Wolfgang Frühwald: Goethes Hochzeit

Der kurioseste Satz des Buches steht auf Seite 72 in der Nachbemerkung: „Aus einem Vortrag zu Goethes 200. Hochzeitstag ist der vorliegende Text hervorgegangen, dessen Druck sich Andreas Schlüter, der Generalsekretär des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, gewünscht hat.“ Dieser Andreas Schlüter erscheint, wenn man seinen Namen in die übliche Suchmaschine eingibt, nicht gleich oben, weil ihm ein zwei Jahre jüngerer Schriftsteller gleichen Namens erst einmal die Show stiehlt. Kombiniert man aber suchend seinen Namen mit dem Wort Generalsekretär, das in meinen Wohngegenden freilich einen, nun ja, vorbelasteten Klang hat, dann kommt er sofort mit einem bildschirmfüllenden Foto. Er lächelt, und, ich bin ehrlich, sieht nicht aus wie einer, der sich den Druck von aus Vorträgen hervorgehenden Texten wünscht, nur weil er weiß, dass seine derartigen Wünsche eilends erfüllt werden. Normalerweise ist es mit einem Vortrag erledigt. Manche Vortragenden pilgern mit ihren Goethe-Vorträgen von Ortsgruppe zu Ortsgruppe der altehrwürdigen Goethe-Gesellschaft. Um über Goethes Hochzeit zu sprechen, muss man freilich nicht erst den Mantel ausziehen, denn bereits ganz kurz nach der Begrüßung wäre alles gesagt, was an Sagbarem gesammelt wurde von der unermüdlichen Goethe-Philologie.

Insofern könnte man den Band 1294 der Insel-Bücherei wie eine große Tüte Erdnuss-Flips sehen, auf der Käufer lockend steht: Erdnuss-Flips, darunter, sehr deutlich kleiner: mit 33 % Erdnüssen, und auf der Rückseite, winzig: Mais-Erdnuss-Snack, 58 % Maisgries. Die Verbraucherzentrale würde angesichts dieser Angaben wohl bereits massiv zur Wertung Kundentäuschung neigen, Buchtitel aber dürfen vielleicht mit mehr Nachsicht betrachtet werden. Über Goethes Hochzeit steht jedenfalls in diesem Buch von Wolfgang Frühwald nicht mehr drin als in sechs Dutzend anderer Bücher über Goethe mit beliebigen Titeln, falls sie nur überhaupt die Hochzeit am 19. Oktober 1806 für erwähnenswert halten. Es steht, tut mir leid, das sagen zu müssen, überhaupt nicht ein einziger Satz drin, der überrascht, neu wirkt, vielleicht nur in der prägnanten Formulierung. Es ist so viel Stoff um die Hochzeit gebaut, dass aus dem Vortrag, dessen Ursprungslänge in Druckseiten ich nicht kenne, halt ein Inselbuch geworden ist, gedruckt auf gutem starken Papier mit ganzseitigen Illustrationen. Für alle immer noch sammelnden Inselbuch-Sammler wieder ein Sammelstück. Wer das Buch wie ich mit Blick auf den 200. Todestag von Christiane Vulpius am 6. Juni 2016 liest, muss doppelt enttäuscht sein. Christiane spielt eine fast noch kleinere Rolle als die Hochzeit.

Frühwald beginnt mit den Kapiteln „Nähe des Todes“ und „Krankheit 1805“, danach folgt „Ein Kriegslied“. Auf Seite 18 zitiert er einen Satz, den Goethe zu Johann Heinrich Voß dem Jüngeren gesagt haben soll: „Wenn mir doch der liebe Gott eine von den gesunden Nieren der Russen schenken wollte, die zu Austerlitz gefallen sind.“ Könnte man hier nicht die sicher nur spekulativ oder gar mit Humor zu beantwortende Frage stellen, wie Goethe ausgerechnet auf Russen kommt, es sind ja bei Austerlitz auch andere Landsmänner mit gesunden Nieren gefallen? Wolfgang Frühwald aber teilt mit: „Heute ist dieser Satz in den Wartezimmern von Transplantationskliniken zu lesen.“ Was keineswegs für diese Kliniken spricht, nicht einmal für deren Werbestrategen. Goethe, das wissen wir, konnte mit Tod und Sterben nicht umgehen. Frühwald schreibt es uns noch einmal auf. Schlimmstenfalls wurde er rechtzeitig krank. Ich weiß nicht, was in Wartezimmern von Psychosomatik-Kliniken an Goethe-Sätzen steht. In Karlsbad aber, da suchte Goethe nicht etwa die Nähe der Mächtigen, sondern Heilung von seinen Nierenkoliken? Darüber ließe sich bei Johannes Urzidil manch Kontrafaktorisches nachlesen, einen Lieblingsbegriff von Frühwald zu benutzen. Aber muss ein Buch über Goethes Hochzeit sein Faible für die böhmischen Bäder deuten?

