Tagebuch

9. März 2018

Gedächtnis: erst der Blick in mein Archiv belehrt mich, dass ich vor fast 30 Jahren schon einmal über Sartre schrieb, die Mauer war bereits, nach heutiger Terminologie, gefallen. „Mit eigenem Kopf“ hieß mein Text am 28. November 1989 in JUNGE WELT. Jetzt sah ich in Meiningen, leicht konfuser Foyer-Atmosphäre glücklich entronnen, „Die schmutzigen Hände“. Und will nun, am 100. Todestag von Frank Wedekind, darüber schreiben. Zum Glück muss ich nicht hasten, zum Glück kann der alte Wedekind auch geduldig sein. Sartre hat mich, das ist sicher, sehr früh sehr stark beschäftigt, selbst mein Liebesleben hatte mit einem Sartre-Band aus dem Leipziger Reclam-Verlag einen zarten Berührungspunkt. Die rote rororo-Ausgabe aus Reinbek bei Hamburg, aus der Phillip Henry Brehl gestern einen Band über die Bühne schleppte, besitze ich vollständig, sie füllt eine lange Reihe in meinem Frankreich-Regal. Was ich schreiben werde, ordnet sich langsam im Kopf.

8. März 2018

Einen Augenblick bin ich an diesem Internationalen Frauentag beinahe gelähmt: auf seiner Seite 13 teilt NEUES DEUTSCHLAND heute seinen Lesern, zu denen ich seit Jahren immer donnerstags gehöre, mit: „Thüringens Schulbüchereien haben vor allem Bücher in den Regalen“. Sollten sie besser Meerschweinchen dort haben oder Staubflusen oder bronzierte Gipsbüsten des Thüringer Ministerpräsidenten Ramelow? Ich hörte gerüchtweise von einer Schulbibliothek, die gar zwei Bücher einstauben lässt, die von mir verfasst wurden, juffijuffijuffi, man male sich das aus. Das Klassentreffen, in das ich gestern geriet, ohne zu ahnen, dass es die Ausmaße haben würde, die es hatte, war mein erstes mit derart vielen Rentnern und Rentnerinnen. Viele von ihnen freuten sich, mich zu sehen und ich freute mich zurück. Nun geht das Leben weiter, von freudigen Ereignissen rede ich nicht mehr, denn wenn sie verspätet eintreten, ist ihre Freudigkeit irreversibel beschädigt

7. März 2018

Wenn man ein nachrichtenaffiner Mensch ist und mit einem IQ ausgestattet, der den eines jungen Leistenkrokodils mit Abitur ungefähr erreicht, hat man es sehr schwer, ständig den Anblick zweier unterschiedlich blauer Plaketten zu ertragen, die der künftige Verkehrsminister ablehnt und danach umgehend zu hören, wie wichtig Hardware-Nachrüstung ist. Öfter war nicht einmal in alten SS20-Zeiten von Nachrüstung die Rede und damals stand am Ende bekanntlich der Zusammenbruch des Ostblocks. Dann noch dieser in einem Weißen Haus wohnende Mann, dem im Laufe eines Jahres mehr Personal entlaufen ist als gut gehende Exilregierungen Minister haben. Eine Nachrichtenfrau gerät im Dialog mit einer angehenden Staatsministerin derart aus aller Spur, dass man fast um die Zukunft voraufgezeichneter Interviews fürchten muss. Was hatte Marietta Slomka im Kaffee, als sie mit Dorothee Bär sprach, die im April immerhin schon vierzig Jahre alt wird? Kruzifixnochamoal.

6. März 2018

Während Günter Kunert heute 89 wird, erlebt Gabriel Garcia Marquez seinen 90. Geburtstag nicht mehr. Es freut ihn womöglich auf seiner Wolke, dass WIKIPEDIA ihn selbstbewusst dem Jahrgang 1927 zuschlägt. Eigentlich hätte hier eine freudige Botschaft verkündet werden sollen, also eine für mich freudige. Doch die Post brachte mir zwar ein sehr nettes großes Paket mit Wein und Grappa aus speziellen Fässern, ein kleines und flaches Päckchen hätte mir dennoch ausnahmsweise mehr zugesagt. So übe ich mich in Geduld. Da selbst in der ZEIT die Rede davon ist, dass es im neuen Bundestag nicht mehr so langweilig ist, weil die AfD mitmischt, mehren sich Zweifel an meinem langjährigen Berufsstand in Besorgnis erregendem Maße. Gehörte und gehöre ich tatsächlich zu einer seltsamen Menschengruppe, die Politik an ihrem Unterhaltungswert, ihrer Spannung misst und bei gegenteiligen Diagnosen sofort mit Öl zum nächstbesten Feuer eilt, es flackern zu lassen?

