Dürrenmatt: Der Doppelgänger

Es ist wichtig zu wissen, dass dieses Spiel in seinen wesentlichen Teilen aus dem Jahr 1946 kommt, nur eine eher periphere Erweiterung soll es noch 1952 gegeben haben. Gedruckt mit Illustrationen erschien es als Buch 1960 im Verlag Die Arche, danach im Rahmen der Großen Werkausgabe 1980. Was dem Leser 1980 wie Moderne von gestern vorkam, war tatsächlich Moderne von gestern. Unmittelbar nach dem Krieg übte Thornton Wilder (1897 – 1975) einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf jene Autoren aus, die bestrebt waren, Anschluss zu gewinnen an die Entwicklungen, die sich zwischen 1933 und 1945 außerhalb Deutschlands vollzogen hatten und noch vollzogen. In der Schweiz hatte deutscher Nationalsozialismus zwar keine Herrschaft ausgeübt, aber Wirkungen hinterlassen, zuerst natürlich die einfachste der Bedrohung, dann aber auch jene schwer messbare, die sich in vorsorglichen Anpassungsübungen niederschlägt, Taten verhindert oder in andere Richtungen ablenkt. Die Weltsicht des noch jungen Dürrenmatt bei Kriegsende und kurz danach kann hier nicht entfaltet werden, nur so viel: Schuld und Gnade bewegten ihn nachhaltig. Thornton Wilder aber hatte mit seinen Einaktern und vor allem den großen Bühnenerfolgen von „Wir sind noch einmal davongekommen“ und „Unsere kleine Stadt“ seine Dramaturgie des epischen Theaters einem Publikum nahe gebracht, das aus unterschiedlichen Motiven heraus nach Neuem hungerte.

Wenn das Spiel „Der Doppelgänger“ also im Dialog zwischen Schriftsteller und Regisseur anhebt, dann ist das nicht Rahmenhandlung mit folgender Binnenhandlung. Es ist genau jenes Spielmuster, das Wilder entwickelte mit seinem Stage Manager, sprich: Spielleiter, der beliebig in die Handlung eingreifen kann, unterbrechen, neu starten lassen, der auch in diesem Falle und sogar im Dialog mit dem Autor zu neuen Resultaten gelangt. Letzteres gibt es bei Wilder auf der Ebene des Spielleiters nicht. Auf diese Weise kann der junge Autor Dürrenmatt auch einen Werkstattblick ermöglichen und zeigen, worauf es Autoren, worauf es Regisseuren ankommt, wo die Felder sind, auf denen sie sich leicht verständigen, wo bei anderen Beharren dominiert. Der Schriftsteller sagt zu seinem Gesprächspartner: „Es ist eine dunkle Geschichte, die mir auf dem Herzen liegt, und eine seltsame, doch muss ich gestehen, dass ich nicht viel mehr von ihr weiß als das Motiv. Es macht dies aber nichts: Eine Handlung stellt sich immer zur rechten Zeit ein.“ Wohl dem Schriftsteller, der das von sich behaupten kann. Die Geschichte der Bühnenliteratur ist voll von Beispielen, die mit Abbrüchen endeten, mit vergeblichen Versuchen, Fäden fortzuspinnen oder solche überhaupt zu spinnen. Der Schriftsteller zum Regisseur: „Es ist nur dreierlei bedeutend: Die Nacht um ihn, die Einsamkeit seiner Seele und der Abgrund des Schlafes, in den er versunken.“

Die Rede ist von dem Mann, der zunächst keinen Namen hat: „Vor ihm, dem Schlafenden, zwischen dem Licht und dem Bett sitzt sein Doppelgänger, der ihn betrachtet, als dunkler Schatten vor der schwach brennenden Lampe.“ Er könnte sagen: „Mein Name ist Franz, Franz Kafka.“ Tatsächlich aber verkündet er dem Mann sein Todesurteil und sagt: „Das hohe Gericht bestimmte, dass es Ihnen zukomme, meine Schuld zu tragen und für mich zu sterben.“ Der Regisseur findet das Doppelgänger-Motiv suspekt, der Autor verteidigt es: „Ich weiß von der Ehrfurcht, mit der ein solches Motiv behandelt sein will.“ Darüber liest man weg, aber es ist eine These: Das zweitausend Jahre alte Motiv des Doppelgängers will, nicht soll, mit Ehrfurcht behandelt werden. So platziert einer seine Botschaften. Er weiß, dass sie überlesen werden, er freut sich, dass er es weiß und er ärgert sich dennoch, dass es passiert. Im Spiel gibt es keine unverkennbaren Rückverweise auf die Motivtradition. Klar ist nur, dass einer die Schuld des anderen zu tragen hat, also von Beginn zweifelsfrei scheint, dass der Mann tatsächlich unschuldig ist. Der Doppelgänger spricht von Versuchung: „Sie hätten meine Tat begangen, wenn Sie versucht worden wären, wie ich versucht wurde.“ Das wiederum behauptet, eine Tat werde begangen, wenn die Versuchung dazu nur hinreichend groß ist. Das hat 1946 sehr konkreten Kontext, den das Spiel aber ausblendet.

