1662: „Nach der erfolgreichen aber auch stark kritisierten Premiere der Schule der Frauen hat man es Moliére besonders angestrichen, dass wichtige und handlungsstarke Szenen bei ihm nur erzählt werden.“ Das habe der junge Regisseur Hans Deppe nun versucht, auszubessern. „Andrerseits verlor die Komödie an Format, es wurde etwas Niedliches, Spielerisches daraus, und die Schule der Frauen ist doch mehr, oder ist wenigstens mehr gewesen. Liegt es in der Fuldaschen Übersetzung? Sie hat gewiss ihre Qualitäten, Flüssigkeiten und Munterkeit. Aber die Moliéresche Diktion und der zum Epigramm geneigte Alexandriner haben auch eine Art praktischer Bestimmtheit und selbst Trockenheit, die wohl in den deutschen Versen weggeschwommen sind. Das Stück hat auch eine Weisheit, die sich da nicht recht heraussetzt.“ Letztlich sah Eloesser eine „verkleinerte“ Aufführung, „wenn man eine Vorstellung von der umfänglichen Weisheit, und das heißt von der tieferen Komik des Originals hat.“ Genau das nahm der Kritiker für sich natürlich in Anspruch. Wie auch seine ganz spezielle Kompetenz, wenn es um Moliéres „Amphitryon“ gehen sollte, dem er zehn Jahre früher, 1920, eine Kritik widmete.

Gleich der erste Satz verrät, worum es sich handelt: „Heinrich von Kleist hat eine der kühnsten und tiefsten Szenen der Weltliteratur geschrieben, da er sich am Schluss des Amphitryon von Moliére trennt, um das galante Abenteuer Jupiters mit Alkmene wieder in den Mythus zurückzuleiten.“ Kleist, dem Eloesser 1905 ein eigenes Büchlein widmete, in dem natürlich auch eben dieser „Amphitryon“ eine gewichtige Rolle spielt, wich mit dieser Szene vom benutzten Original ab. Der Preis für genannte Kühnheit und Tiefe aber war ein Werk, „in dem Komödie und Tragödie sich doch mehr abwechseln als gegenseitig durchdringen, während Moliere, ohne eine Tiefe mit gefährlichen Strudeln aufrühren zu wollen, seiner mythologischen Barockposse auf jeden Fall die stilistische Einheit erhalten hat.“ Auch hier nennt Eloesser wieder einen Übersetzer, Ministerialrat Doz. Dr. Eugen Neresheimer (16. Februar 1876 – 17. Oktober 1953), der sogar eine sechsbändige Ausgabe sämtlicher Werke Moliéres als Herausgeber (und Mitübersetzer) verantwortete. Den der folgende, kaum veraltete Satz natürlich nicht meint: „Man soll doch nicht vergessen, dass Nacktheit auf der Bühne eine sehr auffallende Verkleidung ist und besonderer Rechtfertigung bedarf.“

Der Kritiker in der erste Reihe hatte die nackten Beine von Theodor Loos auf der Vorderbühne direkt vor der Nase und fröstelte mit ihm mit. Im Kleist-Büchlein hatte er seine Vergleichsaussage bereits ähnlich formuliert: „Jedenfalls ist Moliéres Werk bei geringeren Ansprüchen und geringerer Tiefe eine Einheit, während Kleist eine Posse und eine Tragödie geschrieben hat, die sich gegenseitig abwechseln ohne sich zu durchdringen.“ „Moliére ist in diesem Gelegenheitsstück amüsanter, beweglicher, gefälliger, Kleist ist schwerer, dafür gewinnt er an Tiefe, und indem er für den unindividuellen vom Zwang der Situation lösenden Witz den Humor mit reicherer Geberde einsetzt, gewinnt er auch an Plastik.“ Auf der Bühne jedenfalls, das verrät der Kritiker unmissverständlich, sähe er lieber den Kleist, „den übrigens niemand sehen will“, als dessen Vorlage Moliére. Am Ende sitzt er in der Inszenierung von Victor Barnowsky, der eben noch sein Chef am Theater war, wo der Kritiker als Dramaturg eine Anstellung hatte und sogar einige Male Regisseur sein durfte. Womit nur noch jenes Werk verbleibt, dem Eloesser nicht nur seine längste Moliére-Kritik gewidmet hat, sondern auch die meisten, genau vier zwischen 1899 und 1922.

„Tartüff ist ein Heuchler, der es auf das Geld und auf die Frau seines bethörten Freundes abgesehen hat, der vielleicht auch die Tochter nimmt, überhaupt alles, was er bekommt. Das ist ein einfacher und darum ewiger Typus, nur mit den nothwendigsten Zügen der Sinnlichkeit, Habsucht und Scheinheiligkeit ausgestattet.“ So eine erste, um die bedauerlichen Druckfehler des Originals bereinigte Charakteristik vom November 1899. „Die einzelnen Figuren sind komisch in ihrer Wirkung auf den Zuschauer, aber sie dürfen sich selbst nicht als spaßige Personen empfinden, sie sind durchaus ernst, und es handelt sich für sie um die ernstesten Interessen.“ 1903 erlebte Eloesser Josef Kainz als Tartüff, der ihn ganz anders gibt als alle Franzosen einschließlich Coquelin. Bei ihnen gilt: „Es giebt kein Individuum Tartüff, es giebt nur einen in größten und einfachsten Linien gehaltenen Typus der Habsucht und Sinnlichkeit, der sich durch die Maske der Frömmigkeit gedeckt hat. Dieser Heuchler ist ein robuster Kerl von sehr viel Blut und starken Instinkten, er liebt die gebratenen Hühner seiner Freunde, er liebt nach einem guten Frühstück ihre Frauen und er verachtet die Mitgift der Töchter nicht.“ Kainzens Darstellung schildert der Kritiker detailreich und vergisst nicht, auch Einwände geltend zu machen, die hier allerdings keine Rolle spielen müssen.

