Arthur Eloesser und Georg Hermann

Hätte, was denkbar gewesen wäre, nicht Arthur Eloesser Georg Hermann zum 60. Geburtstag gratuliert in der Vossischen Zeitung, sondern Max Osborn oder selbst Monty Jacobs, dann wüssten wir deutlich weniger vom Verhältnis des einen zum anderen. So aber wissen wir was und es ist gar nicht schlecht, was wir wissen. „Das wird gerade ein Vierteljahrhundert her sein, da kam ein junger Mann in meine Wohnung, legte ohne viel Umstände, Ergebenheitserklärungen und sonstige Einleitungen ein Paket auf meinen Tisch und sagte: „Ich bringe Ihnen hier einen Roman für die Vossische Zeitung. Aber Sie werden ihn nicht nehmen.“ Ich war an noch originellere Einführungen gewöhnt, die schmeicheln, reizen oder irgendwie werben sollten; aber das klang echt. Bis zum Theater hatte ich noch einige freie Stunden; ich machte das Paket auf, es war „Jettchen Gebert“ von Georg Hermann, von dem ich nur wusste, dass er schon einen Roman und einiges über Kunst geschrieben hatte.“ So beginnt Eloesser seine Gratulation. Man muss dazu wissen, dass er innerhalb der Redaktion, der er seit Ende 1899 angehörte, für den Fortsetzungsroman zuständig war und zwar schon gut fünf Jahre. Es gibt kaum Belege dieser Tätigkeit wegen Verlust einschlägiger Archive.

So erfahren wir gleich zweierlei. Erstens: Die Autoren, die ihr Werk in Fortsetzungen gedruckt sehen wollten, scheuten auch nicht davor zurück, die Privatsphäre des entscheidenden Mannes zu betreten. Zweitens: „Ergebenheitserklärungen“ waren an der Tagesordnung, Schmeicheleien, auch Reizungen, die man sich wohl als mehr oder minder geschickte Provokationen zu denken hat, sind vorgekommen. Wir wissen nicht, ob in der Regel die Autoren selbst in Erscheinung traten oder ob sich die Verlage direkt an die Redaktion wandten und deren Anliegen dann zuständigkeitshalber auf Eloessers Schreibtisch landeten. Dass der junge Mann nur gut anderthalb Jahre jünger war als der Entscheidungsgewaltige, sei wenigstens erwähnt; nicht sehr viel später wurde der Jüngere der Vorgänger des Älteren in einem Amt, auf das wir noch zurückkommen werden. Jetzt nur so viel: der erwähnte Roman erschien zuerst 1897, trug den Titel „Spielkinder“ und war autobiographisch in starkem Maße. Eloesser hat ihn auch später nie erwähnt. Einiges über Kunst: der Leser durfte sich 1931 ausmalen, was gemeint sein könnte, es kamen immerhin einige Titel in Frage, die bis heute in der weitestgehend romanfixierten Literaturgeschichte bestenfalls in Fußnoten Erwähnung finden.

Vor 1905, also ehe „Jettchen Gebert“ zum Buch wurde, waren bereits erschienen: „Modelle“ (1897), „Die Zukunftsfrohen“ (1898), „Aus dem letzten Hause“ (1900), „Die deutsche Karikatur im 19. Jahrhundert“ (1901), „Skizzen und Silhouetten“ (1902), „Max Liebermann“ (1904), diese Reihe ist nicht vollständig. Was davon Arthur Eloesser wirklich kannte, was bestenfalls dem Namen und Titel nach, ist nicht mehr feststellbar. Sehr wohl aber ist feststellbar, dass er auch von den achtzehn gedruckten Romanen Georg Hermanns bis 1934, bis zu seiner letzten kritischen Betrachtung zu ihm, nur ganze sechs mit ihrem Titel erwähnte: „Jettchen Gebert“, „Henriette Jacoby“, „Kubinke“, „Die Nacht des Doktor Herzfeld“, „Grenadier Wordelmann“ und schließlich „Eine Zeit stirbt“. Der erste Eindruck war ganz offenbar entscheidend. „Jettchen Gebert“ und die Fortsetzung „Henriette Jacoby“ prägten Eloessers Hermann-Bild entscheidend, er kam bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor allem auf diese beiden Titel zurück. Aus der kleinen Reihe seiner bezüglichen Publikationen fällt nur eine heraus. Das ist eine Theaterkritik zu einer Aufführung von „Der Wüstling“ im September 1911, die mir aus technischen Gründen bis auf weiteres leider nicht zugänglich ist.

