Tagebuch

1. Februar 2018

Auf Fotos sieht man Muriel Spark immer wieder nach ihrer Brille greifen. Sie fand die Geste wohl fotogen oder ihre Fotografen schauten sich dies voneinander ab. Die Idee ist sicher nicht geschützt vom Urheberrecht. Die Schottin war schon 87 Jahre alt, als sie zum ersten Mal in Deutschland aus ihren Büchern las und sah bei diesem Besuch auch Weimar. Sie soll, lese ich, bis zuletzt alle ihre Manuskripte mit der Hand geschrieben haben und zwar nur mit Stiften, die vorher noch niemand berührt hatte. Die Wenigen, die mein Verhältnis zu Bleistiften kennen, wissen, warum ich dies voller Sympathie zur Kenntnis nehme. Von ihren mehr als zwanzig Romanen besitze ich nur zwei, die ich aber auf keinen Fall vor ihrer Mary-Shelley-Biographie lesen werde. Nach ihrem Tod am 13. April 2006 gab es reihenweise freundlichste Nachrufe, die wohlsortiert in meinem Archiv landeten. Was der heutige 100. Geburtstag bewirkt, fällt schon deutlich bescheidener aus. So läuft das eben.

31. Januar 2018

„In der Buchhandlung Telemann in Weimar, wo ich gelernt habe, musste, wer die Courths-Mahler verlangt hatte, mit einem Band Nietzsche fortgehen oder auch mit einem der kleinen Holzschnittbücher von Frans Masereel.“ Das erzählte die 70 Jahre alte Marie Luise Kaschnitz dem Interviewer Ekkehart Rudolph vor auch schon wieder fast 50 Jahren. Und: „Wir waren sehr idealistische junge Buchhändler, wir wollten unsere Kunden erziehen.“ In den Buchhandlungen, die heute den Ton angeben, kommen Nietzsche und Masereel, bildlich gesprochen, erst gar nicht ins Regal, Courths-Mahler heißt jetzt SPIEGEL-Bestseller. Nur die 30 größten Verlage gelangen in die Auslage, verriet mir ein Insider. Da muss man sich dann halt doch im Internet-Handel erziehen lassen. Dort kann man seinen Masereel direkt bestellen, muss nicht erst nach einer Hedwig fragen, deren Nähmaschine nicht geht. Ich bin immer noch anhänglicher Kaschnitz-Leser, heute besonders.

30. Januar 2018

Was waren das früher für herrliche Zeiten, als man George Orwells „1984“ in seiner antitotalitären Tendenz, so die staatlich geförderte Lesart, gegen den real existierenden Stalinismus in seinen frühen, mittleren und späten Formen, mit und ohne Vorsilbe, nach Bedarf auf alle Fälle, wenden konnte. Nun aber, mitten in der Demokratie, werden wir von Sprech- und Sprachverboten umstellt, selbst ernannte Wächter achten darauf, dass niemand Wörter benutzt, die die Wächter eigens auf einen Index setzten, dessen Wortlaut in keinem Amtsblatt klagefest nachgelesen werden darf. Noch werden keine Schilder an Bänke geschraubt, die mitteilen, wer auf diesen Bänken nicht sitzen darf. Aber die Aussagen darüber, wo Demokratie, wo Rechtsstaat, wo Toleranz ihre Grenzen haben, sind bereits für die Hauptnachrichten präsentabel. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht irgendwo bereits Trainingscamps für Nachrichtenkreischen a la Nordkorea vorbereitet werden. Brave New World.

29. Januar 2018

Erst spät, liebes Tagebuch, Schmarrn, greife ich zu dir. Ich wollte heutigen Tages eigentlich einige Trainingsstunden in der neuen Verlagssoftware absolvieren, das Überspiel aber dauert länger als zu vermuten war. Also las ich fleißig, schrieb fleißig, hörte fleißig den Sturm unter den Türen heulen. Warum hat Marcel Reich-Ranicki eigentlich so oft nicht nur Recht, sondern auch die knackigsten Formulierungen gefunden? Ich habe noch eben mir den Heurigenkalender 2018 angeschaut, man nennt es ja herunterladen. Wir sind in einer perfekten Woche in der Wachau: alle, bei denen wir am liebsten sitzen, haben geöffnet, wir könnten theoretisch jeden Tag wechseln, wobei wir unseren Favoriten natürlich mehr als einmal aufs Haus rücken. Und kaum werden wir zu Hause sein, richten sich unsere Blicke auf die Renteneintrittsreise. Heute in genau acht Monaten bin ich zwei Tage in Rente. Den ersten Rententag erlebe ich in Pisa und Volterra, 22 Jahre nach dem ersten Besuch dort.

