Paul Valery: Rede zu Ehren Goethes
Wer immer den alles andere als leichten Weg zu Paul Valery und seinem Werk unternimmt, wird auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die der seinen Lesern bereitet. Er erfährt von überraschenden und sehr langen Schaffenspausen zwischendurch, vom überragenden Einfluss, den Stephane Mallarmé (18. März 1842 bis 10. September 1898) auf ihn ausübte, von der lebenslangen Freundschaft mit André Gide (22. November 1869 bis 19. Februar 1951). Einem breiteren Bewusstsein hat sich, wenn überhaupt, „Monsieur Teste“ eingeprägt, erzählende Prosa in einem Randbereich des Erzählens schon, aber noch lesbar ohne allzu viel Hilfestellung. Schmal sei sein Werk, liest man, was immerhin nicht ausschließt, in der sehr schönen Frankfurter Ausgabe des Insel-Verlages sieben keineswegs schmale Bände in Anspruch zu nehmen. Seit 1925 war Valery Mitglied der Académie francaise, jenem erlauchten Gremium, das seit 1634 existiert und aktuell 40 ständige Mitglieder auf Lebenszeit hat. Nur der Tod macht einen Platz frei für einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin (die erste Frau hieß Marguerite Yourcenar, das war erst 1980). Valery starb am 20. Juli 1945.
Paul Valerys Nachfolger auf Fauteuil 38 war der Chirurg und Literaturhistoriker Henri Mondor (20. Mai 1885 bis 6. April 1962), der der Tradition folgend nach seine Wahl eine Rede auf seinen Vorgänger zu halten hatte. Valery selbst folgte Anatole France (16. April 1844 bis 12. Oktober 1924), der wiederum der Nachfolger von Ferdinand de Lesseps war (19. November 1805 bis 7. Dezember 1894), er ist vor allem als erfolgreicher Erbauer des Suez-Kanals in die Geschichte eingegangen und als erfolgloser Erbauer des Panamakanals. Als Anatole France starb und damit den Sessel Nummer 38 frei machte für Paul Valery, schrieb der frische Paris-Korrespondent Walter Hasenclever: „Muss man unbedingt bei der Vorspeise lesen, dass Anatole France seit Tagen keine Nahrung mehr zu sich nahm?“ Das französische Medienspektakel des Herbstes 1924 nötigte dem einstigen und geheilten Expressionisten aus Deutschland die Folgerung ab: „Es ist tragisch, ein großer Mann zu sein, auf dessen Tod ein ganzes Land wartet.“ Der vorgefertigte Nachruf ist keine Erfindung erst unserer Tage.
Als Paul Valery auf den Sessel 38 gewählt wurde, galt er in Frankreich als der bedeutendste lebende Lyriker, der selten und wenig publizierte, niedrige Auflagen hatte, dafür um so höheren Ruhm bei allen Kollegen genoss. Weil Rainer Maria Rilke und Ernst Robert Curtius Valery-Gedichte ins Deutsche übertrugen, musste seinem Ruhm im deutschen Sprachgebiet kaum nachgeholfen werden. Über „Funktion und Geheimnis der Académie francaise“ hat er sich einmal auch selbst geäußert, nachlesbar im Band 7 der Frankfurter Ausgabe. Sieben Jahre währte seine Akademie-Mitgliedschaft bereits, als er sich der Aufgabe widmete, den hundertsten Todestag von Johann Wolfgang von Goethe in einer Rede an der Pariser Universität Sorbonne zu würdigen. Er trug seine Rede am 30. April 1932 dort vor, fünf Wochen nach dem eigentlichen Todestag am 22. März, was nur in Deutschland für eine Fußnote gut ist. Der in Markkleeberg geborene Verleger Karl Rauch (17. April 1897 bis 13. September 1966) erhielt von Valery selbst die Lizenz für die deutsche Ausgabe der Rede, vertraglich fixiert am 15. September 1942. Der Druck verzögerte sich jedoch wegen der Pressionen, denen Rauch ausgesetzt war. Erst 1947 erschien das schmale Büchlein mit der Lizenz-Nummer 117 der Sowjetischen Militäradministration SMAD in Jena. Dort führte Karl Rauch kurzzeitig seinen Verlag weiter, ehe er in den Westen übersiedelte.