Besonders ungeduldige Leser seien auf Julius Bab verwiesen, den vieles mit Eloesser verband, darunter zuletzt ihre gemeinsame Tätigkeit im Jüdischen Kulturbund. Bab hat in seiner „Chronik des deutschen Dramas“, Dritter Teil von 1911 – 1913, immerhin drei Druckseiten Georg Hermann gewidmet, wobei er sich fast ausschließlich auf „Der Wüstling oder Die Reise nach Breslau“ konzentrierte. „Jenes bequeme Verweilen beim Detail, das für den Epiker, der die Breite der Natur, die Überlegenheit der Dinge und Tatsachen darstellen will, ein Stil sein kann, das ist für den Dramatiker in jedem Fall eine Schwäche und ein Fehler.“ Außer Bühnenfassungen von eigenen Romanen, die Bab wohl mit Recht als zum Theatergeschäft, nicht zum Drama gehörig zählte, sind nach dem „Wüstling“ noch „Frau Antonie“ (1917) und „Mein Nachbar Ameise“ (1918) überliefert.
„Also wusste ich eigentlich gar nichts und wo sich Schriftsteller sonst fanden, war er mir auch noch nicht begegnet. Ich las und las und schrieb ihm am Nachmittag noch zwei Zeilen: „Die Hälfte Ihres Romans habe ich schon gelesen; er ist angenommen.“ So geht es weiter in Eloessers Erinnerungen an ihre erste Begegnung in seiner Wohnung, die damals noch nicht in der Dahlmannstraße lag.

„Als der junge Mann, nicht sehr jugendlich, noch weniger elegant, aber mit bemerkenswerten Augen, wieder bei mir erschien, drückte er mir nicht überschwenglich die Hand, benahm sich überhaupt wie ein Mensch, der noch gar keine Übung in der Freude hat, und schien eher meinen Leichtsinn bei einer höchst verantwortlichen Handlung zu missbilligen: „Sie haben ja erst die Hälfte gelesen.“ Worauf ich nur erwidern konnte: „Ob Jettchen und Kößling sich kriegen, spielt im Augenblick keine Rolle. Die Hauptsache, das ist geschrieben.“ Diese für den Augenblick seltsame Wendung erklärt sich aus der 1931 natürlich vorhandenen Erinnerung an das weitere Geschehen, das ausführlicher der am 10. Mai 1908 in der Vossischen Zeitung gedruckten Kritik zur Fortsetzung des „Jettchen Gebert“, nämlich „Henriette Jacoby“ zu entnehmen war. Die Leser des aufregenden Fortsetzungsromans um dieses Jettchen hätten nach dem Ende gern auch erfahren, wie es weiter geht mit ihr, ein sofort anschließender Abdruck hätte just diese Neugier umgehend befriedigt. Nur war Autor Georg Hermann mit dem zweiten Roman schlicht und einfach noch nicht fertig. Selbst der größte aller Fortsetzer aller Zeiten, Balzac, war zu seiner Zeit nicht immer sofort lieferfähig.

„Ich will nicht sagen, dass Georg Hermann an einem Morgen als berühmter Mann aufstand. Aber er wurde berühmter von einem Zeitungsmorgen zum anderen, und der Erfolg des Buches war schon da, bevor es sich aus hundert täglichen Fortsetzungen wieder zu einem Ganzen sammelte. Man schwärmte für Jettchen, man empfand ihre Schönheit, man schwärmte für Onkel Jason, den sie mehr geliebt hatte als den biederen Kößling; man lebte drei Monate mit den Geberts und lebte sehr gut bei gefülltem Hecht, Gänsebraten mit Äpfeln und den immer bereiten Mürbekuchen. Und wie das bei lebendigen Romanen immer geht, viele Menschen fühlten sich getroffen, hielten sich für Geberts, berichtigten, was an der Familiengeschichte nicht ganz zu stimmen schien, und eine Dame meldete sich gar als das echte Jettchen, mit dem Protest, dass ihre Liebschaft mit Kößling und ihre Ehe mit Julius Jacoby ganz anders verlaufen sei.“ Das gehörte, wenn es eine gäbe, in die Geschichte des kuriosen Leserbriefes von den Anfängen bis in die Gegenwart. So aber gibt es nur einen ganz kleinen Einblick ins Tagesgeschäft des Feuilleton-Redakteurs Arthur Eloesser, der im Blatt seine jeweils nächsten Fortsetzungsromane nur als Faktum ankündigte, nie mit einer Inhaltsandeutung.

