225 Jahre: Goethe, ein Spion

Hätte Goethe jedem einzelnen Tag seiner Italien-Reise so viele Zeilen gewidmet wie diesem einen, das Werk dazu würde uns heute mit rund 4000 Druckseiten wohl eher abschrecken als erfreuen. So aber ist Detailfreudigkeit diesen Ausmaßes eher die große Ausnahme und es lohnt sich, bei nur sechs Seiten (in meiner Ausgabe) zu verweilen. In aller Herrgottsfrühe ist Goethe in ein Boot gestiegen, es hatte Segel und ebenso Ruder und der Weg führte ihn von Torbole auf den Gardasee in Richtung Limone. Wer den kleinen Hafen von Torbole am nördlichen Ende des Sees kennt, der heute natürlich nicht mehr aussieht wie am Ende des 18. Jahrhunderts, kann sich dennoch eine gewisse Vorstellung machen vom Ablegen dazumal. Der See ist hier schmal, man sieht Riva gleich rechts, oberhalb liegt Nago mit engen Gassen und einem steilen Weg nach unten.

Goethe hat Limone vom Boot aus beschaut. An Land war er nicht, wir wissen also nicht, ob auch damals schon die Einwohner die echten Zitronen an ihren Steilhängen mit kunsthandwerklichen und künstlerischen Darstellungen ergänzten. Wohl aber wissen wir, dass der Wind plötzlich drehte und die Manövrierfähigkeit des Bootes und seiner beiden Ruderer offenbar nicht so ausgeprägt war, dass sie viel mehr als eine Notlandung zustande brachten. Immerhin, die Notlandung erfolgte in Malcesine und wer weiß, ob ohne das eher zufällige Geschehen auf dem Wasser heute auf der Scaliger-Burg mit ihren charakteristischen Schwalbenschwänzen die kleine Büste stehen würde, die Goethe so zeigt, wie ihn die Welt kennt vom Tischbein-Gemälde her, liegend, mit der Camapgna im Rücken. „Goethe 1786“ steht auf dem Sockel, mehr nicht.

„Wenn man mit dem Wasser zu tun hat, kann man nicht sagen: ich werde heute da oder dort sein.“ Als zehrte er von großen Seemanns-Erfahrungen, schreibt Goethe das nieder und es ist eines der kleinen Signale, die anzeigen, dass die Schrift, die heute als „Italienische Reise“ in drei Teilen bekannt ist, viele Jahre nach dem reellen Erleben erst Gestalt gewann. Am jenem 13. September aber hatte Goethe noch kein Meer gesehen. Mit Seen des Alpenraums kannte er sich dafür gar nicht so schlecht aus. Hatte er doch während der ersten Reise in die Schweiz den Zürichsee von Richterswil aus überquert, die zweite Schweizer Reise führte ihn an und über den Bieler See, den Thuner See, den Brienzer See, er sah den Neuchateler und den Genfer See. Grenzerfahrungen speziellerer Art konnte er damit jedoch nicht sammeln. Jetzt plötzlich war er auf venezianisches Gebiet geraten, von österreichischem kommend und das brachte Komplikationen, die Goethe freilich spürbar übertrieb. In die uns überlieferte Fassung der Darstellung seiner See-Reise aber sind Mittelmeererfahrungen eingeflossen, das sagt der zitierte Satz eben auch, Neapel, Sizilien und zurück. Das lässt sich nachlesen.