1910 bot das Neue Schauspielhaus den „Tartuffe“ in Kombination mit der Ballettkomödie „Der Herr von Pourceangnac“. Wieder fallen zwei Übersetzernamen, Adolf Laue und Franz Kaibel, der für die Ballettkomödie. Mit Adolf Laue könnte der gleichnamige Komponist (1831 – 1893) gemeint sein, Franz Kaibel (16. Januar 1880 – 15. April 1953) lebte ab 1905 in Weimar. Laue jedenfalls hielt sich noch an die Alexandriner des Originals, „nicht übel“ nannte der Kritiker die Übersetzung Kaibels. Und fixierte für den „Tartuffe“ unfehlbare Dinge, wie er das nannte: „Die graziöse Zankszene des Liebespaares kann nicht versagen, ebensowenig die der Kniefälle von Orgon und Tartüffe, am wenigsten die der Enthüllung des Heuchlers durch weibliche List und Koketterie.“ Mit der Titelrolle hätte ihr Darsteller mehr tun müssen: „Es gehört zu ihr mehr schmunzelnd Amüsantes, die reine Lust der Verstellung und Bespiegelung, ein lebhafteres Gleiten und Schillern der Momente.“ Und wieder hat er Kainz vor Augen in dieser Rolle. Die vierte und letzte Tartuffe-Kritik ist mit Abstand die längste, gedruckt in „Das blaue Heft“, Februar 1922. Sie fällt auch dort aus dem Rahmen dessen, was Eloesser üblicherweise lieferte: Sammelkritiken zu bis zu fünf Inszenierungen.

„Moliére hinterließ uns den idealen Typus der romanischen Komödie, der als der europäische galt, bis wir sehr allmählich mit Shakespeares Sommerträumen und Wintermärchen vertraut wurden.“ Das hat, wie Eloesser es nennt, „eine kleine Fremdheit“ aufkommen lassen. Die er nicht akzeptieren möchte, denn „solange wir noch imstande sind, die Gemessenheit und Geschlossenheit der alten immer noch unentbehrlichen Latinität zu würdigen, solange wir Augen und Zunge haben, die schönste Kristallisation eines epigrammatischen Geistes zu würdigen, und solange wir nur ein Kristall gegen die Sonne zu halten brauchen, um Wasserklarheit ins Glühen und Funkeln zu bringen, solange werden wir dem Genius Moliéres, der eine der schönsten, lautersten, menschlichsten Bildungen war, unsere Bewunderung und Dankbarkeit nicht versagen können.“ So klingen Liebeserklärungen, solche Liebe erträgt auch, wenn der Tartüffe auf der Bühne raucht und moderne Tracht trägt. „Moliére hält sehr viel aus und gerade sein Tartüffe scheint mir unsterblich genug, um noch manchen Anzug aufzutragen.“ Eloesser erlebte Eugen Klöpfer als Titelfigur, Agnes Straub als Dorine und Max Gülstorff als Orgon. Zufrieden war er schließlich dennoch nicht.

„Das Publikum lachte, aber sollte man aus dem Tartüffe nur ein Lachen mitbringen? In dieser gewiss flotten und spaßigen Aufführung schrumpfte eine der weisesten und ernstesten Komödien, die heute noch einen Staatsanwalt lehren kann, doch etwas ins Unbeträchtliche zusammen.“ Das ist vielleicht ein Wunsch, der sich im Sinne Eloessers auf weit mehr als nur den „Tartüff“ beziehen lässt. Schon in der Dissertation schrieb er zur Farce „Sganarelle“, die er kaum überschätzte: „Sein großer Monolog in der Mitte des Lustspiels ist eine der höchsten Leistungen des Moliéreschen Witzes.“ An „George Dandin“ war ihm wichtig, dass „die tragische Grundstimmung, durch die sich Moliere so hoch über seine Vorgänger erhebt“, auch in der Übersetzung erhalten bleibt und für das Publikum spürbar wird. Einmal hat sich übrigens auch der Übersetzung-Kritiker einen kleinen Fauxpas geleistet, er ließ die Übertragung des französischen „confiture“ unwidersprochen als deutsches „Marcipan“ durchgehen. Dass Moliére, der Schwerkranke, am 17. Februar 1673 als „Der eingebildete Kranke“ auf offener Bühne zusammenbrach und in der Nacht starb: Arthur Eloesser hat es nie erwähnt. Das Leben Moliéres war tatsächlich kein Thema für ihn, nur sein lebendiges Werk.


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