Zum Abiturienten-Treffen 2016 in Ilmenau. Eine kleine Rede

Liebe Freundinnen und Freunde, auch in umgekehrter Reihenfolge: als wir 1967, kurz nach dem VII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und nach einer Schulreform, unter dem neuen Namen Vorbereitungsklassen die Ilmenauer Goetheschule bezogen, hatten wir alle eine Überzeugung, die uns heute um unseren schönen Job als Bundeskanzlerin bringen würde: Wir waren vollkommen sicher: Wir schaffen das. 45 Jahre später sind wir alle mehr oder minder geschafft und geschafft haben wir es außerdem auch. Unsere Rente ist sicher, wenn sie auch etwas später kommt, als sie in unserer lieben kleinen DDR gekommen wäre. Einige von uns haben sich bereits ins Rentnerleben zurückgezogen, besser: sie haben sich dahin vorgepirscht.

Ich begrüße also in ganz herkömmlicher Weise alle, die es wichtig genug fanden, heute aus dem gegebenen Anlass hierher zu kommen. Wenn die eine oder der andere fehlt, von der der eine oder die andere von uns gehofft hatte, ihn oder sie hier zu sehen, mit ihr oder ihm einen kleinen Schwatz zu halten oder auch nur sich gegenseitig aufs Schulterblatt zu klopfen, dann gehen wir halbwegs schnöde darüber hinweg. Wir gehen davon aus, dass in unserem fortgeschrittenen Alter alle wissen, was sie tun und was sie lassen. Schön, dass Ihr da seid, schön auch, dass Ihr nicht schreiend aus dem Saal rennt, wenn ich schon wieder die Rede halte. Danke für Eure Tapferkeit.

Natürlich habe ich überlegt, was ich sagen könnte. Ich habe meine früheren Reden noch einmal überflogen und gesehen, dass ich den einen oder anderen Satz sagte, den ich für heute bei mir zu Nachnutzungszwecken entleihen könnte. Ich lasse es. Zumal dank der längst nicht mehr ganz modernen „modernen“ Technik, die wir Internet nennen, diese alten Reden nachlesbar sind und bleiben.Wobei es für mich ganz heimlich ein unerklärliches Phänomen ist, dass die Rede zum Gehrener Klassentreffen rasend oft aufgerufen wird, während die beiden zu 35 und 40 Jahre Abitur nur gute Klickzahlen erzielen. Zum Glück ist das rein private Statistik. Auf jeden Fall ist mir eingefallen, was ich sagen könnte, der Rest ist bei Euch. Falls ich also zum 50. Jubiläum 2021 wieder vor Euch stehe, war es heute kein ganz großer Reinfall.

Ich möchte vom Zufall sprechen. Ein bisschen jedenfalls. Also zufällig ist morgen der Tag, an dem sich ein Zusammentreffen zum zweihundertsten Male jährt, bei dem der Namensgeber unserer Erweiterten Oberschule, die nun schon so lange ein Gymnasium ist, eine nicht unerhebliche und zugleich nicht übertrieben ruhmreiche Rolle spielte. Der Witwer Johann Wolfgang von Goethe empfing in seinem Haus am Frauenplan an jenem 25. September 1816 eine 63 Jahre alte Dame aus Hannover, angereist mit ihrer Tochter Klara, zum Essen. Thomas Mann hat aus der Geschichte seinen berühmten Roman „Lotte in Weimar“ gemacht, Egon Günther wiederum aus dem Roman seinen berühmten Film gleichen Titels. Wer morgen meine heutige Rede nachliest, übermorgen geht natürlich auch, wird etwas von mir zum Anlass finden, Rubrik MEIN GOETHE.