„Georg Hermann hat seiner Vaterstadt eine Geschichte geschenkt; er kannte sie aus lebendiger familiärer Überlieferung, als sie noch klein war, und als sie groß wurde, hat sie ihn nicht erschreckt, obgleich sie ihn in der Jugend gewiss nicht verwöhnt hat. In einer sehr grauen Jugend, als die Geberts gar nichts mehr waren und nicht einmal die richtige, gewöhnte, selbstverständliche Armut hatten. Jeder Dichter, sagt Thomas Mann, ist einmal von einem Ladentisch aufgestanden; Georg Hermann hat sogar Krawatten verkauft oder vielmehr bewiesen, dass er dazu nicht imstande war; er wurde Schriftsteller, weil er zu gar nichts anderem taugte. Eine Stadt ist ein weibliches Wesen, sie braucht nicht grade Anbeter, aber Liebhaber, die gar nicht blind zu sein brauchen, um ihr auch Schönheiten und Reize nachzusagen. Georg Hermann fand sie nicht nur in ihrer bescheidenen Jugend, als die Damen noch mit dem Biedermeier-Löckchen unter der Schute gingen, die Herren im farbigen Frack mit der noch farbigeren Weste darunter; er fand auch an dem modernen, allem Patriarchalischen entwachsenen Berlin eine Schönheit, eine Güte, eine Seele.“ Hermann war, und das sah nicht nur Eloesser so, ein exemplarischer Berlin-Autor mit guter Distanz-Nähe-Mischung.

„Weil er das alles zu schaffen wusste, weil er ihr als literarischer Goldschmied feines Geschmeide und sogar echtes geschenkt hat. Hermann hat immer leise geschrieben, aber er gehört zu den Schriftstellern, die uns unversehens begegnen, die einen vertraut ansprechen, wenn man allein wandelt, wenn man träumt, wenn man beides zusammen macht, indem man spazieren geht.“ Viel später hat Peter Sprengel Georg Hermann in sein Buch „Berlin-Flaneure. Stadt-Lektüren in Roman und Feuilleton 1910 – 1930“ aufgenommen und ihn als den „philosophischen Flaneur“ vorgestellt mit seinem Roman „Die Nacht des Doktor Herzfeld“. Auf den auch Eloesser kommt: „Es gibt ein Georg-Hermann-Gebiet wie es ein Fontane-Gebiet gibt; er hat sich daneben angebaut. Wenn du nach Feierabend über den Kurfürstendamm gehst, den vielverlästerten, es ist die „Nacht des Dr. Herzfeld“, eine der berlinischsten und der besten berlinischen Sachen, die je geschrieben worden sind. Der Kurfürstendamm ist eine Nachtschönheit, wenn die ganze Stuckmythologie auf den Portalen, Giebeln, Brüstungen sich in tiefe Schatten schlafen legt, wenn nur die Ketten der breiten Spiegelfenster lebendig bleiben, in denen die erleuchteten mit den dunklen wechseln, als hätte sie ein Juwelier aus blitzenden, farbigen und tiefen, blinden Halbedelsteinen zusammengesetzt.“