Als beispielsweise die Gattin mit eigener Kutsche in den echten Ehejahren höchstselbst dort einrückte und umging, war Goethe der schöne Aufenthalt arg vergällt. Wie „fern“ Goethe stets den Mächtigen stand, kann man selbst in „Dichtung und Wahrheit“ unfreiwillig deutlich nachlesen: Man schaue, in welcher Reihenfolge in den ersten Büchern die Frankfurter Bekanntschaften vorgestellt werden. Die Nähe der Mächtigen ist ja nun so schlimm nicht einmal für Frühwald selbst, warum sonst hätte er den Generalsekretär erwähnt, der dem 21 Jahre älteren Professor sicher nicht die Gunst entzogen hätte, hätte die Nachbemerkung sich der Erwähnung enthalten. In Zeiten von massenhaft Bezahlverlagen und Book-on-demand-Drucken in noch größerer Zahl ist es ohnehin immer etwas kokett, so zu tun, als hätte man zum Jagen getragen werden müssen. Als wären Bücher nie entstanden, wenn nicht dreieinhalb Freunde so dringend um sie gebeten hätten! Denn kein normaler Verlag verlegt Bücher wegen dreier Freunde des Autors, sondern weil er mit einem Absatz kalkuliert, der unten rechts eine schwarze Zahl erzeugt. Was bei den im Vergleich zum Umfang längst arg teuren Inselbüchern ja sicher nicht mehr als Garantiefall zu gelten hat. Wirklich interessant wäre es gewesen, etwas von Sophie Ernestine Vulpius, von Juliana Auguste Vulpius zu erfahren, die beide als Goethes Hausgenossinnen seit 1791 im ersten Quartal 1806 starben.

Denn Goethes Hochzeit hieß offenbar lange vor ihrem juristischen Vollzug im Sinne von Curth Flatow und seiner ZDF-Serie: „Ich heirate eine Familie“. Schwester der Frau, Tante der beiden Schwestern, dazu dann ja auch noch der Bruder, in dessen Auftrag Christiane überhaupt auf Goethe traf und seine bis dahin völlig ungenutzte Besetzungscouch im Gartenhaus an der Ilm. Ehe aus Todesangst und Ordnungssinn in Zeiten des Chaos, könnte man Wolfgang Frühwalds Ereignis-Deutung resümieren. Ob dazu gleich eine ganze neue Ehe- und Liebesphilosophie destilliert werden sollte, die Goethe mit seinem Verhältnis und Umgang mit Christiane Vulpius angeblich in die Welt brachte, mag ich bezweifeln. Goethe hätte, wenn die gern verschämt verschwiegenen schlesischen Nachrichten stimmen, die junge Mutter nebst Säugling wohl glatt sitzen gelassen und wäre Gatte einer jungen Adligen geworden, um deren Hand er anhielt offenbar ohne die geringsten Skrupel. Literaturprofessoren haben bisweilen wundersame Blickwinkel auf die Welt. Hinten im Buch behandelt Frühwald das Gedicht „Das Tagebuch“ und schreibt: „Doch so wenig sich Goethes sexueller Wortschatz durchsetzen konnte, so lustvoll wurde das Gedicht meist in den Traditionen von Frivolität und Obszönität überliefert.“ Wie um alles in der Welt hätte sich ein Wortschatz denn durchsetzen sollen, den niemand kannte?