Der zufälligere Zufall ist noch ganz frisch. Als ich gestern zu später Stunde aus dem Theater in Gera ins traute Heim zurückkehrte, blieb ich beim Zappen zum Rotwein, es war Kalterersee Classico Superiore aus der Kellerei Erste+Neue, bei einer Talk-Show mit Barbara Schöneberger hängen, die gerade in ein mittelfröhliches Gespräch mit Bastian Pastewka verwickelt war. Ich bleibe normalerweise bei diesen Talkshows so gut wie nie hängen, hier aber doch. Denn Pastewka erzählte, dass er morgen, also heute, zum Abitur-Treffen geht, 25 Jahre. Er sei Abi-Jahrgang 1991, man treffe sich aller fünf Jahre im gesamten Jahrgang. Und es sei immer ganz toll. Barbara Schöneberger hatte die ganze Zeit ihre Augenbrauen begeistert so weit nach oben gezogen, dass es bis zum Haaransatz nicht mehr weit war, alle anderen waren auch begeistert.

Aus unseren Reihen wird es wohl niemand in eine solche Show schaffen, was einfach daran liegt, dass keiner von uns gerade seinen neuen Film in den Kinos anlaufen hat oder ein Buch schrieb über seinen Sieg im Kampf gegen diese heimtückische Krankheit, die, wie die Ärzte unter uns wissen, ja nicht wesentlich heimtückischer ist als andere Krankheiten auch, die halt nur so oft letal ausgeht. In Gera sah ich übrigens „Mutter Courage und ihre Kinder“, darin gab es ebenfalls einige letale Ausgänge. Und ich dachte einen Moment, wie es wohl wäre, wenn ich jetzt einen Schulaufsatz über diesen Brecht schreiben müsste. Erinnert Ihr Euch noch, wie wir „Du kannst nicht neutral bleiben, Teresa!“ aus „Die Gewehre der Frau Carrar“ interpretierten? Das waren Zeiten!

Der gar nicht so große Zufall will übrigens, dass genau dieser Satz in der „Mutter Courage“ auch eine Rolle spielt: der Feldprediger gibt dem Koch, wenn auch etwas widerwillig, recht, als der von früher schwärmt. Keine Sorge, ich werde keine Erörterung zum Thema „In der DDR war auch nicht alles gut“ folgen lassen. Ich erinnere mich zum Beispiel an Thüringer Klöße in einer Gaststätte in Gräfinau-Angstedt, die außen von einer glasig-gelatineartigen Schicht umgeben waren und von in Richtung Gummi tendierender Konsistenz. Dazu die Soße. Mein Schwiegervater hätte meine Schwiegermutter mit ihren und seinen vier Kindern vermutlich verlassen, wenn ihm je solche Soße vorgesetzt worden wäre. Es gab wunderbare Soßen bei meinen Schwiegereltern.

An dieser Stelle muss ich dann doch wenigstens einen halben Gedanken aus meinen früheren Reden aufgreifen: Ich muss mich entschuldigen, dass ich zu viel von mir rede. Ich will also rasch zum zufälligsten der heute beschworenen Zufälle kommen. Mich selbst kann ich dabei abermals nicht ausklammern. Ich las eine Reihe von Monaten freiwillig und lustvoll jeden Tag mindestens einen Text von Erich Kästner. Das ist übrigens eine sehr empfehlenswerte Methode für alle, die immer behaupten, sie hätten einfach keine Zeit zum Lesen. Nehmt Bücher, in denen lauter kleine und kurze Sachen drin sind, da steht sehr oft viel Schöneres als in fetten Romanen und man wird mit ihnen fertig, ehe man es richtig bemerkt hat. Meine inzwischen acht Bücher sind von dieser Art, was selbstverständlich nicht bedeutet, dass das eben schon der Werbeblock war.

Irgendwann kam dann etwas dazwischen und das Kästner-Buch mit dem Titel „Die kleine Freiheit“ blieb liegen, Lesezeichen auf Seite 111, dort beginnt „Das Haus Erinnerung. Ein Vorspiel“. Was will ich Euch sagen? In diesem kleinen Stück treffen sich 43 Jahre alte Herren in ihrem ehemaligen Klassenzimmer. Sie sind inzwischen Rechtsanwalt und Apotheker, Rittergutsbesitzer und Studienrat, Frauenarzt, Zahnarzt, Major im Generalstab. Einer ist Landgerichtsrat, einer Generaldirektor und einer, man staune und sei überrascht, ist Schriftsteller. Sie treffen sich in ihrem ehemaligen Klassenzimmer, weil sie 25 Jahre Abitur mit einer besonderen Schulstunde begehen wollen, sie haben ihren längst pensionierten Lehrer, einen Professor, überredet, mit ihnen eine Schulstunde abzuhalten und hoffen, dass es keine in Latein wird.

