Franz Grillparzer besucht Goethe in Weimar

Das soll sofort gesagt werden: Die Reise des Wieners Franz Grillparzer (15. Januar 1791 – 21. Januar 1872) nach Deutschland wäre auch dann von großem Interesse, wenn er nicht in deren Verlauf am Frauenplan in Weimar empfangen worden wäre. Und das keineswegs nur, weil diese Reise mit einem Achsenbruch begann wie zehn Jahre früher Goethes Reise in die Rheingegenden. Denn während Grillparzer die Panne als Glück empfand und sich über die unfreiwillige Pause freute, nutzte Goethe den Sturz bei Mönchenholzhausen zu sofortiger Umkehr. Das Ausbleiben jeglichen Versuchs, den Ausfall durch einen neuen Start unwichtig zu machen, spricht Bände, Bad Tennstedt profitierte davon und ein Wiedersehen mit Marianne von Willemer unterblieb. Grillparzer aber meditierte über einen Dorfschmied, dem die gebrochene Achse aufgefallen war, der aber in so schlechtem Ruf stand, dass man seine Warnung ignorierte und bis zum Unfall weiter rollte. Das Geschäftsgebaren des Schmiedes erinnert an bestimmte heutige Werkstattketten, die bestimmte Dienstleistungen kostenlos anbieten und dann besonders gern ahnungslosen Kraftfahrern akute Fahruntüchtigkeit ihres Gefährts bescheinigen und sich zu sofortiger Abhilfe anbieten.

Grillparzer singt ein Hohelied auf Prag, bekennend, dass er eigentlich auf die goldene Stadt sauer sein müsste, weil sie seinem Drama „König Ottokars Glück und Ende“ ungünstige Aufnahme bereitet hatte. Es ist mehr als nobel, sich von dieser Erfahrung den Blick nicht trüben zu lassen, manch einer kann eine Stadt und Gegend nur deshalb wenig leiden, ich spreche pro domo, weil er dort eine Uniform hatte tragen müssen. Den Strom Moldau sieht er „ebenso seicht, als er breit ist“ und schließt daran seine Hoffnung: „Verhüte Gott, dass er je ein Symbol der Nationalbildung sei!“ Was für ein frommer Wunsch! Dass Grillparzer offensichtlich kein ambitionierter Philosemit war, erhellt aus der Notiz: „In der Judenstadt gewesen. Schmutz, Schmutz, Schmutz! Man begreift, warum dies Volk keine Schweine isst, es wäre eine eigentliche Hypophagie.“ Schon die beiden Juden in seinem Reisewagen hatte er knapp mit „Höchst unangenehm.“ charakterisiert. Immerhin ruft er sich selbst zur Ordnung: „Eigentlich sollte man über kein Volk aburteilen, bevor man es nicht in seiner Heimat gesehen hat. Ist nicht der Italiener, daheim klug wie keiner, in der Fremde häufig die eigentlichste Karikatur?“ Tja, liebe Italien-Freunde, schreibt posthume Leserbriefe.

Vom 25. zum 26. August übernachtete Grillparzer in Teplitz, das er Töplitz nennt, vermutlich nicht ahnend, dass Goethe hier in den Jahren 1810, 1812 und 1813 nicht wenige Tage verbrachte. In Gießhübel bringt ihn die dort gesprochene Sprache in Rage. Die Notizen vom 27. August beginnen folgerichtig mit der Ortsmarke „Drääsden“ und hier wird er richtig giftig: „Nichts kann dem unangenehmen Gefühle verglichen werden, mit dem ich mich hier empfinde. Diese quäkenden Frösche mit ihrer äußern Höflichkeit und innern Grobheit, mit ihrer Bereitwilligkeit und Tatlosigkeit, ihrer schwächlichen Großtuerei, all das ekelt mich an.“ Einige Zeilen, nachdem Grillparzer noch die für seine Ohren unerträgliche Sprache abgekanzelt hat, hält er fest: „Indem ich schreibe, werde ich ruhiger.“ Schon in Dresden schwant ihm: „... bei Goethe wird mir Bangigkeit ankommen.“ Zunächst aber besucht Grillparzer Tieck und der liest Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ vor. Das erste, was der Wiener dann an Goethes Geburtstag notiert (der ihm bei allem jedoch nicht in den Sinn kommt): „Konnte nachts nicht schlafen. Der kleine Kerl mit seiner Vorlesung hatte mich ganz wirblicht gemacht.“ Dann begeistert ihn die Gemäldegalerie.