Dass der schon ziemlich alte Goethe 1810 sein Schniedelchen „Herr Iste“ nannte, hätte das Aufnahme in den allgemeinen Wortschatz verdient? Das Gedicht wirkt, wenn man es nüchtern liest, nur noch wie in Kuriosum. Da will einer die Kerzen nicht sofort löschen, man kennt das aus der Oswald-Kolle-Aufklärung: ehrbare Väter von sechzehn gesunden katholischen Kindern haben ihre Gattin nie nackt gesehen. Und dieser Tagebuch-Held, der „versagt“? Von welchem Versagen ist denn die Rede, waren beide Partner so naiv und ahnungslos, mit der Situation nicht umgehen zu können? Half tatsächlich der Gedanke an die Gattin zu Hause, wo sie züchtig waltet, Herrn Iste zur Wiederauferstehung, und der Verstand seines eingeschränkt verfügungsmächtigen Trägers zu nunmehriger Enthaltsamkeit? Die Fragen stellen, heißt das Gedicht lächerlich finden und in seiner Aussage als Huldigung an die Verführungskraft der Küchengärtnerin zu Hause sogar eher peinlich. Herr Iste hatte, nach allem, was man über Goethe längst weiß, erst spät seine ersten Einsatzzeiten. Hätte die dralle Christiane, die eigentlich Johanna Christiana Sophie hieß, den frisch aus Italien zurückgekehrten Herrn aus dem Gartenhaus nicht an Faustina erinnert, die wusste, wohin man wie greifen muss, wer weiß, wie Goethes Hochzeit, vor allem: mit wem, zustande gekommen wäre.

Der reale Verlauf muss hier nicht wiederholt werden, die Missgunst in Weimar, Charlotte von Steins krude Eifersucht, das üble Nachreden von Charlotte von Schiller, alles, alles, ist längst bekannt, oft erzählt. Natürlich auch der Tee bei Johanna Schopenhauer (sogar von mir). Dass viel Neid dem Goethe galt, der sein Hauswesen durch die Besetzungstage rettete mit nicht viel mehr Verlust als zwölf Eimern Wein, während Herders Nachlass in erheblichem Maße zerstreut und zerrissen wurde, während „Kunscht-Meyer“ so ziemlich alles verlor und Wieland sehr viel, das gehört in die Erzählung, „zum Narrativ“, wie man heute sagen muss vor feineren Ohren. Warum aber schreibt Frühwald Goethe eine Heldentat zu beim Fürstentag in Erfurt 1808? Es gab dort keine Unterredung Goethes mit Napoleon, sondern eine Audienz beim frühstückenden Kaiser, das ist ein ziemlicher Unterschied. Und ein Angebot, Hof-Historiograph in Paris zu werden, hat Goethe von Napoleon kaum erhalten. Man kann bei Gustav Seibt unübertroffen detailreich nachlesen, was war und was nicht war. Mit der Hochzeit Goethes hat freilich auch das kaum zu tun. Da hilft selbst die Frage nach der „Wahl“ des Hochzeitstages mit vermeintlicher Symbolik nicht, denn überliefert ist, dass Goethe so schnell wie möglich wollte, jener Sonntag also vom Hofprediger Günther abhing.

Wolfgang Frühwalds Fazit am Ende des sechsten, des vorletzten Kapitels lautet: „So trafen 1806 zwei neue Erfahrungen zusammen, um Goethe zu veranlassen, sich der Institution Ehe zu stellen: die panisch schreckhafte Erfahrung der Todesnot, aus der ihn seine Frau errettet hat, und jenes neue Lebenskonzept, das Freude, Liebe und Treue in eins gesehen hat.“ Eine Nummer kleiner geht es offenbar nie, wenn es um Goethe geht: Institution Ehe, Lebenskonzept, als wäre Goethe mehr Schiller und nicht Goethe, der Schauende, dem nicht Ideen vorgehen. Und ob wirklich ein Blick in die Sozialgeschichte von Liebe und Ehe genügt, Peter Hacks und Kurt R. Eissler mit ihren Deutungen und Lesarten uninteressant zu machen, bezweifle ich ausdrücklich und heftig. Selbst wenn sich Goethe nach Schillers Tod erst selbst historisch wurde, war er doch vorher schon ein Verschweiger, ein Verbrenner, ein Arbeiter am eigenen Bild. Und was hätte er ausgerechnet mit einem Gedicht Christiane wohl sagen müssen, was er ihr nicht auch hätte ins Ohr flüstern können, wo doch Christiane nun eben nicht die Welt im Medium des Goetheschen Gelegenheitsgedichts wahrzunehmen gewohnt war? „Goethe hat seine Ehe ernst genommen … hat darauf bestanden, dass seiner Frau in Weimar und anderswo die Achtung nicht versagt wurde, die ihr als der Geheimrätin Goethe gebührte.“ Vor allem war er das natürlich sich selbst schuldig.


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