5. März 2018

Unsere chinesischen Freunde feiern heute den Tag des Erwachens der Insekten. Ich kenne mir nahe stehende Menschen, die sich freuen würden, wenn die Insekten einfach dauerhaft in ihrem Bett blieben. Dann ist da Eddy Grant, der 70 Jahre alt wird. Einst sang er mit den Equals „Baby Come Back“, aber schon die wunderbare Internet-Enzyklopädie WIKIPEDIA ordnet den Hit einmal dem Jahr 1966, einmal dem Jahr 1968 zu. Grant selbst ist auf der Band-Seite 10 Tage jünger als auf seiner eigenen. Der 5. März lässt sich begehen als Tag, an dem zwar nicht Conny Kramer, wohl aber Stalin starb und als Tag der Uraufführung von „Der Hauptmann von Köpenick“. Im März 1968 las ich 14 Bücher, vier davon im Zug von Gehren nach Ilmenau. Es begann mit Friedrich Karl Kauls Krimi „Der Ring“ und endete mit Horst Bastians „Wegelagerer“. „Die Moral der Banditen“ gefiel mir besser. Im Zug las ich nur im ersten Goetheschuljahr, dann folgte das Doppelkopfspielen.

4. März 2018

Was tun, wenn es um sich greift? Clara Sander, die ewige Visitenkarten-Schönheit, die als Leiterin von, bedarfsweise, RSD-Reisen, Leser-Reisen oder RSD-Premium-Reisen eine unfassbar große Zahl von Telefonnummern hat und grundsätzlich zu Reisen einlädt, bei denen man sich von den Ersparnissen einen guten Urlaub leisten kann, Clara Sander hat jetzt bereits zum zweiten Mal nicht mehr separat beigelegen. Kein Kärtchen mehr, kein praktisches Lesezeichen mehr in Zukunft. Alle meine momentan nicht in Büchern steckenden 27 Clara Sanders mit ihren 27 Telefonnummern bedeuten dann ein abgeschlossenes Sammelgebiet. Ziehen Jutta Berger (6 Karten mit 6 Nummern) und Andreas Bergmann (5 Karten mit 5 Nummern) nach oder bleiben sie inliegend? Das ist eine nicht sofort beantwortbare aufregende Sonntagsfrage. Nicht nur die SPD macht es spannend. Erika M. aus S. sagt übrigens, dass sie die Reise sofort wiederholen würde. Was ich ihr sogar zutraue.

3. März 2018

Dass ich auf meine alten Tage in einem unsortierten Haufen von Gartengerätschaften wühlen werde und das an einem Sonnabend ohne Frühstück im Magen, hätte mir auch kein Fagottist an der Wiege geblasen. Nun bin ich stolzer Besitzer eines Fugenkratzers und eines Unkrautstechers, freilich noch immer keines Gartens. Kratzen und stechen werde ich in speziell in Normaltagesläufe eingefügten Zeiten auf unserem Mietparkplatz, wo einige besonders dreiste blattgrüne Kulturfolger ein munteres Dasein führen, vorwitzig aus den Fugen sprießen und bei Wind als Fangnetze für unerwünschte Luftfracht aller Art dienen. Gudrun Pausewang, wenn mein weltweites Netz nicht schwindelt, erlebt heute ihren 90. Geburtstag. Ihr verdanke ich ein Leseerlebnis, das ich nicht missen möchte, das Buch heißt „Guadalupe“, ich las es unmittelbar nach „Der Weg nach Tongay“ im August 1976. Ob der Eindruck heute noch so groß wäre wie vor mehr als vierzig Jahren, weiß ich natürlich nicht.

2. März 2018

Inzwischen habe ich mich für alle Glückwünsche bedankt, per Mail, per Anruf, per WhatsApp auf Umwegen und kann nun so leise weinend wieder dem Alltag ins Auge schauen. Das Auge des Alltags ist nicht das des Tigers. Heute vor siebzig Jahren starb ein Schriftsteller, der zu den ganz wenigen gehörte, die ich im Buchbestand meiner Eltern und meiner Schwiegereltern vorfand, bei letzteren spielte das Thema Landwirtschaft eine deutlich größere Rolle als bei ersteren, die als Lehrer mit der Scholle eher weniger zu tun hatten. Adam Scharrer wurde in der frühen DDR noch mit Erwin Strittmatter verkoppelt zum Band 3 der Reihe „Schriftsteller der Gegenwart“. Den Band füllte ab 1977 Strittmatter allein, seither ist Scharrer zwar nicht ganz vergessen worden, gedacht wird seiner jedoch höchst selten. 1979 erschien der achte und letzte Band einer Werkausgabe, der erste hieß, der Titel ist sprichwörtlich geworden, „Vaterlandslose Gesellen“, mir vertraut ganz früh.

