Tagebuch

22. April 2019

Ostermontage sind in Italien Tage, an denen die Bürgersteige hochgeklappt werden, Busse und Bahnen ab Mittag die regionalen Dienste verweigern, soweit wir das einst erlebten. Bei uns wandert das Bio-Ilmkreis-Kaninchen, das seit Karfreitag, zerteilt durch eine Geflügelschere, in der sauren Sahne lagerte, in den Bräter, wo es zu einer festlichen nicht-veganen Mahlzeit mutiert, die mit so genannten echten Thüringer Klößen nebst Bohnen von einer vierköpfigen Speise-Gemeinschaft aus drei Generationen vertilgt wird. Es bleibt ein Hinterläufchen für den letzten aller Schladis der Frau an meiner Seite, dem letzten, für Ausländer formuliert, scheißlangen Dienstage. Ganz langsam sind mulmige Gefühle an meiner Seite nicht mehr zu leugnen, das Räumen des Schreibtisches und der Schränke im Amt hat längst begonnen. Die Berliner Craft-Biere haben eine gewisse Neigung, ihre Etiketten erst nach Einsatz einer platinveredelten Rasierklinge freizugeben, ich habe Übung darin.

21. April 2019

Nur zwei Übernachtungen in Chemnitz, der klare Wille, nicht letztmalig hier gewesen zu sein, obwohl die Stadt selbst, dank anglo-amerikanischer Bomben und Sozialismus im nachfolgenden Aufbauwerk, nun nicht direkt zu den urbanen Kleinodien Mitteleuropas gehört. Sie haben da ein Theater, das neugierig machte, einige der Inszenierungen, die ich nun gern gesehen hätte, laufen bis Saisonende leider letztmalig. In der ehemaligen Sparkasse hat man bescheidene sieben Euro zu zahlen, um von oben nach unten sehr viel Otto Dix und sogar Andy Warhol zu sehen, es ist die Sammlung Gunzenhauser, die ich sehen wollte, seit sie 2007 eröffnet wurde. Wann immer ich auf der A 4 an Chemnitz vorbei fuhr, erneuerte ich den stillen Wunsch. Unser Hotel hat eine nette Kooperation mit einem Restaurant, in dem es einen Sekt gibt für Hotelgäste und fünf Prozent noch obenauf, falls man seine warme Mahlzeit dortselbst einnimmt. Sechs Berliner Craft-Biere als Beute.

20. April 2019

Vom Fenster unseres Hotels aus sehen wir den allgemein als „Nischel“ geführten Karl-Marx-Kopf rechterhand, die Galerie „Roter Turm“ linkerhand, den „Roten Turm“ selbst sehen wir natürlich auch. Wir sehen gegen Abend auffällige kleine und größere Gruppen jener Menschen, gegen die die Bösen in den Augen der Guten unverständlicherweise unverständliche Vorurteile haben. Je später die Stunde, um so lauter die Gruppen jener Menschen, was in den Augen der Guten auch die Bösen endlich zu akzeptieren haben. Je früher die Stunde, umso seltener und leiser jene Menschen, unter denen das weibliche Geschlecht deutlich unterrepräsentiert ist, nicht zu reden von all den restlichen Geschlechtern. 1200 Schritte waren es zum Theater, wir saßen auf Plätzen, wie sie in Friedenszeiten nur Gerhard Stadelmaier bekam und sahen zu allem schließlich noch einen wirklich eindrucksvollen Gerhart Hauptmann. Und nahmen uns heute auch die ehemalige Sparkassen-Hauptstelle zum Ziel.

19. April 2019

Mein geschmäcklerischer Geburtstagskalender erinnert mich heute an Stefan Schütz, morgen an Karl-Heinz Jakobs, der eine heute 75, der andere morgen, wenn er noch lebte, 90. Schütz hat, wenn mir nicht sehr viel entgangen ist, nur einmal für so etwas wie Aufregung im Betrieb gesorgt: als er mit seinem Wälzer „Medusa“ höchstes Lob, den Döblin-Preis und auch manchen Hieb einheimste. Sein dramatisches Schaffen wird vornehm übersehen. Als „Der Hahn“ 1990 15 Jahre verspätet in der eben ablebenden DDR gespielt wurde, in Leipzig, überschrieb ein Kritiker seinen Beitrag „Ein zäher Broiler“. Karl-Heinz Jakobs musste einst einen offenen Brief von Hans Christoph Buch über sich ergehen lassen, weil er ausgerechnet für NEUES DEUTSCHLAND eine Reihe von Beiträgen ins Leben gerufen hatte, „Die Sonntagsgeschichte“. Man wusste im Westen immer, was gut war, was man durfte, und was nicht. Ich fahre heute nach Chemnitz und gehe dort nicht nur ins Theater.