Die Reise geht weiter nach Leipzig, der Reisende wagt einen wilden Vergleich: „Leipzig hat einen offenbaren Vorzug vor Dresden, nämlich die wunderbare Anzahl hübscher Mädchen, die hier auf den Straßen herumlaufen, indes das weibliche Geschlecht in Dresden zu dem unbegabtesten gehört, die mir noch vorgekommen.“ Er benennt einen Teil seines Reisezweckes darin, „die namhaftern Männer kennenzulernen, und ich besuche sie mit einer Art Pflichtgefühl, aber nur, damit ich dort war, nicht als ob es mir Vergnügen machte, hinzugehen.“ Dass er selbst alles andere als unbekannt war zu dieser Zeit, verrät er indirekt, als er von seiner Ankunft in Weimar berichtet und wie sich das rasch herumsprach. Selbst der Herzog wollte ihn sehen und sprechen. Immerhin hatte das Hoftheater, schon nicht mehr unter Goethes Intendanz, die „Sappho“ mit Erfolg aufgeführt, es sollen sogar sechs Dukaten Tantiemen an Grillparzer geflossen sein. Von Leipzig aber geht es erst einmal über Wittenberg gen Berlin. Schon am 6. September zieht es ihn wieder nach Hause: „... in Weimar den alten Dichterkönig sehen, zu dessen Untertanen ich einmal gehörte, in München die Galerie, dann nach Wien, um auszuhalten, es komme, was wolle.“

Was aber kam, erlaubte in einem anderen Medium als diesem die Schlagzeile: Goethe Opfer eines Rasierunfalles. Noch unter dem 6. September steht zu lesen: „Habe mir mit dem Barbiermesser den Zeigefinder der rechten Hand halb gespalten, muss daher mit der Schreiberei für einige Zeit aussetzen.“ Nichts mehr über dürftige Berliner Speisekarten, auch nichts mehr über sich aufs Haar gleichende Juden, der Text leitet zu einem längeren Auszug aus der „Selbstbiographie“ von 1853 über und bezeichnet das ganze Dilemma: „Da mein Finger sich immer verschlimmerte und der Wundarzt mir zuletzt alles Schreiben verbot, so will ich jetzt versuchen, abgerissen aus dem Gedächtnisse nachzutragen, soviel ich vermag.“ Im Klartext: Wir besitzen kein authentisches Zeugnis von Grillparzers vier Tagen in Weimar, wenn wir von den spärlichen fünf Tagebuch-Eintragungen Goethes absehen. Von Grillparzer selbst gibt es einen auf den 5. Oktober datierten Brief aus Coburg an die ewige Braut Katharina Fröhlich (10. Juni 1800 – 3. März 1879), von Goethe einen langen Brief an Carl Friedrich Zelter von 11. Oktober 1826 mit einem ganz kurzen Verweis auf Grillparzer. Ansonsten eben die „Selbstbiographie“, 27 Jahre später geschrieben.

Die Goethe-Notate werden hier in ihrer Reihenfolge wiedergegeben: „Fräulein von Jakob. Den Thee auf heute Abend mit Ottilien besprochen. Schmellern gesessen. Mittag Dr. Weller. Jenensia besprochen. Blieb für mich, das Nächste durchzuarbeiten. Abends großer Thee. Professor von Jakob und Tochter aus Halle. Grillparzer von Wien. Von Froriep von Dresden, von der Naturforschenden Gesellschaft angelangt, Facsimile der Unterschriften bringend.“ (29. September) „Mittag große Gesellschaft. Herr Grillparzer und an ihm theilnehmende Freunde. Abends für mich. Sodann mein Sohn. Über künftige Dinge gesprochen und festgesetzt.“ (1. Oktober) „Herr Schilters, um Abschied zu nehmen. Herr Grillparzer gezeichnet von Schmeller. Gräfin Julie Egloffstein. Skizzen zu meinem Porträt. Mittag zu drey. Die Quellen von Susquehanna fortgesetzt. The quarterly Review, June 1826.“ (2. Oktober) „Canzler von Müller die Bronzmedaille bringend, einiges wegen Grillparzer besprechend. Letzterer Abschied nehmend. Man giebt ihm zu Ehren ein Mittagessen auf dem Schießhause. Mein Sohn wird auch dabey seyn.“ (3. Oktober) „Herr Canzler, das weitere über Grillparzer besprechend, auch ein Gedicht von ihm bringend.“

