Ibsen: Peer Gynt; Bad Hersfelder Festspiele

Natürlich ist es purer Zufall, dass am Tag nach der Eröffnungspremiere der diesjährigen Bad Hersfelder Festspiele eine große überregionale Tageszeitung den Umstand thematisiert, wenn auch nur im Reiseteil, dass die Norweger ausdauernd die glücklichsten Menschen der Welt zu sein glauben. Fünf Norweger geben dazu Auskunft, ein Peer Gynt ist nicht unter ihnen, ein Henrik Ibsen natürlich auch nicht. Beide hatten mit ihrer Heimat gewisse Schwierigkeiten, was der späteren Entwicklung bekanntlich nicht hinderlich war, den einen als Repräsentanten des Norwegertums in der großen Weltliteratur, den anderen als den nach Shakespeare meistgespielten Bühnenautor des Erdkreises zu etablieren. Auch wenn deutsche Feuilletons im Umfeld des 100. Geburtstages von Ibsen 1928 orakelten, seine große Zeit sei vermutlich vorbei, zum 100. Todestag 2006 musste nicht einmal ein Jubiläums-Hype inszeniert werden mit fünf gleichzeitigen Biografien, um dem Mann mit dem weißen Backenbart Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Anders als früher ist vielleicht, dass bestimmte Aktualitäten den Zugriff auf bestimmte Ibsen-Stücke fast hitzig machen, zu studieren in den zurück liegenden Jahren an der Inszenierungs-Dichte von „John Gabriel Borkman“ und „Der Volksfeind“.
 
„Peer Gynt“ erfährt, wenn ich meinem Archiv halbwegs trauen darf, keine wellenartige Aufmerksamkeit, die großen und die weniger großen Bühnen spielen diesen Klassiker einfach mit schöner Regelmäßigkeit, wobei sie, wen überrascht das, in ihrem Ehrgeiz, überraschende Zugänge zu finden, durchaus öfter eher fürs Kuriositätenkabinett als die Theatergeschichte inszenieren. Um einen kompetenten Kritiker zu zitieren: „Peer Gynt“ ist üblicherweise das Weihnachtsmärchen fürs ganze Jahr: uneingeschränkt spektakelfähig und fröhlich knittelnd, zuverlässig anrührend voll immergrüner Lebensbetrachtungen und weiser Einsichten in die Urgründe der menschlichen Natur. Nach fünf Akten Ibsen weiß man wieder, warum der Mensch ist, was er tut, dass Geld nicht glücklich macht und andere schwierige Dinge.“ Den Bochumer „Peer Gynt“ von Jürgen Gosch meinte Franz Wille damit in „Theater heute“ vor mittlerweile auch schon wieder fast 14 Jahren. In Bad Hersfeld ersetzt in dieser Spielzeit nach dem Abgang von Intendant Dieter Wedel „Peer Gynt“ das ursprünglich geplante und schon vorsorglich beworbene „Karlos-Komplott“. Diese Entscheidung Joern Hinkels habe ich für mich sofort begrüßt, ich mag Schiller zu sehr, um ihn mir als Missbrauchsopfer zu wünschen.
 
Das fröhliche Knitteln, um das gleich zu sagen, kippt in der von Regisseur Robert Schuster für die Festspiele benutzten Übersetzung von Soeren Voima verblüffend oft ins Peinliche. Darüber hinaus entdecke ich als Kenner der Christian-Morgenstern-Fassung natürlich mehr Morgenstern in der Neuübersetzung als einer solchen zuträglich sein sollte, aber vielleicht täusche ich mich auch, ich zog mir schon einmal den Zorn eines Neuübersetzers aus dem Nordischen zu, weil ich seine Neo-Fäkalismen überflüssig fand. Robert Schuster hat nicht nur mit „Peer Gynt“ eigene Erfahrungen, auch mit Christian Nickel in dieser Rolle. Das ist 20 Jahre her und war in Frankfurt/M. eine sehr erfolgreiche Inszenierung. Jüngere Erfahrungen mit kleineren Frauenrollen in „Peer Gynt“ kann Corinna Pohlmann vorweisen. Sie als Karin, vor allem aber als Trollprinzessin in Bad Hersfeld: nicht mehr und nicht weniger als ein Ereignis. Das gilt in gleichem Maße auch für die Puppenspielerin Gloria Iberl-Thieme, die nach unauffälligen Auftritten vor der Pause im Finale zu grandiosester Höchstform fand. Überhaupt: der fünfte Akt, entgegen dem vorgängigen Verfahren tatsächlich an seinem Platz gespielt, nämlich hinten, versöhnte mit allem, was davor verwunderte und/oder verärgerte.
 
