Goethes Tagebuch im Vortrag
Ilmenau. Goethes Tagebücher lagen lange fast vollkommen außerhalb des Blickfelds der Germanistik, bis heute hat sich trotz einiger fundierter Publikationen die Situation nicht grundlegend gewandelt. Helmut Koopmann, Jahrgang 1933, lange Jahre Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg, begann seinen Vortrag im GoetheStadtMuseum mit nüchterner Bestandsaufnahme. Und überraschte vom ersten Satz an alle, die ihn nicht schon im vorigen Jahr in Stützerbach gehört hatten zum Verhältnis von Goethe und Charlotte von Stein, mit einem hochkonzentrierten, ins letzte ausformulierten und rhetorisch fesselnd vorgetragenen Text zu einem durchaus auch sperrigen Thema.
Was heute modern Textsorte genannt wird unter dem Etikett Tagebuch, ist in seinen tatsächlichen Ausprägungen bei Goethe ein arg heterogenes Phänomen. Und der Vortragende ließ daran von Beginn an keinen Zweifel. In immer neuen Sätzen sagte Helmut Koopmann, was Goethes Tagebücher nicht sind. Solche Sätze sind nie nur Aussagen darüber, wie ein Befund aussieht. Sie sind immer auch Beschwerden bei Goethe, was er aus der Sicht der Literaturgeschichte und Literaturtheorie in und mit seinen Tagebüchern versäumt hat. Helmut Koopmann kritisierte seine Kollegen nicht, die anfangs sicher vornehm, später wohl mehr aus Verlegenheit den Tagebüchern wenig bis keine Aufmerksamkeit schenkten. Noch seine Lehrer, so der Emeritus, hätten nicht im Traum daran gedacht, die Tagebücher überhaupt lesen zu müssen. Es sei immer um das Werk im engeren Sinne gegangen.
So gibt es, jeder, der auch nur einen knappen Blick in eine Goethe-Bibliographie wirft, weiß das, ganze Eisenbahnwaggons voller Faust-Literatur. Je undurchsichtiger ein fast hermetisches Goethe-Gedicht, umso exorbitanter die Interpretationsflut, aber zu bisweilen fast stupiden Notaten wie eben in den Tagebüchern gar nicht so selten, da will einem guten Philologen nichts einfallen, sogar wenn das Goethe tatsächlich selbst und nicht einer seiner beauftragten Sekretäre notiert hat. Und so gab Helmut Koopmann mit seinem eigenen Vortrag eine Antwort auf die explizit eher ausweichende beantwortete Frage, warum denn die Germanistik den ziemlich weißen Fleck Tagebücher sich selbst erlaubt hat. Sie bieten immer dann am meisten Stoff, wenn sie am wenigstens echte Tagebücher sind.
Immer, wenn er weg gehen konnte vom Goethe-Tagebuch im engeren Sinne, weg auch von den späten Tag- und Jahresheften noch, dann wurde er ausführlich, dann schilderte er, malte aus, machte neugierig. Seine Ausführungen zu Goethes Briefwechsel mit Auguste von Stolberg, dem berühmten „Gustchen“, es ist ja nur ein dünner, sehr dünner Briefwechsel, über dessen Substanz kaum nennenswert mehr zu sagen wäre, als Koopmann sagte, waren beinahe Thema im Thema. Wenig später derselbe Effekt bei dem Briefwechsel mit Charlotte von Stein und dem zunächst an sie addressierten italienischen Tagebuch. Koopmanns eigenes Buch, siehe voriges Jahr in Stützerbach, stand hier natürlich Pate. Ob auch Goethes „Autodafés“ zu den Lücken im Korpus beigetragen haben könnten, wäre eine Überlegung wert gewesen. An der eindrucksvollen Qualität des Vortrags macht kein Einwand einen Abstrich. Helmut Koopmann soll wiederkommen.
Zuerst in: Thüringer Allgemeine, 28. April 2012 , Unterzeile: Helmut Koopmann weckte Neugier auf eine weniger bekannte Textsorte; Manuskriptfassung