Das sagt fast nichts, Grillparzers Rückblick aber liefert wenigstens Aufschlüsse dazu. Am 2. Oktober richtete Goethe kurze Zeilen an Friedrich Theodor von Müller: „Käme Hr. Grillparzer heute früh um eilf Uhr zu mir, so würde er Schmellern finden, bereit uns sein Bildniß zu erhalten. Das Übrige im Laufe des Tags.“ Im Brief an Zelter schließlich steht: „Grillparzer ist ein angenehmer wohlgefälliger Mann; ein angebornes poetisches Talent darf man ihm wohl zuschreiben, wohin es langt und wie es ausreicht, will ich nicht sagen. Daß er in unserem freyen Leben etwas gedrückt erschien, ist natürlich.“ Warum die Autoren des Buches „Europäisches Österreich“ 2004 behaupten, Goethe hätte Grillparzer den Hofmaler Johann Joseph Schmeller (12. Juli 1796 – 1. Oktober 1841) ins Hotel geschickt, obwohl doch Grillparzer ausdrücklich ins Goethehaus gebeten wurde, bleibt unerfindlich. Unerfindlich auch, warum Rose Unterberger in ihrer großen Goethe-Chronik im Insel-Verlag noch einen Grillparzer-Besuch am 10. Oktober erfindet, als der Wiener schon im wahrsten Sinne über alle Berge war. Am 2. Oktober jedenfalls, der Maler war noch nicht da, wurde Grillparzer in den Hausgarten geschickt und traf auf den gebeugten Goethe.

Seiner Braut Katharina berichtete Grillparzer aus Coburg: „Der alte Goethe war von einer Liebenswürdigkeit, wie seine Umgebungen seit Jahren sich nicht erinnern ihn gesehen zu haben. Ich speiste bei ihm und musste eine zweite Einladung darum leider ablehnen, weil ich bereits versagt war.“ Das liest sich in der „Selbstbiographie“ ein wenig anders. Fast identisch dagegen, nur mit anderen Worten, gesteht Grillparzer: „... mich befiel jedesmal eine solche Rührung, wenn ich ihn sah, dass ich beinahe meiner nicht Herr war und alle Mühe hatte, nicht in Tränen auszubrechen. Einmal geschah es auch, trotz alles Widerstrebens, als mich der alte Mann an der Hand fasste, ins Esszimmer führte und mit einem herzlichen Drucke an seine Seite hinsetzte. Die Wirkung, die er auf mich hervorbrachte, war halb wie ein Vater und halb wie König.“ Im späten Rückblick weist Grillparzer noch auf den großen Takt Goethes hin, der den zu Tränen gerührten Gast so führte, dass es möglichst wenig auffiel. „... da kam einmal wieder Knabe in mir zum Vorschein, und ich brach in Tränen aus. Goethe gab sich alle Mühe um meine Albernheit zu maskieren.“ Am feinen Unterschied der Schilderung kann man erahnen, wie späte Wertung Erinnerung spürbar umfärbt.