Dass Arthur Eloesser für Berlin und das Berlinische ein waches und wachsames Auge hatte, sei in Erinnerung gerufen, er darf ohne alle Übertreibung selbst als exemplarischer Berlin-Autor gelten, eine Sammlung aller einschlägigen Texte oder Text-Teile würde ein solides Buch ergeben, für das sich eben nur jemand, der Verlag heißt, interessieren müsste. Eloesser sieht sich buchstäblich an der Seite Hermanns unterwegs, er kennt dessen Diagnosen des Berliner Schnell- und Wucherwachstum als seine anders formulierten eigenen. „So ungefähr heißt es da, ich brauche erst gar nicht nachzuschlagen, das bleibt im Ohr. Wer wird die „dito Passablen“ vergessen? Es ist das Bild eines Schmetterlingssammlers. Von irgendeiner Sorte kostet das tadellose Exemplar eine ganze Mark. Aber leicht lädierte, abgeflogene, in ihrer Familie gerade noch erkennbare, kann man schon für eine halbe Mark haben.“ An solchen Stellen sehe ich den Gratulanten, den Kritiker, förmlich in sich hineinhorchen. Im Blick auf den drei Jahre nach der „Henriette Jacoby“ erschienenen Roman „Kubinke“ (1911) finden sich Formulierungen, die ähnlich auch in Eloessers späterer Sammlung „Die Straße meiner Jugend“ hätten Platz finden können: zu Bau und Bauboom in Charlottenburg.

„Das ist die endlose Baustelle, die immer entsteht und nie fertig wird, das sind die Straßen, die auf ihre Häuser warten, und manchmal warten sie so lange auf ihre Häuser, ihre Baugelder, ihre Hypotheken, bis wieder Gras zwischen den Steinen wächst, und die schönen Ahorne werden noch älter und größer, und manche Straße, obgleich sie schon einen Namen hat, träumt sich wieder in ihr altes dörfliches Vorsein zurück.“ Charlottenburger Straßen hatten zunächst gar keine Namen, nur etwas wie Ordnungsnummern, dann gab es, durchaus sinnvoll, Namen eines bestimmten Umfeldes: Historiker wie Dahlmann, Niebuhr, Mommsen, Sybel oder Gervinus. „Das Kolosseum oder die Akropolis kann jeder besingen, aber das zur Landschaft machen, mit der Staffage der ausrangierten Matratzen, der bodenlos gewordenen Eimer, der Hügel von Konservenbüchsen, das ist keine Kleinigkeit. Dazu gehört Liebe, sagen wir Güte, obwohl Hermann durchaus kein guter Kerl und gar erst rührend sein will.“ Arthur Eloesser lobt Georg Hermann gewissermaßen in seiner eigenen Sportart. Ob er wusste, dass Hermann auch ein passionierter Tennis-Spieler war und als solcher Match-Partner von Julia Paradies, der ersten Ehefrau von Karl Liebknecht, die schon 1911 starb ?

„Was ist das Leben des kleinen Frisörs „Kubinke“ wert, den die Weiber aus der Welt trieben, von denen er, ach, so wenig gehabt hatte, oder vielmehr die Alimentenklagen, die immer seiner Unschuld zugeschoben wurden! Die Tragikomödie von dem sauberen jungen Menschen im weißen Kittel hätte auch ein anderer erfinden können; aber was bewunderungswürdig bleibt, das ist die Urbarmachung des Kubinke-Landes, in dem, wie der Dichter so schön sagt, die reichen Leute wohnen, die kein Geld haben.“ So steht es in der Geburtstagswürdigung. Und so in der großen Literaturgeschichte, ebenfalls 1931: „Die Geschichte des schüchternen Friseurgehilfen, den die Weiber und die Alimentationsklagen in den Tod treiben, spielt an der Peripherie von Berlin, wo immer gebaut wird, wo die Stadt in ewiger Unruhe das Land verschlingt und doch nie satt wird. Der Dichter leidet am Horror vacui; er erfüllte die Leere mit Dienstbotengewisper, mit der Seele und der Sehnsucht von heimlosen kleinen Leuten.“ Als „Kubinke“ 2019 neu gedruckt wurde in „Die Andere Bibliothek“, Hans Magnus Enzensberger war als Herausgeber längst ausgestiegen, nannte das Tilman Krause eine Wiederentdeckung und sprach leider auch wieder vom „jüdischen Fontane“.