Wer den so oder so übertragenen Ibsen kennt, weiß, da sind fünf Akte, der Autor selbst nannte sie nicht Akte, sondern „Handlungen“, nachlesbar in seinem Briefwechsel mit seinem Verleger Hegel. Die ersten drei dieser Handlungen zeigen einen jungen Peer Gynt, die vierte den mittleren Alters und die fünfte schließlich den alten Peer, grauhaarig und heimkehrend nach Norwegen. Das wirft nahezu unabhängig vom Gesamtkonzept der jeweiligen Regie die Frage auf, welches Besetzungsprinzip zu wählen ist: soll ein junger Darsteller zeigen, dass er auch den Alten beherrscht, soll ein gestandener Mime, immer von Unglaubwürdigkeit bedroht, auch den jungen Lügner und Aufschneider und Tagträumer geben? Vor mehr als 60 Jahren führte ein norwegisches Gastspiel vor, dass man den Peer aufteilen kann, damals sogar auf Vater und Sohn, der Vater führte zugleich Regie. Später gab es dann regelrechte Peer-Splittings, der Sieben-Stunden-Gynt von Peter Stein an der Schaubühne hatte nicht weniger als acht Peers, wobei Bruno Ganz zum Beispiel zweimal zum Einsatz kam. Auch Robert Schuster frönt in Bad Hersfeld, wenngleich natürlich auf seine eigene Weise, dem Splitting: er hat den kleinen Peer als Puppe, er hat Christian Nickel und dann noch drei weitere Namen.
 
Es gibt Peer, den Visionär (Pierre Sanoussi-Bliss), Peer, den Ökonomen (André M. Hennicke) und Peer, die Naturbesessene (Anouschka Renzi). Diese drei treten in einer merkwürdigen Show auf, in der Nina Petri als Dr. Begriffenfeld (das „dt“ bei Ibsen verlor ein „t“) einen dubiosen Fernsehauftritt moderiert, in dem Peer Gynt nicht wie bei seinem Erfinder Kaiser werden will, fast gleich welchen Reiches, sondern Präsident. „Peer Gynt for President“ ist da zu lesen und die weiß gewandete Show-Masterin puscht den Kandidaten, der in seinen drei Figurationen und zugleich als Christian Nickel fiktive Wähler oder was immer zu gewinnen sucht. Und damit sind wir bei einer von mehreren Unentschiedenheiten der Inszenierung. Wer das Stück aus der Irrenhaus-Situation heraus entwickeln will, hat einer anderen Logik zu folgen als der, der eine All-inclusive-Situation auf einem Pseudo-Traumschiff mit Daueranimation ausspielen möchte. Mir hat sich in Bad Hersfeld nicht erschlossen, was wirklich gewollt war: Was war Spiel, was Spiel im Spiel und was Spiel im Spiel im Spiel? Warum kommt der vierte Akt vor dem dritten, wann ist Rückblende Rückblende, wann einfach nur alles Versuch, ein mutwillig zerstörtes Puzzle neu und unpassend zu ordnen?
 
Vielleicht folgen Versuche, mir will das Wort kaum in die Tastatur, ein Ganzes in seine Teile zu zerlegen, um sie anschließend in willkürlicher Neuzusammensetzung zu „dekonstruieren“, einem irrigen Denkansatz: wer strukturalistisch denkt, denkt äußerlich, nicht substantiell, ihm ist das Ganze nur Addition seiner Teile, und Additionen, das lernte man früher bereits in der Grundschule, führen zur selben Summe, in welcher Reihenfolge die Summanden auch immer stehen, solange kein Zusatz hinzutritt. Im Theater ist das nicht so, es macht keinen Sinn, „Wallensteins Lager“ an „Wallensteins Tod“ anzudocken, und wenn der Wald von Birnam schon beim ersten Auftritt der Hexen in „Macbeth“ umher marschierte, würde das gegen den Regisseur, nicht gegen Shakespeare sprechen. In Bad Hersfeld ist das Personal des „Peer Gynt“ auf der Bühne, es ist auch überwiegend der Text von Ibsen im Dialog und doch erschließt sich das Dasein der Herren von Eberkopf (Pierre Sanoussi-Bliss), Cotton (André M. Hennicke), Ballon (Tilo Keiner) schlicht gar nicht: sind sie Anstaltsinsassen, die Therapie-Gruppe spielen, sind sie Animationsopfer, die therapiert werden müssen, wer sind sie überhaupt? Warum spricht der Norweger Peer mit seiner norwegischen Solvejg englisch?
 