Der Doppelgänger bringt den zum Tode verurteilten Mann in ein Haus, in dem beide eine Frau treffen, die zunächst ebenfalls keinen Namen hat. Vorher wird ein Stück Dialog zwischen beiden Männern wiederholt, weil der Autor ihr Sprechen für zu pathetisch hält, zu gefühlvoll. Der Doppelgänger sagt dem Mann voraus, er werde einen Mord begehen, auch wenn er sich jetzt noch unschuldig fühle: „Was wissen Sie von dem, was in Ihnen verborgen ist? Wer kennt sich selbst?“ Auch die Frauenstimme missfällt dem Schriftsteller und es kommt eine andere zum Einsatz. Der Mann erfährt, dass er in ihrem Auftrag den Doppelgänger töten soll, weil der nur sich selbst liebt. Der den Mord, für den der Mann unschuldig büßen soll, auch auf Verlangen seiner Frau beging. Das potentielle Mordopfer hat sich offenbar mit seinem Schicksal angefreundet, vollzogen wird es mit vergiftetem Wein, den die Frau bereitstellte. Der Regisseur bemängelt, wie der Schriftsteller seine Figuren ins Spiel bringt: „Wie aus dem Nichts geworfen, stehen sie vor uns, und wir hören ihre Stimmen, als kämen sie aus dem Nichts. Wir erfahren ihre Namen nicht, und nicht, wie sie leben.“ Der Autor Dürrenmatt aber demonstriert nun, dass mit Namen keineswegs automatisch alles klarer wird, eher im Gegenteil. Kaum heißen Mann, Doppelgänger und Frau Pedro, Diego und Inez, wird alles sofort verwirrender und unübersichtlicher.

Der Schriftsteller bekennt sich dem Regisseur gegenüber dazu, ein Gleichnis beabsichtigt zu haben: „Jeder von uns könnte der Mann sein, dem sein Doppelgänger begegnet.“ Und dann gibt es eine echte Überraschung: Pedro erschießt Inez. Während der Regisseur überrascht ist, ist es der nun Diego heißende Doppelgänger nicht: „Sie haben getötet, weil Sie nicht töten wollten. Sie wurden zum Mörder aus Furcht, ein Mörder zu werden.“ Dürrenmatt liebt offenbar genau solche Paradoxa und lässt den Schützen sich zu seinem Doppelgänger an den Tisch setzen. Beide trinken den Wein, Diego stirbt am beigemischten Gift. Plötzlich taut der Regisseur regelrecht auf: „Zwei Morde in zehn Minuten. Wie im Kino. Sie machen Fortschritte.“ Wünscht sich aber fast im selben Atemzug, Pedro wache wie aus einem Traum auf. Denn: „Im Traum ist alles erlaubt, auch das Ungerechte. In den Träumen ist das Gruseln legitim.“ Das liest sich wie ein Kommentar zu W. Somerset Maughams „Lord Mountdrago“, obwohl es höchstwahrscheinlich keiner ist. Dennoch ist der Einsatz von Träumen in Romanen, Erzählungen und auch Bühnentexten ein probates Mittel, mittels Fiktion in der Fiktion doppelte Brechungen zu erzielen und Dinge erst sagbar zu machen, denen sonst diese oder jene Konvention, vor allem aus dem Reich der herrschenden Moral, inquisitorisch entgegen stehen würde.