Diese Formulierung geistert durch die neuere Hermann-Literatur, ohne dass auch nur einer ihrer Nutzer eine Quelle für die angeblich zeitgenössische Apostrophierung angegeben hat. Von Arthur Eloesser stammt sie auf keinen Fall, er hat nur, wie andere Zeitgenossen auch, den Fontane-Bezug präsent, wenn er über Hermann schreibt. Hätte er die Formulierung aus eigenem Erleben gekannt, sie wäre sicher nicht unkommentiert geblieben. Dass Tilman Krause mehrfach auf Hermann hinwies im Verlauf etlicher Jahre seines Schreibens für die „Literarische Welt“, bleibt sein Verdienst vor allem im Quervergleich mit namhaften Ignoranten. Der deutsche Jude Hans Mayer etwa blickte großzügig über Georg Hermann hinweg, das „Literaturlexikon“ der ZEIT kennt Georg Hermann nicht, auch die Dokumentation „Kritik in der Zeit“ aus DDR-Jahren (Mitteldeutscher Verlag) kannte Georg Hermann nicht. Einreihen lässt sich selbst Marcel Reich-Ranicki, der sich mehrfach der deutsch-jüdischen Literatur widmete, unter anderem in seiner Sammlung „Über Ruhestörer“. In die erstaunlich lange Reihe der Fehlstellen gehören auch Hanjo Kesting, Margarita Pazi, gehört der sonst durchaus wichtige Sammelband „Im Zeichen Hiobs“ (Athenäum-Verlag). Bilanz: traurig.

Erfreulicher Arthur Eloesser 1931: „Aber er ist für die kleinen Leute, die kleinen Verhältnisse, für das, was immer da war und immer wiederkommt. Und er sagt in seinem „Grenadier Wordelmann“ gewiss mit Recht, dass die Seele sich nicht viel ändert. Man trägt sie nur etwas anders. Hermann sagt auch einmal, dass er nicht urteile, nicht ja, nicht nein sage, und für eine unpathetische Figur gehalten sein wolle. Das ist alles richtig und auch nicht richtig; denn im Grunde gibt es keinen Dichter ohne Pathos, es kommt nur darauf an, wo er es versteckt hat, und auf die Kunst, es leise zu machen. Georg Hermann hat sein Pathos – das Wort bedeutet ja ursprünglich Leiden – auf kurze, fein klingende Wellen geleitet; das Wesentliche bei ihm ist die Schwingung, das schwebende Hin und Her zwischen den Dingen und den Menschen. Die Leute lachen und weinen nicht laut bei ihm, sie gehen still und etwas gebückt durch ein niedriges Dasein; sie fragen mancherlei und sie bekommen kaum eine deutliche Antwort.“ „Grenadier Wordelmann“ (1930) erwähnt er nur hier, nicht auch in seiner Geschichte. „Aber was man immer hört, das ist das Klopfen eines Herzens. … Lieber Jubilar, Geprüfter, Lebenskundiger, Skeptiker, Ironiker, sagen Sie nichts dagegen. Es ist so!“

Von den beiden zweifellos bekanntesten, verbreitetsten, sogar verfilmten Romanen Georg Hermanns lesen wir 1931 im zweiten Band der Literaturgeschichte: „Es ist die melancholische Geschichte einer schönen Jüdin, die ihren christlichen Anbeter nicht heiraten darf, und deren Geschick noch durch die stille Neigung zu einem älteren Verwandten kompliziert wird. Was davon konventionell sein kann und sentimental sein muss, hat Hermann durch die feinen Schwingungen einer lyrisch-rhythmisierenden Prosa und durch die Ironie seiner eigenen Einsprüche glücklich pariert. Das ebenso jüdische wie berlinische Haus des Geberts, in dem also der Humor von beiderlei Gestalt regiert, gab der Stadt eine Anhänglichkeit an ihre eigene innere Geschichte zurück, das Bewusstsein, dass sie schon vor 1870, vor ihrem plötzlichen Riesenwachstum dagewesen war, und auch im Besitz einer Seele.“ Wer da also behautet hat, Hermanns Romane spielten um die Jahrhundertwende, beweist vor allem, dass er sie nicht gelesen hat, es sei denn, er hielte die Epoche des deutschen Biedermeier für Jahrhundertwende im großzügigen Sinn. Aber dann hätte er auch von den Bemühungen Hermanns um die Biedermeier-Zeit keine Notiz genommen, wie bedauerlich.