Geradezu verheerend finde ich die nahe liegende Idee, die Trolle, die Henrik Ibsen in sich selbst spürte, wie überliefert ist, die Märchenfiguren der norwegischen Folklore sind und wichtige Inspiratoren für das „dramatische Gedicht“, wie „Peer Gynt“ ja im Untertitel heißt, als solche Trolle zu nehmen, die in der Internet-Welt agieren und per Definition Personen sind, die nur Beiträge ins Netz stellen, die andere provozieren sollen. Diese Trolle kommen, wie alles in der Computer- und Netzwelt aus dem Englischen. Nur weil dem Neuwort eine Bildlichkeit zugeordnet werden musste und man damit umgekehrt unglücklich an die Märchentrolle geriet, sind solche Überkreuz-Assoziationen überhaupt denkbar. Trolling als Fischen mit einer Schleppangel hat mit den Trollen in Norwegen arg wenig zu tun, der Trollkönig aber ist scheinbar zwanglos in einen Netzkönig zu verwandeln und man hat ohne Mühe ein verlockendes Anspielungsfeld. Das zu durchaus lustigen Ideen verführen kann, das ist unbenommen, den „Peer Gynt“ aber modernisiert es so wenig wie es ihn aktualisiert. Man muss nicht Purist sein, um hier Anstoß zu nehmen. Ibsens Trollkönig verkörpert eine andere für Peer Gynt inhumane Lebensmaxime, kein Herrschaftsgefüge heimlicher Machtstrukturen.
 
Zu den zweifelsfreien Stärken der Inszenierung gehören für mich teils frappierende Einspiele auf zwei mobilen Großbildschirmen, die Bilder teilen und zusammenfügen und die Realspiel mit Bild auf eine Weise kombinieren, die im letzten Akt, als das Schiff auf die Zuschauer zu fährt, einfach nur begeisternd sind. Da sieht man, dass es keineswegs Sünde ist, Details einer Inszenierungsidee sich verselbständigen zu lassen. Das Detail bestimmt die Toleranz des Zuschauers und eine rutschende Flasche auf Deck ist ebenso wie ein untergehender und wieder auftauchender Koch ein Detail, dem man sich gern ausliefert. Der afrikanische Akt des Gynt-Erlebens ist in Hersfeld weitgehend gestrichen, auch deshalb wirkt die plötzlich einfach da stehende Anouschka Renzi als Anitra so seltsam deplatziert. Deshalb fragt sich: Warum nennt sie ihn einen Propheten? Den Sklavenhandel, mit dem Peer Gynt in seiner Amerika-Zeit sein Geld und Gold verdiente, verwandelt Robert Schuster in einen Organspendenhandel. Solche Befrachtungen braucht das Spiel aber gar nicht. Sie führen abseits, wobei das Abseits nicht gleichbedeutend mit Sinnfreiheit ist. Es bleibt die Frage: Kommt Christian Nickel zu großem Format erst am Ende, weil er vorher seine Figur einfach nicht entwickeln durfte?
 