Der Professor erfüllt diese Hoffnung zwar, aber er zelebriert dann etwas, was den meisten von uns, selbst denen, die dem Deutschunterricht sonst gar nicht abgeneigt waren, eher unangenehme Erinnerungen wachruft. Er setzt eine Gedichtinterpretation in Szene und seine Schüler, die soignierten Herren, wie Kästner sie nennt, spielen das Spiel erstaunlich tapfer mit. Der Professor behauptet, Titel und Verfasser des Gedichts nicht zu kennen. Es stammt, wen würde das wirklich überraschen, vom Schriftsteller der Klasse, der während der Diskussion zum Erstaunen seiner einstigen Mitschüler sein eigenes Werk mit am heftigsten kritisierte. Am Ende gefragt, warum er das tat, antwortet er: „Mir gefällt der Mann nicht mehr, der es geschrieben hat.“

Mir fällt da sofort ein gewisser Herr Keuner ein, der erbleicht, als ihm jemand sagt, er habe sich überhaupt nicht verändert. Ich will Euch nur ganz wenig aus diesem Kästner zitieren, einer sagt: „Das eigene alte Klassenzimmer ist und bleibt etwas besonderes, etwas anheimelnd Unheimliches.“ Ein andrer sagt: „Der Schwamm wird immer noch zu nass, wenn man ihn unter die Wasserleitung hält.“ Und der Professor, dem natürlich die Aufgabe zufällt, das pädagogisch Wertvolle in Worte zu fassen, der sagt: „Man spricht und hält zuviel von jenem Gedächtnis, das im Oberstübchen wohnt … Und man spricht zu selten vom Gedächtnis des Herzens.“ Um das Gedächtnis des Herzens geht es, ich will das nicht weiter ausbreiten, ehe uns die Rührung übermannt. Oder überfraut.

Liebe Abiturienten des Jahrgangs 1971, es gibt noch einen Satz aus diesem kleinen Fünfzehn-Seiten-Stück, den ich zitieren werde. Es ist ein wunderschöner Satz, den ich in meine Sammlung von Lieblingssätzen aufgenommen habe. Noch kurz Geduld, dann kommt er. Ich will nicht versäumen, den Organisatorinnen und Organisatoren zu danken, allen, die immer auf den Füßen sind, um unsere Treffen möglich zu machen. Ich will uns allen wünschen, dass wir nicht nur heute einen guten Tag miteinander haben, sondern dass noch viele folgen mögen. Zu Goethes Zeiten wurde eine Frau wie Charlotte Kestner, geborene Buff, Matrone geheißen. Ich gehe optimistisch davon aus, dass die meisten von Euch nicht Google bemühen müssen, um zu verstehen, was damit gemeint war. Ganz sicher aber bin ich mir, dass wir, die wir die Jungens waren, die, die die Mädels waren, nicht im Traum jetzt Matronen nennen würden.

Bleibt der schöne Satz: „Die großen Worte verkleinern die großen Dinge.“ Wenn diesen Satz Politiker ernst nehmen würden, würden sie nicht so fürchterlich viele pompöse Leerformeln daher reden. Weil diesen Satz bei Kästner der Schriftsteller sagt, bin ich ziemlich sicher, dass ihn nie jemand in den mehr als 60 Jahren, seit er in der Welt ist, wirklich ernst genommen hat. Das war der melancholische Teil meiner Rede. Ich hoffe, er war kurz genug und alles zusammen nicht zu lang.
Ich danke euch.
Rede zum Treffen des Abiturjahrgangs 1971 der Goetheschule Ilmenau,
gehalten am 24. September 2016


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