„Hermann hat mit seinem weichen ironischen Plaudern dem Kurfürstendamm gehuldigt, obgleich er weiß, dass er nicht schön ist; aber er sah ihn in einer Sommernacht von Dunstwolken verschleiert und ließ ihn Heimat für müde Großstadtmenschen sein, die nichts Besseres mehr haben. Hermann ging dann, ohne besondere neue Erwerbungen, wieder auf den Fontane-Weg zurück, am liebsten in das alte Potsdam und in die friderizianische Zeit, wie sie Adolf Menzel gemalt hat.“ Dem Hermann sogar, nachzulesen in „Bismarck und Menzel“, auf besondere Weise persönlich begegnet ist. Die kurzen Sachen dieser wunderbaren Art hat Eloesser leider ignoriert, was wenig gegen ihn spricht, denn die Reihe der Ignoranten in dieser speziellen Hinsicht ist lang. Ich kenne derzeit eigentlich nur den DDR-Professor Hermann Kähler (1930 – 2018), der sich in den 80er Jahren nicht nur zu mehr Hermann-Romanen als alle anderen, sondern eben auch zu den Büchern feuilletonistischer und essayistischer Art mit Kenntnis äußerte. Um dem auch gleich das DDR-Gegenbeispiel zuzuordnen: Das ehrgeizige Projekt des Berliner Akademie-Verlags „Literarisches Leben in Berlin 1871 – 1933“ in gleich zwei Bänden übersah Georg Hermann westlich großzügig, wohl wegen uralter Vorurteile.

Dennoch zurück zu Arthur Eloesser. Der besprach in der Vossischen Zeitung vom 8. Mai 1908 in ungewöhnlicher Ausführlichkeit „Henriette Jacoby“, den Roman, den die Freunde des täglichen Fortsetzungsromans im Feuilleton, also „Unterm Strich“, am liebsten sofort im Anschluss an „Jettchen Gebert“ gelesen hätten. Es liest sich phasenweise wie ein kommentiertes Referat des Inhaltes, auch das durchaus weniger üblich bei Eloesser. Selbst auf den Einband geht er ein, der ihn an Stickereien auf einem Biedermeier-Kissen erinnert. Vor allem aber versucht der Kritiker, seinen Lesern, vor allem den Hermann-Lesern, Werkstatt-Geheimnisse des Romanschreibens nahezubringen. Das wichtigste darunter: auch der Autor weiß keineswegs immer an jedem Punkt seines Schreibens, wie es mit seinen Figuren, selbst den Hauptfiguren weitergeht. „... keine von den mondänen Tragödien oder Sensationen, die durch die Zeitungen gehen, hat vor zwei Wintern die Gemüter mehr beunruhigt als Jettchen Geberts Verlobung mit Julius Jacoby aus Bentichen. …
Es waren die Leser alten Stiles, die ein Liebespaar nur durch den ersten Band hindurch leiden lassen wollen...“. Der Redakteur Eloesser kennt seine Leser nicht nur aus den eingehenden Leserbriefen.

„Der es am besten wissen musste, nämlich der Autor selbst, hätte den besorgten und teilnahmevollen Lesern wohl damals noch keine verbindliche Auskunft geben können. … Man kann wohl seinen Romanfiguren die Biographien in die Wiege legen, aber gerade wenn sie recht lebendig geworden sind, kehren sie sich nicht an die ursprüngliche Konzeption.“ Dennoch habe Hermann die Herrschaft über seine Geschichte keineswegs aus der Hand gegeben: „Hermann hat durchaus die Zurückhaltung geübt; aus seinem Kößling keinen Romanhelden zu machen; er hat ihm nicht einmal die Glorie des Talentes bewilligt. … seine unbestimmte, sogar uninteressante Figur bleibt immer wie außerhalb des eigentlichen Romanes.“ Weil andere wichtiger sind: „Aber die anderen Figuren erhalten sich in der Geschlossenheit des jüdischen Milieus, das doch wieder in seiner Enge reiche Möglichkeiten der Individualisierung zulässt. Diese Geberts bestehen auch in der Fortsetzung mit einer außerordentlichen Lebenskraft.“ Einen Einwand formuliert der Kritiker vor allem gegen das Ende Jettchens, die Art ihres Selbstmordes. Sie ersticht sich „in Schönheit mit einer silbernen Nadel“. „Bestreiten will ich den Ausgang nicht, aber ich möchte ihn doch weniger bestätigen.“