Deshalb ist Rudolf Walbiner unbedingt zuzustimmen, wenn er schrieb: „Man muss es wirklich bedauern, das uns über Grillparzers Besuch in Weimar eine unmittelbare Schilderung fehlt ...“. Solches Bedauern darf man getrost auch auf Goethes „Dichtung und Wahrheit“ richten, aber das nur nebenbei. Grillparzer also stieg im „Hotel zum Elephanten“ ab, nannte es 1853 dann aus souveräner Distanz das „Vorzimmer zu Weimars lebender Walhalla“, ein Kellner trug seine Karte zum Frauenplan, ob es der um zehn Jahre gealterte Kellner Mager war, wissen wir nicht, und Goethe ließ zum Abendtee bitten. „Schwarzgekleidet, den Ordensstern auf der Brust, gerade, beinahe steifer Haltung trat er unter uns wie Audienz gebender Monarch.“ Grillparzer kehrt mit unangenehmer Empfindung ins Hotel zurück. „Aber das Ideal meiner Jugend, den Dichter des Faust, Clavigo und Egmont als steifen Minister zu sehen, der seinen Gästen den Tee gesegnete, ließ mich aus all meinen Himmeln herabfallen.“ Der erste Oktober bringt das tränenreiche Mittagessen. Weder bei Goethe noch aus der späten Erinnerung Grillparzers erfahren wir, wer die „theilnehmenden Freunde“ waren im gastfreien Haus, „nicht als die allgemeinen Eindrücke“ behielt leider der Gast.

Hübsch immerhin ist die Anekdote vom Brotkrümel aufsammelnden Goethe: „Da tippte er mit dem Finger auf jedes einzelne und legte sie auf ein regelmäßiges Häufchen zusammen.“ Die Aufforderung, sich malen zu lassen, erhält Grillparzer schon beim Abschied, offenbar noch ohne genauere Zeitangabe, die dann erst das Billett vom nächsten Tag angibt. Im Hausgärtchen sieht Grillparzer einen Goethe, der sein Alter nicht durch steife, aufrechte Haltung zu kaschieren sucht: „Sein Anblick in dieser natürlichen Stellung, mit einem langen Hausrock bekleidet, ein kleines Schirm-Käppchen auf den weißen Haaren hatte etwas unendlich Rührendes. Er sah halb wie ein König aus und halb wie ein Vater.“ Seine eigene Formulierung aus dem Brief an Katharina Fröhlich scheint ihm noch geläufig gewesen zu sein. Grillparzer demonstriert unbewusst, wie Gedächtnis funktioniert. Das für Dritte Wichtige ist eben selten oder nie auch das für den Betroffenen Wichtige. Der erste Oktober hätte auch den Abend gebracht, bei dem Grillparzer allein bei Goethe gewesen wäre. Hier aber verließ in aller Mumm. Seine umfangreiche Selbstrechtfertigung 1853 ist vielleicht noch stärker als alles andere von der verflossenen Zeit seither geprägt. Sie wird hier ausgeklammert.

Am zweiten Oktober aber verabschiedet sich der Gast aus Wien zur Weiterreise in Richtung München. Ob der Großherzog tatsächlich versuchte, ihn an sein Hoftheater zu locken, als beide im so genannten römischen Hause sich trafen, wissen wir nicht. „Als ich am vierten Tage meines Aufenthalts von Goethe Abschied nahm war er freundlich aber abgekühlt.“ Von einem mehr als vierzig Jahre Jüngeren einfach versetzt zu werden, hatte ganz sicher sein Fassungsvermögen herausgefordert. „Am Tage meiner Abreise gab mir das sämtliche Weimar einen Abschiedsschmaus, zu dem Goethe auch seinen Sohn hinausgeschickt hatte.“ Es war, siehe Goethes Tagebuch, ein Mittagessen. Was Goethe zweimal noch mit Kanzler von Müller Grillparzer betreffend besprochen hat, wissen wir leider auch nicht. Dafür aber, dass der Österreicher bei Kahla beinahe samt Wagen und Kutscher in die Saale gestürzt wäre. Dafür aber, dass Franz Grillparzer später, sein Gastgeber war längst nicht mehr unter den Lebenden, dessen Enkelin Alma ein Gedicht widmete. Sie starb, verrückter Zufall, am 29. September 1844 in Wien, im Alter von noch nicht ganz 17 Jahren, auf den Tag 18 Jahre, nachdem ihr Großvater diesen Dichter in Weimar empfing.


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