Lessing: Nathan der Weise; DNT Weimar

Wer zu der Meinung gelangt, Lessings „Nathan der Weise“ sei im beginnenden 21. Jahrhundert, also eben auch noch 2018, aktueller als andere Bühnenwerke des Aufklärers, aktueller als sehr viele andere der so genannten Klassiker, kann gute Gründe dafür nennen. Kaum ein überlieferter Begriff ist brachialer auf den Prüfstand gestellt worden als der der Toleranz. Wer den Nathan also als den Prediger der Toleranz sieht, muss ihn in Frage stellen. Wer die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen zu sehen gelernt hat, hat nach 1989 lernen müssen, dass nicht jede gegenteilige Behauptung die bessere ist oder gar alternativlos. Wer die Geschichte als endlose Abfolge von Kriegen zu sehen gelernt hat, in der Frieden die fast perverse Ausnahme darstellt, muss sich entscheiden, ob er vermeintliche Religionskriege als tatsächliche Religionskriege sehen möchte, oder ob ihm das Phänomen bedenkenswert erscheint, dass Werte wie Freiheit besonders gern dort verteidigt werden oder dorthin exportiert werden sollen, wo es Öl, neuerdings vielleicht alternativ seltene Erden gibt, oder eine geostrategisch wichtige Position in Verfügungsgewalt gebracht werden soll. Das Weimarer Programmheft zu „Nathan der Weise“ legt nicht nahe, hinter Religionen mehr und anderes zu vermuten, als Religion: Politik etwa, gar Wirtschaft mit verbundenen Interessen.

Die Geschichte, die erzählt wird, trägt oder trägt nicht. Nathan kommt von einer Geschäftsreise nach Hause, erfährt vom Brand seines Hauses, erfährt auch, dass seine Tochter Recha aus den Flammen gerettet wurde. Retter ist ein Tempelherr, Angehöriger des Ordens der Templer, eines kriegerischen Ritterordens, der mindestens zwei Hauptfeinde hat, Muslime und Juden. Wer den Nathan auf einer Bühne sieht, muss sich damit abfinden, dass der junge Tempelherr ein offenbar fanatischer Judenfeind ist, gegen den der muslimische Sultan wie ein toleranter Waisenknabe wirkt, wenngleich vielleicht nur aus der Sicherheit seiner Macht heraus. Das Geschehen konzentriert sich auf einen einzigen Tag in Jerusalem. Die Personen, 9 an der Zahl, sind ausnahmslos des Denkens und Sprechens auf hohem Niveau fähig, der Dialog wird so nie platt oder belanglos, Gegenspieler begegnen sich auf Augenhöhe, was noch immer den Ausweis dramaturgischen Könnens darstellt. Selbst die Bibel stellt David nur deshalb gegen Goliath, weil sie den kleineren als den Klüger-Schnelleren, den Riesen als Übertölpelbaren von vornherein festgelegt hat. Die Weimarer Inszenierung spielt mit der Augenhöhe und erzeugt an einer Stelle sogar Lacher: als sie den riesigen Nathan (Sebastian Kowski) neben den dagegen fast kleinen Sultan (Sebastian Nakajew) stellt.

Vor reichlich fünf Jahren hielt ich zum Coburger Nathan fest, es sei offenbar gerade eben modisch, Darsteller rund um die Spielfläche rennen zu lassen. Jetzt müsste ich die begründete Behauptung aufstellen, Bühnenbildner liebten synchron die nach vorn zur Rampe abfallende leere Spielfläche, auf der die Spieler zu Gleichgewichtsübungen verdammt sind und Requisiten unverschraubt keinen Halt finden können. Die Leere der runden Weimarer Spielfläche in der Anmutung eines hölzernen Dielenbodens (Thilo Reuther) ist bedeutende Leere: „Thilo Reuthers minimalistischer Bühnenraum stellt den Figuren nichts in den Weg.“ lesen wir im Programmheft. Die Inszenierung von Hasko Weber, steht da weiter „vermeidet ganz bewusst eine überdeutliche Vergegenwärtigung des Stoffes, ohne einer antiquarischen oder gar folkloristischen Ästhetik zu verfallen.“ Das Folkloristische wäre, so gesehen in der nach oben offenen Weber-Skala der schlimmeren Ästhetik, die Steigerung des Antiquarischen. Zum Glück steht gegen alles Gotthold Ephraim Lessing mit seinem Text, den er „ein dramatisches Gedicht“ nannte, damit alle herkömmlichen folkloristisch-antiquarischen Etiketten meidend. Da passt dann Tragisches rein und Komisches auch und Tragikomisches dazu. Und zum Schluss Symbolik in einer Deutlichkeit, die wie aus einem anderen Film wirkt.