28. Januar 2018

Das muss ich Meiningen lassen: Kaum habe ich meine 25 Euro Bußgeld online auf das städtische Raffzahn-Konto überwiesen, stellt die Stadt kurz hinter ihrem Ortsschild eine Leuchttafel auf, die mir grün blinkend mittelt: Danke! Gern geschehen, Meiningen. Von wegen: Undank ist der Welten Lohn. Immerhin habe ich mir dies eingeprägt: wenn irgendwo das Wort Dolmar auftaucht, einzeln oder als Bestandteil eines zusammengesetzten Wortes, werde ich nicht nur bremsen, sondern brutal schleichen. Denn als ich vor Jahren schon einmal in Richtung Meiningen zur Kasse gebeten wurde, war es nahe am Parkplatz Dolmar, wo ein uniformierter Bürger im Schneesturm ein mobiles Schild mit der Geschwindigkeitsbegrenzung 60 km/h aufgestellt hatte und davor lauerte, ob jemand in die Schnappfalle tappte. Ich löhnte, weil ich auf einer deutschen Autobahn 80 km/h gefahren war. Max Mells Büchlein über Adalbert Stifter übersteht dessen heutigen 150. Todestag leider ungelesen.

27. Januar 2018

Als Freund des unter wechselnden Namen, derzeit als Meininger Staatstheater, firmierenden Hauses bin ich, wie heute wieder, auf Anreise mit eigenem Auto angewiesen. Ich sehe „Sonny Boys“ von Neil Simon. Als ich im Dezember Alan Ayckbourns „Die bessere Hälfte“ hinter mir hatte, erwischte mich auf dem Heimweg um 22.38 Uhr in der Dolmarstraße, Höhe soundso, der Blitzer, weil ich mit sage und schreibe 45 km/h durch das nächtlich stockdunkle Vordörfchen gebrettert war. Man durfte aber nur 30 km/h fahren, was tief in der Nacht zu kontrollieren sehr wichtig ist, denn wenn sich dort Fuchs und Hase „Gute Nacht!“ sagen wollen, sollen sie ungefährdet über die Hauptstraße schnüren respektive hüpfen können. Ich bin auf dem Foto sehr gut getroffen und werde umstandslos blechen, auch wenn ich nicht als Fahrzeughalter angeschrieben wurde, der ich nicht bin. Meine Liebe zu Meiningen erhöht sich auf dem Umweg über diese 25 Euro sprunghaft, Gruß zum Schlossplatz 1!

26. Januar 2018

Wie auch immer: dies war definitiv der letzte Neujahrsempfang unseres Oberbürgermeisters als Oberbürgermeister. Zur Wahl darf er sich nicht noch einmal stellen, Wahlen aber sind in diesem Jahr, ergo. Noch wissen wir nicht, wann gewählt wird, denn zum 1. Juli wird aus Ilmenau Groß-Ilmenau und da sollen alle Neubürger mit wählen dürfen. Wir werden dann ein Stadtparlament haben, in dem aus Ilmenau selbst kaum noch jemand sitzen wird, und der neue große Stadtrat passt auch nicht mehr ins Rathaus. Ergo. Mir wird dieser kommunale Abend im Gedächtnis bleiben, weil eine Mitbürgerin afrikanischen Studier-Hintergrunds mir Teile ihres geplanten Abendmahles von hinten auf die Hose warf, was mein rechtes Hosenbein in seiner fürderhinnigen Tragbarkeit heftig beeinträchtigte. Mein achtes Buch wird in seiner zweiten Auflage einen neuen Titel bekommen, verriet mir der Verleger, mein neuntes wird dafür titelstabil bleiben, versichert meine Verlegerin.

25. Januar 2018

Ein Blatt mit dem Namen ZEIT sollte vielleicht auch nachvollziehbare Begriffe von Zeit haben. Wenn im heutigen DOSSIER behauptet wird, Dieter Wedel sei lange Intendant der Bad Hersfelder Festspiele gewesen, dann ist das entweder falsch oder aber das Autorenteam hat nur eine seltsame Vorstellung davon, was lange ist. Lange war Frank Castorf Intendant. Er war es so lange, dass ganze Fanblöcke seiner Dekonstruktionsspiele sich gar nicht vorstellen konnten, dass er einmal nicht mehr für Volksbühnen-Events sorgen könnte. Dieter Wedel folgte Holk Freytag erst 2015, debütierte in der Stiftsruine als Regisseur mit Shakespeares „Komödie der Irrungen“, ließ den frisch geschassten Freytag, der inzwischen rehabilitiert ist, Kleists „Der zerbrochne Krug“ inszenieren. Lange ist das nicht her, ich sehe Helen Schneider noch wie eben aus der Damen-Toilette kommen. Dachte ich nicht reflexartig an „Rock’n’Roll Gypsy“ und das Album „Schneider with the Kick“? Lange her das.