Seinen Schriftsteller lässt Dürrenmatt nun sagen: „Es ist mein Prinzip, nur ärgerliche Geschichten zu erzählen.“ Das liest sich wie eine frühe Vorwegnahme des dritten der „21 Punkte zu den Physikern“: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Den Punkt 4 sofort konkretisiert: „Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.“ Dass zwischen beiden Sätzen ein nicht unerheblicher Widerspruch besteht, wird selten reflektiert, man kann es als paradoxe Provokation lesen und ahnen, dass auch hierbei vor allem Dürrenmatt selbst seinen Spaß hatte. Sein Spiel vom Doppelgänger nimmt auf alle Fälle keine Wendung, die man auf Anhieb als die schlimmstmögliche akzeptieren würde. Der Doppelmörder will sich dem hohen Gericht ergeben, selbst der sich nun in die Handlung direkt einmischende Regisseur kann ihn davon nicht abbringen. Der Mann sagt: „Es gibt nichts Schöneres, als sich ihm zu ergeben. Nur wer seine Ungerechtigkeit annimmt, findet seine Gerechtigkeit, und nur, wer ihm unterliegt, findet seine Gnade.“ Plötzlich verwandelt sich alle dramaturgische in eine unverbrämt christlich-religiöse Botschaft. Schuld rückt in die Nähe von Erbsünde, auch wenn der Autor seinen Schriftsteller auf die Frage, ob er an Gerechtigkeit glaube, antworten lässt: „Ich bin Schriftsteller. Ich stelle dar.“

Gut zehn Seiten vorher sagte derselbe Schriftsteller: „Ich bin kein Dichter.“ Damit ruft Dürrenmatt eine gerade im deutschen Sprachraum wie eine Untote geisternde Debatte auf und an, ohne ihr auch nur den Ansatz einer neuen Deutung zu geben. Der Mann verschwindet mit einem hinkenden Polizisten im Gerichtsbau, Regisseur und Schriftsteller folgen und finden innen alles leer. Der Regisseur ist wütend: „Und damit soll ich mich zufrieden geben?“ Der Schriftsteller antwortet und hat den letzten Satz des Dialogs: „Damit müssen wir uns zufrieden geben.“ Dieses Wir bezieht die Hörer, die Leser mit ein. Sie haben sich abzufinden. Elisabeth Brock-Sulzer (25. Januar 1903 bis 16. Oktober 1983) sah in „Der Doppelgänger“ das Beispiel „für die größte Gefahr, der der junge Dürrenmatt ausgesetzt war, die Gefahr, das Thema zu groß zu planen.“ Und ergänzte: „Das Thema des Doppelgängers dagegen – an sich wahrscheinlich bestürzender und noch wesenhafter, lässt sich vom Dichter noch nicht ganz umgreifen, es quillt immer wieder über, es sprengt das konkrete Wort.“ Zugleich versagt sich Dürrenmatt, und das wohl eher aus Unkenntnis als in provokanter Absicht, eben jede Anspielung auf die Motivgeschichte und es wirkt wie eine Reaktion auf diese Enthaltsamkeit, wenn Elisabeth Frenzel in ihrer Darstellung dieser Motivgeschichte den Namen Dürrenmatts nicht einmal nennt, sein Hörspiel offenbar auch nicht kennt.

Den Schluss mit dem leeren Gericht deutet Elisabeth Brock-Sulzer so: „Das Gericht ist in uns, es gibt kein Himmelreich auf Erden, aber es gibt auch kein Jüngstes Gericht auf Erden. Der Mensch ist sein eigener Richter, und damit er das vermöge, trifft das Ich sich mit dem Sich, dem Doppelgänger. Alles im Werk Dürrenmatts ist im Grund solches Gerichthalten“. Und sie hat eine überzeugende Deutung der Figur des Regisseurs zu bieten: „Im Regisseur verkörpert sich die Rolle, die die Bühne für Dürrenmatt gespielt hat und spielt: sie ist Mittel, ihn zu individueller Verkörperung zu verlocken und ihn zu zwingen, mit aller Bewusstheit nach zwei Seiten hin Widerstand zu leisten, nach der Seite der ihm ungemäßen restlosen Individualisierung und nach der Seite der ihm allzu gemäßen Allegorie.“ Das führt weit hinein in das Gesamtwerk des Schweizers, dessen 95. Geburtstag auf diesen 5. Januar 2016 fällt. Dessen Doppelgänger Diego dem Mann Pedro seine unstillbare Neugier ausreden will: „Es ist nicht gut, die Wahrheit zu wissen.“ An Max Frisch schrieb Dürrenmatt am 24. Januar 1947: „Sie müssen bei mir immer bedenken, dass ich ein bernischer Pfarrerssohn bin, und dass ich trotz aller Anstrengung zuletzt die Religion meines Vaters nicht überwinden konnte.“ Und weiter vorn im selben Brief: „Es ist nicht Erfolg, was wir brauchen, denn Sie wissen ja, dass auch die besten nur von wenigen verstanden werden.“ Was kaum tröstet.


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