Somit fällt das Fazit zur Fortsetzung des Fortsetzungsromans etwas melancholisch aus: „Zum Schluss hat Georg Hermann, wahrscheinlich sah er sich plötzlich zum Ende gedrängt, seine Heldin doch entschleiert, und zwar durch das allzu bequeme Mittel eines allzu langen und deutlichen Briefes, in dem alles, und das heißt eben zu viel steht. … wir hätten gern den Schleier gerettet, der doch ein Teil von Jettchens Schönheit, von ihrem Selbst war.“ Vielleicht hängt es mit dieser milden Enttäuschung des Lesers Eloesser, weniger des Kritikers, zusammen, dass sehr viele Jahre vergingen, sogar das Ende der Weimarer Republik folgen musste, ehe noch einmal ein Roman von Georg Hermann Arthur Eloesser beschäftigte. Der Antisemitismus des Hitler-Regimes brachte beide, die sich spätestens seit Gründung des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS) 1909 auch auf organisatorischer Ebene öfter begegneten, schon aus rein solidarischen Beweggründen wieder näher, falls es denn tatsächlich eine innere Entfernung gegeben haben sollte, für die ich keinerlei Belege vorzubringen wüsste. Hermann war der erste SDS-Vorsitzende von 1910 – 1914, Eloesser zunächst Sekretär, später selbst Vorsitzender, beide als solche auch publizistisch aktiv.

Im Juni-Heft 1934 druckte „Der Morgen. Monatsschrift für die Juden Deutschlands“ die letzte Besprechung Eloessers zu einem Werk von Georg Hermann. Es war der Roman „Eine Zeit stirbt“, gedruckt als erstes Buch im Verlag Jüdische Buch-Vereinigung. Die brachte später auch Eloessers eigenes letztes Buch „Vom Ghetto nach Europa“ auf den für Juden extrem geschrumpften Markt. Der Akzent ist jetzt anders gesetzt: „Diesem Dichter hatte das deutsche Judentum schon vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren für die beiden schönen Romane um Jettchen Gebert zu danken, aus denen deutlich wurde, wie fein verzweigt berlinische und jüdische Geschichte im 19. Jahrhundert waren.“ Aus Bedeutung für Deutschland, für Berlin, ist nun Bedeutung für das deutsche Judentum geworden, der Kritiker selbst, wie andernorts bereits mehrfach betont, ist sich des eigenen Judentums erst spät und unter dem Druck der Verhältnisse wirklich bewusst geworden. „Georg Hermann gehört zu den Erben Theodor Fontanes, zu den betrachtsam skeptischen Naturen, die nicht gern heroische Schauspiele aufführen und die vor allem dem märkischen Sand nichts Grandioseres zutrauen wollen als er in seiner Kargheit hergibt.“ Zum Roman ist damit erst einmal wenig gesagt.

„Aus seiner jüdischen Abstammung hat Georg Hermann mehr Gefühlsweichheit als dieser Meister, mehr Richtung auf Jens Peter Jacobsen“ heißt es im Anschluss, und weiter: „Da es jetzt von vielem Abschied nehmen heißt, ist wohl der letzte Augenblick, noch einmal auf ihre leisen Stimmen zu hören … damit, wie der Dichter in seinem Vorwort sagt, von uns mehr bleibt als der zarte Abdruck eines Grashalms und eines Blättchens in der Kalkplatte der Versteinerung. In demselben Vorwort orientiert Georg Hermann über die vier Romane, die diesem gewiss erst vorletzten in der Serie vorangegangen sind.“ Auch solch ein Verweis ist ungewöhnlich für den Kritiker Eloesser. Offenbar kennt er die vorangegangenen Romane nicht und verzichtet sogar darauf, deren Titel zu nennen. Dass er sich damit in guter Gesellschaft befindet, darf wiederholt werden. „Es ist der Hauptinhalt dieses Romans, dass der Schriftsteller Fritz Eisner seine schöne Frau (deren Schönheit wir glauben) durch eine brutale Krankheit verliert … Auch sonst geht es melancholisch zu, weil viele Menschen zugrunde gehen, versinken oder verkümmern“. „Die Zeit, die stirbt, ist die der zwischen 1870 und 80 Geborenen, also die des Dichters selbst“, auch die Eloessers selbst, am 20. März 1870 geboren.