Um das Fazit vorwegzunehmen: Ich kenne nicht wenige gute Goethe-Reden. Mir will aus dem Stand jedoch keine einfallen, die derart ganzheitlich und in einer nur zu bewundernden Souveränität sich ihren Gegenstand vornimmt, obwohl sie eingangs ihre Skrupel nicht verheimlicht. Valery war der deutschen Sprache nicht mächtig, wie er seinen Hörern an der Sorbonne gestand. Und dennoch, wage ich zu behaupten, komprimieren die rund vierzig Druckseiten der Rede in der Karl-Rauch-Ausgabe, sie bilden Heft 2 der Reihe „Zeugnisse europäischen Geistes“ und sind von Fritz Usinger ins Deutsche übertragen (5. März 1895 bis 9. Dezember 1982), mehr Substanz als eine ganze detailreiche Biographie, wie sie etwa Marcel Brion verfasst hat, um einen Franzosen zu nennen. Usinger war nach Hans Schiebelhuth und vor Anna Seghers der zweite Georg-Büchner-Preisträger nach dem Weltkrieg, selbst Lyriker und Essayist und wirkte unter anderem 15 Jahre als Vizepräsident der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, die bis heute die Büchner-Preise vergibt, zuletzt an Rainald Goetz, dessen Show-Bluten zu Klagenfurt 1982 ihn anhaltend berühmt macht. Paul Valerys „Rede zu Ehren Goethes“ zeichnet sich auch dadurch aus, dass die wenig üppige Reihe aufgerufener Namen einen vollkommen ausklammert: Friedrich Schiller.
Was dem unvorbereiteten Ohr haarsträubend klingt, wird dem aufmerksamen Leser der Rede keinesfalls unlogisch erscheinen. Denn Paul Valery wählt einen Zugang zu seinem Gegenstand, der erst einmal verblüfft. „Das, was mich bei Goethe vor allem bewegt, ist dieses sehr lange Leben.“ Es geht ihm natürlich nicht um die schiere Länge, sondern um die Länge in eben der Zeit, die im deutschen Sprachraum gern Goethe-Zeit genannt wird. „Aber diese Masse an Dauer, die Goethe bildet, strömt über von Ereignissen erster Ordnung.“ Aus der Tatsache des Zusammenfallens eines solchen Lebens mit einer solchen Ereignisfülle folgert der Franzose schon in den Auftakt seiner Rede: „Man findet nach ihm nur noch Zeitumstände, die der besonderen und allgemeinen Größe der Individuen immer weniger günstig sind.“ Solche Gunst der Umstände kann problematisch sein, auch das weiß Valery und sagt es ausdrücklich: „Wenn wir durch die Dinge zu sehr begünstigt werden, geschieht es, dass diese Gunst ihre Gefahren für uns hat. Ein von Zartheit erfülltes Leben ist ein im tiefsten bedrohtes Leben.“ Und genau dieser Bedrohung ist Goethe, so sieht es der Gedenkredner, entgangen und keinesfalls unterlegen.
