Schiller: Die Räuber; Landestheater Coburg

Nein, in Coburg rollten die Zuschaueraugen nicht, es fielen sich keine fremden Menschen schluchzend in die Arme und so weit ich bemerken konnte, wankte auch keine einzige Frau der Ohnmacht nahe der Türe zu. Ein Theater, dessen Zuschauer so vorbildlich auf dem Schlossplatz eingewiesen werden, dass sie bestgeordnet stehen wie auf einer Autofähre, ist auch der Ordnung innerhalb des Hauses nicht abgeneigt, kein Chaos also, nirgends. Der Coburger Karl Moor verabschiedet sich mit dem Satz: „... ich habe euch einen Engel geschlachtet.“ Dann wird es dunkel, der Beifall kommt mit minimaler Verzögerung und es wird wieder hell. Sieben Darsteller und eine Darstellerin verbeugen sich, Regisseur Matthias Straub und Bühnenbildnerin Gabriele Wasmuth, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, reihen sich früh und nur ein einziges Mal ein. Coburg hat ein freundliches Publikum und da es herbe Enttäuschungen offenbar nicht kennt, ist das  eine sehr berechtigte Freundlichkeit.

Schillers „Die Räuber“ haben seit der Mannheimer Uraufführung eine unendlich scheinende Inszenierungsgeschichte. Was ihnen angetan werden konnte, wurde ihnen angetan, welche Deutung sie auch nur einigermaßen zu tragen vermochten, wurde ihnen untergeschoben. Das volle Programm ist schon zu Schillers Lebzeiten auf fünf Stunden taxiert worden. Heute führt die Ankündigung des Programmheftes, es werde inklusive Pause 2 Stunden und 45 Minuten gespielt, zu dieser oder jener leicht empor gezogenen Augenbraue unter den ihre Begleitung nahe der Toilettentreppen geduldig Erwartenden. Es muss also gekürzt werden und es wird gekürzt. Die Statisterie ist ohnehin auf deutschen Bühnen ausgestorben, wir werden von so oder so gelungenen Massenszenen, bezogen auf die „Räuber“, demgemäß erst wieder lesen, wenn einer Regie als ganz Neues nur noch ganz Altes einfällt. Und eine Reihe Euro überzählig im Personalhaushalt verprasst werden müssen. Vermutlich entwickelt auch kein Regisseur und kein Dramaturg mehr den Ehrgeiz, selbst nur die Mehrzahl aller bekannten Lesarten zur Kenntnis zu nehmen. So mag es geschehen, dass einer vielleicht einer Nähe zu einem bezichtigt wird, den er gar nicht kennt, Frau eingeschlossen, verehrte Sprachwächter.

Matthias Straubs Fassung hat mich in vielem an Reinhard Buchwald erinnert. Vielleicht freilich nur, weil Buchwald meint: „Die Monologe des Franz Moor, in denen er sich selbst analysiert, kann man sich geradezu so gesprochen vorstellen, daß er aus dem Bühnenrahmen heraus an die Rampe tritt, wie ein Dozent, der einen interessanten Fall vorführt.“ Literaturhistoriker mit szenischer Phantasie gehören eher zu den weißen Raben ihrer Zunft, da sie normalerweise auf die Kritik der Lesarten ihrer Kollegen fixiert sind und deshalb keine Zeit haben, auch noch ins Theater zu gehen, nur weil ihr Forschungsgegenstand zufällig Dramen schrieb. Falls ich falsch liege, habe ich immerhin an einen der lesbarsten Schiller-Experten erinnert und der Regie nicht wehgetan. Auf alle Fälle ist Sönke Schnitzer als Franz von Moor in Coburg einer, der in seiner Rolle zugleich aus der Rolle heraus und an die Rampe tritt. Und, wie ich meine, souverän mit der Tatsache spielend umgeht, dass die Bösen mit allerschönster Regelmäßigkeit die besseren Rollen verkörpern. Jeder TATORT-Seher weiß seit Jahren anhand der Besetzungsliste, wer der Täter, die Täterin ist, immer der prominenteste Name, der nicht Ermittler spielt, dies Gesetz kennt fast keine Ausnahme. Sönke Schnitzer hat seine Chance mehr als genutzt. Stärker sah ich ihn noch nicht.

„Die Räuber“ sind kein Revolutionsstück, nicht einmal ein missratenes. Sie sind auch nur ungewollt  politisch. Diese von mir keineswegs erfundene Lesart stützt Matthias Straub nachdrücklich mit seiner Regie. Das erfreute Premierenpublikum sah ein Schuld- und Sühnedrama mit hohem Religionsfaktor. Wobei dem insgesamt in vier Rollen agierenden Niels Liebscher die sehr reizvolle Aufgabe zufiel, der am Boden liegende namenlose Pastor und später der souverän stehende Pastor Moser zu sein, dem Schiller eine Überzeugungsrhetorik auf den Leib schrieb, die der Kanaille Franz gewissermaßen final in die Glieder, ins Gewissen oder in das, was bei ihm an dessen Stelle aktiv ist,  fährt, und am Ende im Nebeneffekt die Rache des Bruders Karl Moor unmöglich macht. Von dem tatsächlichen Moser in Schillers Leben kann hier nicht gehandelt werden. Liebscher ist außerdem Kosinsky, den der Dichter erfand, um seinem an aktivistischem Motivationsschwund leidenden Helden Karl wieder Schwung einhauchen zu können. Als dieser trägt er die Geschichte seiner Entehrung und Demütigung vor, fast steif, aber mit dem zufällig identischen Braut-Namen Amalia sofort Wirkung erzielend.