1. März 2018

Man kann von einem überreichen Abendessen noch am Tag danach so satt sein, dass eigentlich nichts mehr reingeht. Ich habe für den heutigen Tag einen alten Text zu Franz Hohler aus den tieferen Vorratskisten gekramt, so ist der 75 Jahre alte Schweizer wenigstens nicht ganz aus meiner Aufmerksamkeit gefallen. Zu Hause ist die Heizung aufgedreht, Geschenke liegen im Wohnzimmer, Kindern erklärt man dies mit dem Wirken von Heinzelmännchen. Ein Dutzend Glückwunsch-Mails enthalten Gutschein-Codes für dies und das, was ich brauchen kann oder nicht. Nicht alle Vereine, deren Mitglied ich seit Jahren bin, haben an mich gedacht, andere dafür mehrfach und in all ihren Gliederungen. Der Journalistenverband gehört nicht zu den Säumigen, weshalb ich auch in diesem Jahr noch einmal wie in jedem Jahr den Bericht der Mandatsprüfungskommission vortragen werde, wenn ich gebeten werde, es zu tun. Danach verordne ich mir Rentnerruhe, wohlverdient, sagt man.

28. Februar 2018

Wie ist es jetzt mit 65? Im Prinzip wie vorgestern mit 64. An keinem meiner nun halbwegs zahlreichen Geburtstage saß ich vorher in drei verschiedenen Saunen, nicht einmal in einer. Nie vorher versendeten wir als Dank für wirklich freundliche Wünsche aus verschiedenen deutschen Gegenden frisch erstellte Foto-Collagen. Ich las endlich Frank Wedekinds „Marianne und andere Erzählungen“ zu Ende. Von der Domina ist noch etwas für heute geblieben, ein wahrhaft edles Tröpfchen. Die Biere blieben im Kofferraum, dort sind die Temperaturen erträglich. Gäbe es morgen einen 29. Februar, würde ich an Martin Suter denken. An Herbert Ihering denke ich ohnehin, weil ich ihn auf dem Arbeitstisch gestapelt habe zu Hause, ein Band liegt sogar hier auf dem Hotelzimmer-Schreibtisch. Es sind Nachkriegsartikel von ihm, auch Reden, sehr auf den Tag bezogen und trotzdem durchweg interessant. Nun also noch sieben Bonusmonate bis zur Rente.

27. Februar 2018

Weil im Hotel heute vier Stunden kein Strom ist, könnten wir an der Wasser-Gymnastik teilnehmen oder das Frühstück bis in den Brunch hinein verlängern. Es ist uns nicht gegeben, vier Stunden am Stück zu essen, weshalb wir gen Aschach fahren, wo es ein Schloss mit drei Museen gibt. Die haben aber erst am Nachmittag offen ab 1. April. Weshalb wir weiter nach Münnerstadt rollen, die dortige historische Altstadt passierten wir so oft, ohne abzubiegen, dass nun die Gelegenheit günstig ist. Wir sehen einen Riemenschneider-Altar in St. Maria Magdalena und fränkisches Rokoko in der Kloster-Kirche. Das Henneberg-Museum hat kurzfristig ganz und gar zu, nicht aber der ABO-Getränkemarkt. Ein frierender Mann freut sich, dass ich ihm zwölf verschiedene Biere abkaufe und  noch ein zartes Trinkgeld zulege. Er wird Zeuge einer Gratulation am Handy. Am Morgen klopfte es so leise an unserer Zimmertür, dass ich beinahe um meinen Geburtstagssekt gekommen wäre.

26. Februar 2018

Sitzt ein Mann im Dampfbad, schnobert wie eine rossige Stute und beginnt plötzlich, sich mit dem Schlauch, den konventionelle Dampfbadbesucher nutzen, um die Sitzflächen zu spülen, selbst von oben bis unten zu kühlen. Das hat interessante Effekte: die Temperatur im Raum sinkt deutlich ab, die Sitzfläche wird so kalt, dass man sich nicht mehr hinsetzen mag. Kommt ein Mann in Badehose ins Dampfbad. Ich sage, hier sitze man nicht mit Badehose. Was soll ich nun machen, fragt der Mann. Ausziehen, sage ich, das hat sich bewährt. Irgendwann zieht er sie tatsächlich aus und legt sie sich aufs Knie. Ich verabschiede mich mit all meiner angeborenen Menschenfreundlichkeit. Sagt er, er kenne sich aus, wollte aber eigentlich in die trockene Sauna. Wir erwerben für den heutigen Vorabend einen 2015er Randersackerer Ewig Leben und für den morgigen Hauptabend eine 2015er Escherndorfer Domina. Hoch Hartmut macht es so kalt, dass wir auf frische Saale-Luft verzichten.


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