Paul Valery findet einfache und tiefe Superlative zur Beschreibung dessen an Goethe, was dafür verantwortlich war. „Eines der weitesten und umfassendsten Genies, die je erschienen sind … einen der reinsten Versuche dar, uns den Göttern ähnlich zu machen … Die Unerschöpflichkeit gehört zu seiner Natur. … Es war ihm gegeben, sich zu finden, sich zu verlieren, sich wieder zu fassen und sich neu aufzurichten, gleichzeitig Derselbe und ein Anderer zu sein … Goethe, Poet und Proteus, lebt eine Menge von Leben mit Hilfe eines einzigen. …“. Die Aufzählung ließe sich leicht verlängern. Paul Valery sieht in Goethe ein „Genie der Verwandlung“ und an genau dieser Stelle, er wiederholt diese Formulierung sehr bewusst, weicht er sehr entschieden von vielen, auch heute noch oder gerade gängigen Deutungen der Persönlichkeit ab. Dem Genie der Verwandlung entspricht für Valery ein „Genie der Befreiung und der Flucht“. Diese beiden Seiten komplementär gesehen und einer moralischen oder gar moralisierenden Bewertung entzogen zu haben, scheint mir das größte Verdienst dieser mehr als achtzig Jahren alten Rede. Denn die Ganzheitlichkeit der Sicht hat sofort das einzig wichtige Argument für genau diese Sicht bei der Hand: „Nichts hat ihn mehr bewegt als die Fähigkeit der Lebewesen, sich anzugleichen und sich die Formen zu geben, die den Umständen angepasst sind.“
Wer bereit ist, dem zuzustimmen und einer solchen Zustimmung lässt sich kaum ausweichen, wenn man nicht von einem reduzierten Goethe sprechen will, der muss fast umgehend akzeptieren, dass die verschiedenen Dinge, die Goethe in seinem langen Leben tat oder ließ, eben nicht alternativ zu deuten sind in dem Sinne, dass das eine Tun dem anderen die Zeit raubte. Am unsinnigsten ist aus dieser Sicht jede Lesart, die in Goethe am liebsten nur den Dichter sehen möchte und folglich alles, was von Dicht-Zeit abging, auf eine dann freilich sehr lange Verlustliste setzt. Bis heute quälen sich bekennende und unbewusste Anhänger dieser Überzeugungen mit Tatsachen wie der, dass Goethe seine Farbenlehre weit höher bewertete als seine Dichtungen, dass er in der Lage war, unendlich geduldig Beobachtungen anzustellen, nur um sich scheinbar triviale Phänomene zu erklären. Paul Valery hat eine sehr zugespitzte Formulierung gefunden, die seine Deutung auf den Punkt bringt: „Das geringste Blatt hat für ihn mehr Sinn als das Wort … Dieser Dichter schätzt die Worte gering.“ Man sollte den Aufschrei unterdrücken, der hier die einzig mögliche Antwort zu sein scheint. Denn richtig verstanden, stimmt das. Die wahrhaft unbegrenzte Wandlungsfähigkeit Goethes sieht Valery sogar als Beweis, „dass die Verschiedenartigkeit und fast ständige Unvereinbarkeit der Gaben für die Geister höchsten Ranges kennzeichnend ist.“
An dieser Stelle muss auf einen Umstand hingewiesen werden, auf den man immer wieder stößt, wenn man sich der Deutung eines Großen durch einen anderen Großen gleich welchen Gebietes, vor allem aber in den Bereichen Kunst und Literatur, eingehender zuwendet. Die Deuter reden immer auch, manchmal streng genommen sogar nur, pro domo. Das trifft auf Paul Valery in einer Weise zu, als wolle er die These exemplarisch vorleben. Es würde zu weit führen, den Nachweis dafür in aller Breite anzustreben. Stellvertretend dies Zitat aus der Rede: „Die Entdeckung dieser Metamorphose ist für ihn ein großer Ruhmestitel. Sie ist eines der reinsten Beispiele für das Hinüberwechseln des dichterischen Gedankens zur wissenschaftlichen Theorie oder der Erhellung einer Tatsache als Folge einer durch die Eingebung geforderten Harmonie.“ Genau dieses Hinüberwechseln kennzeichnet Valery. Noch ein Zitat: „Es war ihm gegeben, sich zu finden, sich zu verlieren, sich wieder zu fassen und sich neu aufzurichten, gleichzeitig Derselbe und ein Anderer zu sein“ - auch das lässt sich von Paul Valery sagen. Noch deutlicher wird manches, wenn man sich anschaut, was der Schweizer Valery-Kenner Max Rychner in mehreren Bemühungen gefunden hat. Beispiel: „Mit einer Härte ohnegleichen verwirft er sich selber immer wieder.“
In der Goethe-Rede sagte Paul Valery, eine vermeintliche Selbstüberhebung Goethes klärend: „Es ist kein Stolz in einer Zeder, wenn sie sich als den größten Baum aller Bäume erkennt ...“. Und Max Rychner über Valery: „Der Baum, das ist ihm das schönste sichtbare Sinnbild des langsam Wachsenden, der stetigen Verwandlung und Umformung von Kräften der Erde und des Himmels.“ Valery über Goethe: „Die Süßigkeit der Früchte eines Baumes hängt nicht von dem Gesicht der ihn umgebenden Landschaft ab, sondern von dem unsichtbaren Reichtum des Bodens.“ „Dieser Mann der Entwicklung, dieser Theoretiker der langsamen Geschehnisse und des allmählichen Wachstums“, das ist ihm Goethe. Und, auf das spitze Wort vom Misstrauen Goethes gegenüber dem Wort zurückzukommen, diese Aussage Rychners über „Monsieur Teste“: „ Das Genie des Herrn Teste besteht ohne den Drang, sich mitzuteilen. … Dieser Mann misstraut der Sprache.“ In einem Punkt und voller Feingefühl, ohne sich dabei zu spreizen, sieht sich Paul Valery Goethe sogar überlegen: „Die Mathematik fehlt diesem sonst so vollkommenen Kopfe. Goethe ist kein Anhänger der Geometrie.“ Der Lebensgang des Franzosen erhellt, warum er genau das betont. Ihm steht die Mathematik über allen Wissenschaften, wobei ihn eine solche Aussage gar nicht gereizt hätte.