Von den bei Schiller acht Räubern sind in Coburg vier gestrichen. Geblieben sind neben dem spät hinzu stoßenden Kosinsky der von Mathias Renneisen gespielte Spiegelberg, Roller (Alexander Peiler) und Schweizer (Thorsten Köhler). Diese Räuber sind von Beginn an keine Sympathieträger für bürgerliches Publikum. Sie haben zu oft und zu lange Bierflaschen in der Hand, sie sehen, selbst wenn ihnen Karo-Pullunder verordnet sind, oder gerade deshalb, wie Bürgersöhne aus, denen die Flegeljahre anhaften über das übliche Maß hinaus. Sie prahlen mit Heldentaten, auf die nun wahrlich niemand stolz sein sollte und die viel zu nahtlos in einfach nur kriminelles Tun übergehen. Wenn Spiegelberg stolz von dem Überfall auf ein Frauenkloster berichtet, ist das nur das vorbereitende Einstimmen auf die wahrhaften Gräueltaten, die die Befreiung Roller begleiten. Die werden in extenso vorgetragen und öffnen auch Karl Moor endgültig die Augen, dass hier wenig Sozialromantik im Spiel ist. Und auch wenig antifeudale Aktion, die es hätte sein können.

Die früher, insbesondere nach den so genannten Studentenunruhen in den späten sechziger Jahren, bisweilen in „Räuber“-Lesarten gepfropfte vermeintliche Anti-Anarchismus-Tendenz wird in Coburg nicht einmal mehr zitiert, diese grölenden Bügelverschluss-Freunde geraten nie in Verdacht, etwa beispielhaft einen Ziel-Mittel-Konflikt auszutragen, den Satz, der Zweck heilige die Mittel, zur bühnenwirksamen Diskussion zu stellen. Spiegelberg sieht längst nicht mehr aus wie Trotzki auf der Szene, eher wie ein etwas wild geratener Postbeamter. Die Räuber tragen, das ist eine der durchaus akzeptablen Spielideen, Karl Moors pathetische Freiheitsrhetorik chorisch wie ein Echo vor. Am Ende aber ist dieser Karl Moor (Frederik Leberle) im Innersten in sehr kompakter Dreiheit vor allem Sohn, Bruder und Liebender. Was in Schillers Welt noch echtes Pathos hatte, klingt in Zeiten, die noch den kleinsten Chef arbeitsrechtlich vor böser Nachrede seiner Angestellten schützen, arg hohl, diese Freiheit taugt kaum für drittklassige Sonntagsreden. Aus dem tintenklecksenden Jahrhundert ist ein Tinte dem Markt rigide unterordnendes geworden. Die Tintenkleckser haben eher Angst vor Konkurrenz im Netz als vor etwaiger Unfreiheit.

Aus dem gestrichenen alten Diener Daniel und dem nicht gestrichenen Bastard Hermann hat die Coburger Regie einen mit rosafarbenem Anzug ausgestatteten Lead-Sänger der Lords gemacht, den auch Nils Liebscher spielt, diesmal mit einer Art Mundkrampf. Der lässt sich zwar schurigeln von der Kanaille Franz, behält aber seinen eigenen Kopf und Willen, rettet den alten Maximilian von Moor (Niklaus Scheibli) vor dem Hungertod, damit er für den Schrecktod aufgespart bleibe, den Schiller für ihn vorgesehen hat. Dem alten Moor bleibt leider wenig zu spielen, obwohl er spielen könnte. Die Ausstattung aus übermannsgroßen Ahnenbildern, die halbwegs mobil aufgestellt die Spielfläche abtrennen können, zeigt bis auf den Vater alle anderen in Kleidung der Schillerzeit oder noch früherer Zeiten, nur der alte Maximilian sieht eher wie ein Fabrikgründer oder  Bankmagnat aus. Er liebt tatsächlich seinen Karl um so viel mehr, dass man seinen Franz verstehen können müsste. Wie sich sein Ausdruck verändert, als die Rede von Karl geht, das ist sein Moment des Abends. Gerade in dieser Konstellation ist Schiller unmittelbaren und mittelbaren Vorbildern sehr eng gefolgt, die extreme Zuspitzung ist freilich sein Eigentum. Der Held Karl hat Mühe zu strahlen. Dass seine Amalia von Edelreich nicht strahlt, wird dem jungen Schiller selbst mit derart schöner Regelmäßigkeit angelastet, dass alle Amalien schon entlastet sind, noch ehe sie auf der Bühne blass bleiben.

Das Amalienmaß, könnte man behaupten, liegt in der merklichen Mühe gegen diese Blässe und da ist Eva Marianne Berger kaum zu tadeln. Vielleicht ist das ewige Zuppeln am Morgenrock nicht der gestischen Weisheit letzter Schluss, was aber sollte sie ersatzweise tun? Dem alles in allem tolerabel gestrichenen Schiller-Text ist Fremdtext implantiert, den man im Programmheft nachlesen kann. Die namentlich genannten Autoren heißen Karl Marx, Friedrich Engels, Milo Rau und Chuck Palahniuk, dazu das „Unbekannte Komitee“, eine Mischung, auf die man kommen muss. Man könnte allenfalls fragen: Wer ist Karl Marx? Das wäre dann Ironie. Auch die Freiheit müsse einen Herrn haben, wird zwischendrin behauptet, es müsse ein politischer Kopf sein. Unter den Räubern ist das keiner, auch der Hauptmann Karl nicht. Bei Schiller stellt er sich am Ende der irdischen Gerechtigkeit und sichert einem armen Mann die ausgesetzte Belohnung. Der erste aller zu Sprichwörtern gewordenen Schluss-Sätze Schillers ist mit diesem Ende gestrichen. In Coburg kann dem Manne nicht geholfen werden.
 www.landestheater-coburg.de


Joomla 2.5 Templates von SiteGround