18. April 2019

Jean Ziegler, ein Schweizer, möchte den Kapitalismus zerstören. Sein Credo: wir müssen ihn zerstören, eher er uns zerstört. Immer komisch, wenn einem Uralt-Schweizer der Kapitalismus kannibalisch vorkommt. Macht kaputt, was euch kaputt macht, ist übrigens eine ziemlich staubige These, von einem gewissen Norbert Krause verfasst und von einem gewissen Rio Reiser einst in Mikrofone gegrölt. Derweil landauf, landab das alte Kinderbuch „Emil Nolde und die Detektive“ neu interpretiert wird. Man erwägt bereits die Exhumierung von Siegfried Lenz, dessen Roman „Deutschstunde“ im Alt-Westen Zwangslektüre war. Was wäre, wenn Leonardo da Vinci seine Köchin immer „alte Judensau“ genannt und ihr zweimal täglich zwischen die Beine gegriffen hätte? Raus mit der Mona Lisa aus dem Louvre, das Abendmahl zugehängt in Mailand? „Thursday for Future“? Suzie Quatro kommt nach Berlin zum Konzert, mit fast 70 in der guten alten Lederkluft.

17. April 2019

Fast schüchtern die Frage des Landrates, ob er denn das Richtige getroffen habe mit seinem Präsent zu meinem runden Geburtstag, lang ist es her, er hatte das Richtige getroffen: eine Biographie des damals noch lebenden Literatur-Nobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez mit dem Titel „Reise zum Ursprung“. Das voluminöse Buch ist inzwischen in die zweite Reihe gerutscht, der Landrat ist längst ein Ex-Landrat. Garcia Marquez ist heute schon wieder fünf Jahre tot. Ich könnte zum Vergleich einen Ex-Landtagsabgeordneten heranziehen, der mir auch ein Buch schenkte, die Frage aber unterließ, ob er das Richtige getroffen habe, denn er hatte das Falsche getroffen. So geht es. Eine Anfrage aus dem Büro des Oberbürgermeisters, worüber ich mich freuen würde, wird es auch nicht mehr geben. Es gibt eine stuhlgebundene Wichtigkeit, die man verliert, wenn man den Stuhl verliert. Man tröstet sich dann mit anderen Wichtigkeiten, die im So-und-nicht anders-Sein liegen.

16. April 2019

Unfassbar: Notre-Dame in meterhohen Flammen. Die allerersten Fotos, die ich in Paris machte, es war am 17. Mai 2002, waren wie selbstverständlich Fotos von Notre-Dame. In jungen Jahren las ich gefesselt buchstäblich bis zur letzten Seite Victor Hugos „Notre-Dame von Paris“. Im Register steht der Roman als Nummer 500 unter dem Datum des 24. Oktober 1968. Natürlich sah ich Anthony Quinn als Glöckner, Charles Laughton als Glöckner. Unfassbar: Notre-Dame, wie man die Kathedrale kennt, ist nicht mehr. Eigentlich wollte ich heute wenigstens einige Zeilen zu Anatole France schreiben, Heinrich Mann zitieren, Richard von Schaukal zitieren, an meine Dissertation denken, für die ich beinahe einen France-Roman als Material verwendet hätte, weil er Fortschritt thematisierte. Vom Quartier Latin her fotografierte ich am 16. Mai 2003 erneut Notre-Dame, fast auf den Tag ein Jahr später: der hintere Turm, der gestern einstürzte, fast genau in der Bildmitte.

15. April 2019

Ein wenig musste ich suchen, mein großes Register verlässt mich aber am Ende nicht. Als 55. Titel des Jahres las ich am 30. Mai 1981 „Es hat am Vorabend geregnet“ zu Ende, sechs Erzählungen von Fernando Namora. Es ist ein Weilchen her, dass der schreibende Arzt, der zu den namhaftesten Vertretern des portugiesischen Neorealismus zählte und heute seinen 100. Geburtstag hätte, leidlich  bekannt war. Jetzt fehlt er selbst im ZEIT-Literatur-Lexikon, KINDLER hat ihn natürlich noch. Nach und neben dem Literatur-Nobelpreisträger José Saramago, der auch nicht mehr lebt, taucht Antonio Lobo Antunes am häufigsten in unseren Feuilletons auf. Das war es dann aber auch schon beinahe. Selbst eine kurzzeitig erhöhte Aufmerksamkeit für das kleinere Land auf der iberischen Halbinsel im Falle, dass es Gastland einer hiesigen Buchmesse ist, hilft im Ganzen kaum. Eben erst bewies der großmediale Umgang mit Tschechien in Leipzig wieder die Normalität des Vorgangs.