Goethes Aufenthalt in Malcesine muss ihm noch lange später als seiner Person schmeichelnd vorgekommen sein. Fast episch malt er aus, wie ihn beim Zeichnen des Turmes eine immer größer werdende Menge von Menschen umringte, wie ihm geboten wurde, das Zeichnen umgehend zu unterlassen und einer sogar sein Blatt zerriss, es aber nicht konfiszierte. Goethe vergleicht die „fremde Volksmasse“ nicht sofort verständlich mit dem „Chor der Vögel“ und sieht sich selbst dabei als „Treufreund“ auf dem Ettersburger Theater. Für dessen Liebhaberaufführungen hatte er zu Hause „Die Vögel“ des Aristophanes eingerichtet und selbst die Rolle des Pisthetairos übernommen, des Mannes, der mit seinem Freund ein Wolkenkuckucksheim einrichten will auf einer Ebene zwischen Menschen und Göttern. Der Name wird heute freilich eher mit „Ratefreund“ und nicht mit „Treufreund“ übersetzt.

Goethe schildert sich genussvoll als beredten und schlagfertigen Mann, der den Bürgermeister (Podesta) und seinen Acturarius buchstäblich schwindlig redet. Dennoch sieht er sich dem Verdacht ausgesetzt, ein Spion zu sein und die Festung auskundschaften zu wollen, die ihm selbst untypisch frei zugänglich und ungesichert erschien, was er denn auch als starke Argumente geltend macht. Den Kopf aus der freilich nicht wirklich bedrohlichen Schlinge zieht er dennoch erst, als ein Mann  herbeigerufen wird, der in Goethes jüngeren Jahren in Frankfurt am Main war. Goethe, sonst keineswegs rasch mehr bei der Hand, sich einen Frankfurter zu nennen, was ihn trotzdem nicht hinderte, erst sehr spät und aus ziemlich profanen Gründen sein dortiges Bürgerrecht niederzulegen, wird herrlich zufällig mit gerade diesem Italiener konfrontiert, der selbst längere Zeit in der Messestadt lebte und dort Geld verdiente.

Nun ist es verblüffend, wie Goethe offensichtlich mit sämtlichem Klatsch und Tratsch seiner fernen Vaterstadt vertraut ist, die er vor zehn Jahren gen Weimar verließ, wie er italienische Familiengeschichten in Erinnerung rufen und deren Fortsetzungen erzählen kann. Was den Angesprochenen stark beeindruckt und die lauschende Menge ebenso, die sich alles übersetzen lässt. Goethe überlässt es seinen Lesern sich auszumalen, von wem und auf welchem Wege er das alles erfuhr und ob sein Detailgedächtnis für diese Wendungen und Verflechtungen tatsächlich so groß war. Ihm kommt innerlich alles sehr lächerlich vor, was ihn für sich selbst über die Menge des Volkes erhebt. Und der Mann, der ihm wegen seiner Frankfurter Anekdoten vertraut, belehrt auch umgehend den Bürgermeister mit geschäftstüchtigem Weitblick. Wenn Goethe, so meint er, seinen guten Eindruck von Malcesine verbreite, würde der Ort davon profitieren. Dass auch hier Goethe seine in Malcesine vollkommen unbekannte Bedeutung ganz selbstverständlich voraussetzt, sei nur
der Vollständigkeit halber erwähnt.

Heute profitiert Malcesine wie alle anderen Orte, an denen Goethe jemals nachweislich war, völlig unabhängig von dem, was er darüber sagte oder schrieb, von dessen knapp eintägiger Anwesenheit. Kein Reiseführer, der den Namen ausspart. „Der Wirt, bei dem ich eingekehrt war, gesellte sich nun zu uns und freute sich schon auf die Fremden, welche auch ihm zuströmen würden, wenn die Vorzüge Malcesines erst recht ans Licht kämen.“ Gustav Klimt hat Malcesine unnachahmlich gemalt, das Bild hängt hinter meinem Platz in unserem Speisezimmer. Diesen 13. September 1786 muss man sich natürlich nicht unbedingt merken. Der Stein, auf dem Goethe vermutlich saß beim Zeichnen, hat sich in 225 Jahren kaum verändert seither. Wie es eben die Sache von Steinen ist. Nicht zuletzt deshalb mochte auch Goethe sie, denn sie neigten anders als Menschen nie zu revolutionären Intentionen und sprunghaften Entwicklungen.


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