Zwei Aspekte der Rede sollen abschließend Erwähnung finden. Paul Valery hat auch den Liebenden, der Goethe in seinem langen Leben immer war, in seine Deutung eingeordnet: „ … aber lieben heißt für ihn: aus der Liebe alles herausziehen, was die Liebe dem Geiste bieten kann.“ Die Betonung liegt auf „dem Geiste“! „Er opfert darum jede Frau dem ewig Weiblichen.“ Müssen die Schluss-Verse des Chorus Mysticus aus „Faust II“ hierzu eigens zitiert werden? Eine zwanglosere und mühelos tiefe Deutung als diese von Valery ist schwerlich leicht zu finden. Und nun wird es auch niemanden überraschen, dass Paul Valery als letztes großes Projekt seines eigenen Schaffens einen „Faust“ in Arbeit hatte. In seiner Goethe-Rede vom 30. April 1932 findet sich dazu ein frappierender Vorgriff: „Und in der Tat, welche Persönlichkeit, dieser Bonaparte, für einen dritten Faust!“ Den weitesten Raum in der Rede nimmt nämlich die Begegnung von Goethe und Napoleon ein, die faktische in Erfurt 1808, die weit darüber hinaus reichende des Erlebnisses dieser Begegnung. „Goethe ist geschmeichelt bis in den Grund seiner Seele.“ „Napoleon, vielleicht seine größte Erinnerung, dessen Blick immer noch in seinen Augen haftet.“ Man muss eine Abhandlung Valerys aus dem Jahr 1896 kennen, um hier keine frankophone Hybris zu sehen.
Die Arbeit heißt im Band 7 der Frankfurter Ausgabe „Eine methodische Eroberung“, ihre Substanz fasst Max Rychner in dem Satz zusammen: „Noch eine dritte mythische Gestalt hat sich der junge Valery geschaffen: Deutschland.“ Mehr soll dazu hier nicht gesagt werden. Denn den Schluss liefert natürlich die Rede an der Sorbonne: „Im ganzen genommen, bietet uns Goethe ein fast vollkommenes System aus Gegensätzen, eine seltene und fruchtbare Verbindung. Er ist abwechseln ein Klassiker und ein Romantiker. Er ist ein Philosoph, der dem hauptsächlichsten Hilfsmittel der Philosophie, der Analyse des Subjekts, widerstrebt: er ist ein Weiser, der sich des mächtigen Instruments der positiven Wissenschaft nicht bedienen kann oder will; er ist auch ein Mystiker, aber ein Mystiker von besonderer Art, ganz und gar der Versenkung in die Außenwelt hingegeben.“ Und: „Die lyrische Seele in ihm wechselt ab mit der ruhigen und geduldigen Seele eines Botanikers. Er ist Kunstfreund, er ist Schöpfer; er ist Gelehrter und Liebhaber; er vereint Vornehmheit und Treuherzigkeit mit einem Zynismus, den Mephistopheles vielleicht von Rameaus Neffen hat; er weiß eine höchste Freiheit mit der Pünktlichkeit und dem Eifer in seinen öffentlichen Ämtern zu vereinen. Schließlich verbindet er nach Belieben Apollon und Dionysos, das Gotische und das Antike, die Hölle und die Unterwelt, Gott und den Teufel, so wie er in seinen Gedanken die Orphik und die experimentelle Wissenschaft, Kant und den Dämonismus verbindet und jede Sache überhaupt mit einer anderen, die sie widerlegt.“