14. April 2019

Erstmals hatte ich das zunächst zweifelhafte Vergnügen, in Meiningen eine Pressekarte für den ersten Rang, Reihe 2, ausgehändigt zu bekommen. Als ich dann aber auf meinem Platz saß, sah ich gut, erkannte fern ganz vorn unten links Anja Lenßen und Vivian Frey, oben nicht weit von mir den Intendanten, alle drei zeigten am Ende heftigen Beifall, das Gastspiel des Theaters aus Heidelberg beeindruckte also auch die Theaterpraktiker. Um „Der gute Mensch von Sezuan“ habe ich mich bisher immer zart gedrückt, war nicht ärgerlich, wenn ich wegen eines Paralleltermins verzichten musste. Nach diesem Sonnabend-Erlebnis wird sich das ändern. Meinen eigenen Text dazu werde ich trotzdem erst morgen zu Ende bringen. Wenn der erste Absatz steht, schreibt sich der Rest fast immer zügig hinterher. Nebel und Schneefall verhindern sonntägliche Spaziergänge. Ich nerve die Frau an meiner Seite mit dem Hinweis auf den morgigen letzten Montag ihres langen Arbeitslebens.

13. April 2019

„Der Feierabend eines Schriftstellers, der gute Werke veröffentlicht hat, wird vom Publikum mehr geachtet als die betriebsame Fruchtbarkeit eines Autors, der nur die mittelmäßigen Werke vermehrt. Das Schweigen eines Menschen, der bekannt ist dadurch, dass er etwas zu sagen hat, macht mehr Eindruck als das Geschwätz des Redseligen.“ Geschrieben hat das Nicolás Chamfort, der am 13. April 1794 in Paris starb und den französischen Moralisten zugerechnet wird wie Vauvenargues. La Rochefoucauld, Montesquieu, Galiani, Joubert, Fürst von Ligne. Meine fünfte „Faust I“-Kritik zum gestrigen verschneiten Theaterabend in Arnstadt steht im Netz, ich war lange nicht dort, wo ich vor Jahren noch die Kämpfe um die Neu-Eröffnung erlebte und jetzt Mühe habe, den Namen der sehr engagierten Kulturamtsleiterin zu erinnern, deren Mann ein Chefarzt war, den ich auch ganz gut kannte. Mir wurde geholfen, der Chefarzt wirkte im Haus am Wollmarkt, in dem ich geboren bin.

12. April 2019

Morgen feiert Hans Christoph Buch seinen 75. Geburtstag, heute liegt sein neues Buch „Tunnel über der Spree“ in meinem Briefkasten. Ich werde es in aller Ruhe lesen und dann auch darüber schreiben. Ebenfalls im Briefkasten: Heft 1 vom diesjährigen PALMBAUM, ich sah ihn schon am vergangenen Sonnabend in Weimar, bin aber in der Reihe der zu beliefernden Abonnenten sicher ähnlich weit hinten wie auf allen Anwesenheitslisten, weil ich nicht Ackermann, sondern eben  Ullrich heiße, hinter mir folgen nur noch V bis Z. Im Heft ein Mail-Wechsel, der mir sehr bekannt erscheint, obwohl ich ihn erst jetzt zu lesen bekomme. Im Heft drei Gedichte aus dem neuen Band von Annerose Kirchner, der sehr schön im Thüringen Journal des MDR vorgestellt wurde, als ich dieses ausnahmsweise einmal sah wegen einer Razzia in Ilmenau. Im Heft ein Stück Prosa von Elisabeth Dommer, das dömmer kaum beginnen kann. Liest da irgendjemand vorher die Texte?

11. April 2019

Das war er nun: der erste Neujahrsempfang des Oberbürgermeisters, der kein Neujahrempfang war, sondern ein Jahresempfang. Der Bürgermeister ist jetzt eine Bürgermeisterin und der neue OB hat ein sieben Wochen altes Baby mit in der ersten Reihe liegen, denn sitzen kann es selbstredend noch nicht. Die junge Frau neben dem Oberbürgermeister ist die Gattin des Oberbürgermeisters nebst Mutter seiner Kinder, was gut ankommt. Die neue Bürgermeisterin begrüßt die Gäste wie das der alte Bürgermeister mit dem Pferdeschwanz auch tat, der jetzt Beigeordneter der Landrätin ist. Die Landrätin umarmt den neuen Oberbürgermeister, was sie mit dem alten Oberbürgermeister so nie  tat. Dafür brachte sie immer die Genehmigung für den Haushalt mit, was diesmal ausfiel, weil der Haushalt heute erst beschlossen wurde. Am 28. August 2010 lobte ich Sigrid Damm in der TA für ihr Ilmenau-Marketing in „Goethes letzte Reise“, Ilmenau dankt ihr spät mit einer Ehrenmedaille.


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