Hasko Weber hat seinen Lessing mit Rammstein umrahmt. Zu Beginn und zum Schluss trägt ein Engel mit schwarzen Flügeln (Julius Kuhn) den Text von „Engel“ vor, ohne Musik. Es ist der zweite Titel der inzwischen auch schon gut zwanzig Jahre alten Scheibe „Sehnsucht“ der Brachial-Rocker, die von lustigen Holzhacker-Buben der „Initiative Gesinnungs-Watch“ anfänglich gern in eine rechte Ecke geschoben worden wären. Deren Musik hätte mir, gern gestehe ich es, begleitend deutlich besser gefallen, als dekonstruierter Beethoven, that's Geschmack, würde ich sagen. Ich bin der Dekonstruktion gegenüber ohnehin stets missgestimmt, mir gefiele alternativ zu Konstruktion einfach Destruktion besser, auch meine ich, man könne einen eigenen Gedanken durchaus aus dem Gehirn quetschen, ohne permanent auf irgendwelche Alibi-Franzosen von Sartre bis Lacan zu bauen. Nach dem Engel aber nicht, der zwischendurch immer wieder einmal in Erscheinung tritt, und antik gesprochen, so etwas wie einen Teilzeit-Ein-Mann-Chor verkörpert, man könnte auch aus der Trickkiste des epischen Theaters diese Figur erklären. Muss man aber nicht. Man muss auch nicht jeden neuen Nathan an Ernst Deutsch messen, der ihn mehr als 1000mal spielte oder an Paul Wegener, der 1948 als Nathan auf der Bühne zusammenbrach und wenige Wochen später starb.

Sebastian Kowski, mir vor allem als Mephisto gut im Gedächtnis, gibt einen durchaus überzeugenden Nathan, er gibt ihn, darin den besten Beispielen folgend, etwa dem des Wolfgang Heinz in der Regie von Friedo Solter, gerade nicht als den fast übermenschlich Weisen, sondern als den lebendigen, durchaus auch unsicher oder verunsichert sein Könnenden. Er kann sich überraschen lassen, er kann ganz spontan reagieren, er sondert nicht in dichter Folge Reflexionen und Maximen ab für jedwedes Stammbuch. Er trägt die Ringparabel so vor, dass man ihr folgt, Sebastian Nakajew als Sultan hat da im Hören (aber natürlich nicht nur da) ganz starke Momente. Und er bewältigt auch die Progrom-Erzählung beeindruckend, die früher, vor allem nach 1945, ganzen Großkritiker-Bataillonen Tränen in die Augen trieb. Keine Geschichte über Ernst Deutsch kommt ohne Zeichnung solcher Momente aus. Mit Daja (Anna Windmüller) kommt dieser Nathan augenfällig gut aus, sie selbst lässt teilhaben an den Skrupeln, die sie zur Offenbarung des Geheimnisses um Recha (Isabel Tetzner) bringen. Hasko Weber gelingt es, das dramatische Gedicht so zu Ende zu führen, dass die gern bemängelte Auflösung „in Wohlgefallen“, manch strengem Kritiker ein Abrutschen in einen allzu gefälligen Lustspielschluss, glaubhaft erscheint und natürlich.