24. Januar 2018

Kaum schreibe ich Mulackstraße hin, schon geht der Blick zurück. Vor vierzig Jahren absolvierte ich im Januar die vorlesungsfreie Zeit zum Ende des fünften Semesters, ich las „Geschichte und Gesetze des Ästhetischen“, „Kriterien und Kritik“, „Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen“, „Regeln zur Leitung des Geistes“, „Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie“ und, wie eingeklemmt zwischen die beiden Descartes-Bücher, am 24. Januar „Neu-Atlantis“ von Francis Bacon. Ich las auch „Die wunderbaren Jahre“ von Rainer Kunze, frisch aus West-Berlin gekommen, mich heftig enttäuschend. Ich war ein werdender Vater in diesem Januar, das für Mai angekündigte Kind feiert in diesem Jahr deshalb 40. Geburtstag. Als Student Vater zu werden, war keine große Sache, den ersten Vater in der Seminargruppe hatten wir seit dem 8. März 1976. Wir beiden Früh-Väter sind bis heute befreundet. Bisweilen telefonieren wir über große oder andere Koalitionen.

23. Januar 2018

In jenem irrwitzigen Oktober 1971 las ich, als ob ich nie im Leben wieder lesen dürfte. Unter den 42 Titeln, die im Register landeten, waren etliche dünne Bücher, darunter auch Friedrich de la Motte Fouqués „Das Galgenmännlein“, es war die von Horst Bartsch illustrierte Aufbau-Ausgabe aus dem Jahr 1960, die 1964 noch einmal aufgelegt wurde. Ich holte mir das Büchlein aus der Bibliothek, deren eifriger Nutzer ich war trotz eines mehr als soliden eigenen Buchbestandes. 13 der 42 Titel stammten aus der Bibliothek. Den Fouqué las ich nach Storms „Immensee“ und vor Fedins „Begegnungen zwischen Saratow und Leningrad“. Reichlich viereinhalb Jahre später bezog ich meine Wohnküche in der Berliner Mulackstraße 25 und wohnte volle vier Jahre ganz nahe am Garnisonfriedhof, ohne ihn je zu besuchen. Ich tröste mich mit Heinz Knobloch: dieser Friedhof sei  einer gewesen, „der gar nicht zu erkennen war.“ Dort liegt Fouqué, der heute vor 175 Jahren starb.

22. Januar 2018

Der breite Buchrücken, blau mit weißen Querlinien, sitzt in meinem Gedächtnis wie auf immer mit Sekundenkleber befestigt. „Lord Byron stirbt für Griechenland“, 1938 im Berliner Schützen-Verlag erschienen, Autor Claus Schrempf, von dem ich noch immer nicht mehr weiß als vor knapp zweieinhalb Jahren, als ich ihn erstmals im Zusammenhang mit den „Helden“ von George Bernard Shaw erwähnte. Das Buch stand in einem der beiden verglasten Bücherregale meiner Eltern, der Mann, der sie fertigte, ist Vater einer Mitschülerin und jetzt dabei, seinem hundertsten Geburtstag näher und näher zu rücken. Lord Byron, George Gordon, hat heute seinen 230. Geburtstag und wir wissen längst, dass sein Heldentod gar nicht so heldisch war. Ich las eben seinen kruden, aus zwei „literarischen Eklogen“ bestehenden Bühnentext „Die Blaustrümpfe“ und bin sicher, dass ich dazu nichts schreiben möchte. Auch nichts über kollektive Schneeschipp-Sonntage auf Mietparkplätzen.

21. Januar 2018

Dass er am 21. Januar starb, scheint sicher. Nur an welchem? WIKIPEDIA entscheidet sich für 1968, dann wäre dies sein 50. Todestag. Die dort zitierte Neue Deutsche Biographie (NDB) nennt 1969, Fritz Martini und Peter de Mendelssohn haben als Herausgeber verstreuter Schriften unter dem Titel „Geist und Politik in Europa“ 1965 zum Todesjahr gekürt, so hält es auch das Munzinger Archiv. Also werde ich heute vielleicht „Frühlingsmorgen bei Rousseau“ lesen oder Golo Manns Gedenkblatt für ihn: Ferdinand Lion. Mehr geht ohnehin nicht wegen Egon Friedell, für den der 21. Januar sein Geburtstag war. 140 Jahre sind kein Spezialjubiläum für die biographische Industrie und das vorauseilende Großfeuilleton, welches mit Karl Marx und dem Prager Fenstersturz in diesem schönen Jahr ohnehin hart an seine Grenzen geführt wird. Im engen Familienkreis hätten wir auch einen Geburtstag, es wäre ein 93. Seit gestern verfügen wir über einen zweiten Landratskandidaten.


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