Zwei weitere Charakteristika Hermanns greift der Kritiker heraus: „Überhaupt die Frauen! Georg Hermann hat bei uns den Erfolg (der immer ein produktives dichterisches Vermögen beweist), dass er uns in sie verliebt macht“. Und dann: „Es soll immer noch Dichter geben, die erst im Konversationslexikon nachschlagen, um sich zu überzeugen, welche Blumen in welcher Jahreszeit zu pflücken sind … Ich will Georg Hermann nicht zu einem Naturmenschen machen, dem die heimische Scholle an den Stiefeln klebt. Nennen wir ihn einen Stadtrandsiedler der Dichtung … einen späten Nachkommen unseres alten Nomadenvolkes … der weiß, von welchen Blumen seine Lieblinge, die Schmetterlinge, am liebsten naschen.“ Weder zu Hermanns noch zu Eloessers Lebzeiten stand Lesern der Beitrag „Literatur“ zur Verfügung, den der Kritiker für den überaus voluminösen Sammelband „Juden im deutschen Kulturbereich“ niederschrieb. Seit dem Druck der erweiterten und ergänzten Ausgabe von 1959, auch der ursprüngliche Herausgeber Siegmund Kaznelson war inzwischen gestorben, zufällig am 20. März 1959, dem Geburtstag Eloessers, aber kann nachgelesen werden, was da wie ein unfreiwilliger Nachtrag an die Öffentlichkeit kam.

Der ist nachfolgend komplett wiedergegeben, ohne eine nicht von Eloesser stammende Einfügung: „Der feinere, stillere, poetisch viel stärkere Georg Hermann … machte aus seiner Vaterstadt Berlin auch seine literarische Heimat. Sein „Jettchen Gebert“ mit der Fortsetzung „Henriette Jacoby“ war die in feinen lyrischen Schwingungen fortschreitende Geschichte einer jüdischen Familie, die zugleich ein ungemein intimes Bild von Berlin im Biedermeier einrahmte. Mit mehreren anderen Romanen, die in Berlin, in Potsdam oder sonst in der Mark spielen, wurde Hermann ein Nachfolger von Willibald Alexis, von Ludwig Rellstab und vor allem von Theodor Fontane, ein guter Kenner der inneren preußisch-märkischen Geschichte seit Friedrich dem Großen, die sich schließlich nicht nur auf den Schlachtfeldern abgespielt hat. Auch das moderne Berlin vor 1933, dessen Atmosphäre so schwer zu fassen war, und das im allgemeinen nur sehr laute Romane vom Kurfürstendamm und von dem Zug nach dem Westen veranlasste, ist mit all seiner Unbeständigkeit, mit seinem ewigen Wiederanfangen, Aufbauen und Abbauen unter seiner Hand zu einer intim beleuchteten Landschaft geworden.“ Heute vor 90 Jahren starb Georg Hermann in Auschwitz-Birkenau im Gas, 72 Jahre alt.

P.S. Vorstehender Beitrag fußt auf dem aktuell vorliegenden Material meines Archivs, weitere Entdeckungen sind nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern ausdrücklich erwünscht. Horst Olbrich, den man den Gründervater der Eloesser-Forschung nennen darf, zitiert Eloesser aus dem 14. Jahrgang 1911/12 der Zeitschrift Literarisches Echo: „Wenn wir in unserer Literatur und Kunst zusammen erst ein Dutzend Georg Hermanns haben, wird Berlin eine lebendige Persönlichkeit sein und nicht mehr geschlechts- und physiognomielos aus toten Augen starren.“ Das bezog sich auf „Die Nacht des Doktor Herzfeld“. Olbrich ist übrigens, wen darf es wundern, in seinem Forschen von Arthur Eloesser zu Georg Hermann übergegangen, man darf gespannt sein, zu welchem Ziel.


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