Das Buch, welches der Klosterbruder (Krunoslav Šebrek) wie ein Deus ex machina hervorzaubert und das alle Abkünfte, Herkünfte und Familienbande in persischer Sprache aufklärt, ist das Vehikel zur Finale, in dem sich, natürlich, möchte man sagen, auch in Weimar nicht alle um die Hälse fallen und in den Armen liegen. Dieser Strich ist guter Ton. Guter Ton ist durchweg die Hereinnahme komischer Elemente. Marcus Horn etwa als Derwisch, er ist erst seit dieser Spielzeit im Ensemble des DNT, sieht einmal aus wie ein Vertreter in der Anzugsordnung der frühen neunziger Jahre, mit rotem Schlips, später dann, wie man seinesgleichen aus Märchenfilmen kennt: mit Schurz. Dem Sultan und seiner Schwester Sittah (Johanna Geißler) ist alles Orientalische im Äußeren fast komplett genommen, erst spät darf die Schwester den Hidschab tragen, während der Sultan den Turban aus der Verkleidungskiste verwirft und wegwirft, weil er innen „Made in Bombay“ liest. Späßchen auch das. Immerhin: es ist auffallend, wie ein Bühnenwerk, das im Jahr 1783 erstmals öffentlich gespielt wurde, solche Frauen wie Sittah und Daja vorführt, als wären sie vollkommen selbstverständlich, wie sie sind. Recha dagegen fehlt noch diese Souveränität, sie ist zu jung, will einfach und dankbar lieben, wobei ich ihre Barfüßigkeit als Rutsch-Schutz auf der Schräge deute.

Ihre Liebe gilt ihrem Retter, dem Tempelherren im Military-Look (Thomas Kramer). Der sie scheinbar verschmäht, der ihrem Vater Nathan nicht einmal begegnen, ihr Haus nicht einmal betreten möchte. Übrigens, Lessing: wie betritt man eigentlich abgebrannte Häuser? Auch Kramer ist überzeugend, wenn er sich der Argumentation Nathans zunehmend unvoreingenommen stellt, dann ihr ganz selbstverständlich folgt. Weniger überzeugend ist er, wenn er laut wird. Laut werdende und in ihrer plötzlichen Lautstärke unerklärlich wirkende Tempelherren scheinen in „Nathan“-Inszenierungen eher die Regel als die Ausnahme zu sein, das ruft geradezu nach nachträglichen Korrekturen für alle späteren Aufführungen nach der Premiere. Die offenbar mindestens homoerotisch grundierte Beziehung zwischen dem Patriarchen (Julius Kuhn) und dem Klosterbruder Krunoslav Šebrek kann man mit Fragezeichen versehen, muss aber nicht. Dass Šebrek gleich in High Heels über die Schräge staksen muss, ist mir dann schon ein Dübel zu viel im Brett. Was in Weimar wie schon vor Jahren in Coburg auffiel: Das Publikum schreckt zurück, wenn die Sätze vom Missbrauch von Kindern durch die Kirche, vom Quälen aus Liebe fallen. Da ist die Wirkmacht Lessings deutlicher zu spüren als bei allem, was aktuelle Regie voll Absicht zeigen will.

Passagen des Textes, die man früher leichtsinnig Monolog nannte, bisweilen stand da auch „beiseite gesprochen“ in den Regieanweisungen der Meister, lässt Hasko Weber auffallend oft von der Rampe her direkt ans Publikum gerichtet sprechen. Man nimmt es hin. Was mir erst in Weimar wie neu auffiel, obwohl es uralter Text ist: die Art und Weise, wie dieser Nathan und dieser Sultan ihr gemeinsames Geldgeschäft abwickeln, ist hohe, ist höchste Diplomatie. Es ist das, was man heute gern Kompromiss nennt, bei dem keine der Seiten zum Gesichtsverlust gezwungen wird. Alter Lessing, alter! Schlitzohrigkeit bei Sultan und Sittah, wissende Zurückhaltung bei Nathan und am Ende, wenn die Lieferungen aus Ägypten endlich den Sultan erreichen, die einstige Liquidität bei Bruder und Schwester, das schwere Vermögen beim Weisen. Nur die Liebe muss sich neue Gegenüber suchen, Bruder und Schwester, das geht nun wirklich gar nicht, oder? Es gab den Premierenbeifall, den man von Premieren längst kennt. Man müsste ihn mit dem nach der zweiten oder der dritten Aufführung vergleichen können, dann quietschen die ewig dazwischen lachenden Mädchen nicht mehr, die im Nebenfach ihrer Bachelor-Ausbildung Premieren-Begeisterung bei einem eher mittelmäßigen Lehrer hatten. Ich sah „Nathan der Weise“ in Weimar mehr als nur interessiert. Vielleicht sogar, weil es eine Viertelstunde länger dauerte, als vorher angekündigt.
www.nationaltheater-weimar.de


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