Natürlich hat der Hauptdarsteller schon früher seine Momente, nur ist fraglich, wie sich eine Person ohne innere Folgerichtigkeit spielen lassen soll? Einfach unverbunden sprunghaft? Als Nummern-Revue? Eben setzt er zur Erzählung von seinem imaginären Rentier-Ritt an, dann ist er lüsterner Verführer, der eine fremde Braut auf den Schultern zur Kopulation auf die Hinterbühne schleppt, er muss dem Therapiegruppen-Zwang folgen, muss Hampel-Gymnastik mitmachen (wie das Publikum zu Beginn auch, ein Grauen, ein Grauen). Da ist der Weg sehr weit, sehr weit, der bis zur Sterbeszene mit Mutter Aase führt. Und erst der alte, der grauhaarige, der einsichtige Peer im Dialog mit der Puppe, im Gespräch mit sich selbst, in einem Fragen nach Solvejg, der zeigt plötzlich einen Mimen, dem das Hersfelder Publikum nicht umsonst schon Kränze geflochten hat in den Vorjahren. Wegen des späteren Beginns (der rote Teppich mit Foto-Shootings zog sich hin) endete diese Premiere erst deutlich nach Mitternacht. Schlussbeifall hörte ich schon emphatischeren, das Ensemble, sich verbeugend, wirkte vor allem erleichtert, erst danach erfreut und dankbar. Das Setzen auf Prominenz aus dem Fernsehen bewährt sich und bleibt dennoch fast gleichermaßen riskant: von Fall zu Fall.
 
Denn es ist eben nicht das Wichtigste, ob die Stars sich in Bad Hersfeld wohlfühlen, sondern ob sie den Erwartungen genügen, so irrational die mitunter sein mögen. Simone Kabst etwa sammelte schon Szenenbeifall, als das Publikum noch auf die Sitze strömte: mit yogaartigen Übungen und ohne Text. Als Senni trug sie dann bei zur Ernte, wobei man stets das Programm zu Rate ziehen musste, um jeweilige Kleinrollen zu identifizieren. Ob Andreas Schmidt-Schaller mit Stock sich in dieser Netz-König-Rolle wirklich wohl fühlte, wage ich für mich nicht zu entscheiden, der Wechsel- und Synchrondialog mit Corinna Pohlmann jedenfalls wie auch das Zusammenspiel mit den gleich vier Schmidt-Schaller-Masken war sehenswert genug. Und jedenfalls von hohem Eigenwert. Irritieren sollte offenbar der Auftritt André M. Hennickes als Zitat seiner selbst in der Rolle des Blutrichters Freisler vom Leipziger Volksgerichtshof der Nazizeit, der sich seines Urteils gegen die „Weiße Rose“ rühmte. Irritieren sollte vielleicht nicht die Einbeziehung zweier afghanischer Darsteller: Leena Alam als Solvejg, Nasir Formuli als Fellache, beim ersten Auftritt sind beide nur Mann und Frau: „die sind zugewandet“, „die können hier nicht bleiben“. Sie irritierten dennoch.
 
Für Nina Petri als Dr. Begriffenfeld ohne t hinten lädt die Inszenierung Robert Schusters zu gleich mehreren Assoziationen ein: Man darf an Ken Keseys „Einer flog übers Kuckucksnest“ denken, aber auch an Dürrenmatts „Physiker“. Wirklich irre wirkte von den Irren allenfalls Thorsten Kublank, der laut Programm Mads Moen, die Mumie und den Affen gab, für Mads Moen muss man bei Ibsen selbst nachschlagen. Aber die Distanz zwischen Nina Petri als Mutter Aase und Nina Petri als Dompteuse, Moderatorin und Oberanimateurin war nicht nur optisch (alles ganz in Weiß) kaum vorhanden. Das nahm der Abschieds-Szene zwischen ihr und Christian Nickel fast alles, was diese Szene, gerade diese Szene, haben kann. Nur wer in höchster Aufmerksamkeit jedem Wort folgte, ahnte vielleicht, dass da vor der wie immer imposanten Ruinenkulisse Tiefes verhandelt wurde: Was ist es, das Man-selbst-Sein? Bei Ibsen ein roter Faden, in Bad Hersfeld eher ein Blinklicht zwischendurch. Ohne Afrika fehlte der rare Ibsen-Humor mit seinen Feinheiten. Mit Leena Alam im Schlussbild gewann die Pietá-Vision des Norwegers bewegende Dimension, die über Christian Nickel gelegte Puppe wie der Tüpfel auf dem I. Dieser „Peer Gynt“ macht neugierig auf andere, vielleicht sogar auf den vom Schauspiel Frankfurt angekündigten im nächsten Mai (Regie: Andreas Kriegenburg).
            www.bad-hersfelder-festspiele.de


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