Tagebuch

16. März 2019

Läge Ilmenau auf den Lofoten oder den Orkney-Inseln (wo man sehr anständiges Bier braut nach dem schottischen Reinheitsgebot), könnte man sagen: so ist es halt auf Lofoten und Orkneys: es stürmt, auch wenn es nicht zugleich schneit. Hier aber macht uns der Dauersturm langsam wuschig. Ich werfe eben einen Blick aus dem  Arbeitszimmerfenster, aus dem ich das ganze Stadtpanorama erblicke, als ein Vogel ins Blickfeld fliegt, etwas quer im Schnabel tragend. Es ist weder der Ulmer Spatz noch die kleine weiße Friedenstaube. Für einen Spatzen ist der Vogel klar zu groß, für eine Friedenstaube ist der Weißanteil im Federkleid zu gering. Es ist, um es kurz zu machen, eine Elster, also jener Singvogel, über den ich schon einmal schrieb. Er befindet sich mit seiner Partnerin (oder sie mit ihrem Partner) mitten im Nestbau, es sind emsige An- und Abflüge zu verzeichnen, die werkzeugfreie Schnabelarbeit ist stressig. Doch das Nest wird wegen Sturmes einfach nicht fertig.

15. März 2019

Die ersten Buchmesse-Beilagen liegen auf dem Stapel, der Rest ist bestellt. Im Kroatien-Krimi gibt es etwas, das ich mit jeder neuen Folge neu faszinierend finde. In fast allen anderen Krimis sind die jeweiligen Vorgesetzten von mehr oder weniger viel Inkompetenz gezeichnet. Sie haben Angst vor der nächsten Pressekonferenz, dem Polizeichef, dem Innenminister, bisweilen sogar vor der Wahl. Hier aber, in Kroatien, steht die Kommissarin regelmäßig vor einem nur als Realsatire zu deutenden Geronten-Klüngel von Mann-Mumien, dem Aussehen nach noch älter und seniler als der halbtote Präsident Algeriens, der trotzdem nach einer neuen Amtszeit giert. Was für ein albernes Kriminal-Politbüro sitzt da immer inquisitorisch beisammen? Beim Stöbern in meinen umfänglichen Archiv-Beständen zu Christa Wolf stoße ich auf ein Artikelchen, das ich am 17. März 1989 drucken ließ, anlässlich ihres 60. Geburtstags, am Sonntag neu nachlesbar in meiner Rubrik ALTE SACHEN.

14. März 2019

Nachtrag: Die intensive Haus-Betreuung für mich endet mit heutigem Donnerstag. Ich sehe nur noch aus, als wären mir zwei Kaugummi in die Backentaschen gerutscht, es wird einige Menschen geben, die mich schon auf den ersten Blick erkennen. Auf meinem rechten Handrücken zeigt sich ein solider braungelbgrüner Fleck, dort fusionierte die Infusion mit meiner in der Rückenlage befindlichen Leiblichkeit am Montag, was mich zwar bei Bewusstsein ließ, die mich umgebende Welt aber in eine gewisse Drittrangigkeit versetzte. Da die Donnerstagsbrötchen ohne mein Zutun bereits gestern ins Tiefkühlfach wanderten, muss ich heute nur Zeitungen holen, was ich stadtwärts zu Fuß und heimwärts per Bus abwickele. Noch am Montag lag plötzlich massig Schnee, heute nur heftiger Wind, heftiger Nieselregen. Der dicke Ast, vom Wochenend-Sturm bedrohlich nahe unseres Parkplatzes als Gefahr für Nachbars- und KITA-Kinder hinterlassen, ist in zwei Schritten beräumt.

13. März 2019

Nachtrag: Ich setze meine gestern begonnene Hauptbeschäftigung fort: ich döse oder schlafe vor mich hin, nehme weitgehend flüssige Nahrung zu mir. Der Versand meines Fußballgesichts in den Bilderrahmen, den nur die Empfängerin und die sie ebenfalls beliefernden Teilnehmer sehen auf ihrem Smartphone, löst eine Zwergwelle des Mitgefühls aus, ein Rat an die mich betreuende Rest-Urlauberin lautet: mich gut zu verstecken. Ich verstecke mich aber schon selbst. Genannte Rest-Urlauberin genießt morgen in sechs Wochen den letzten Arbeitstag ihres Lebens mit dem, was man früher einen Ausstand nannte, früher, als man zum Aktivisten noch ernannt wurde mit einer kleinen, in Ostmark ausgezahlten Sofortprämie und sich nicht selbst zum Aktivisten kürte, nur weil man ständig mit handgemalten Plakaten herumreist und auf Kamerateams wartet, die die mehr oder minder interessanten Inszenierungen für die Nachrichten filmen. Ich liebe meine Rest-Urlauberin.

12. März 2019

Nachtrag: In der Tat suggeriert mir der morgendliche Blick in den Spiegel den Anblick eines mit mir nicht identischen Menschen mit einem fußballartigen Mondgesicht. Der mir nach meiner gut zweieinhalbstündigen Operation ausgehändigte Beipackzettel kündigt mir Tage der Enthaltsamkeit an: Rauchverbot, Alkoholverbot, die ersten weichen Nahrungsmittel nach dem Ende der Betäubung. Möglichst keine koffeinhaltigen Getränke, Spülen mit Chlorhexamed ohne Nachspülen, morgens und abends ein Mittelchen namens Amoxi-Clavulan Aurobindo. Von dem ich die erste Tablette eine Stunde vor dem Eingriff bereits einzunehmen hatte. Der Verzicht auf Nikotin fällt mir leicht, der Verzicht auf Alkohol, nun ja, nicht ganz so leicht. Statt meines geliebten Schwarztees braue ich mir heute eine Kanne mit Nana-Minze aus Marokko, ein Geschenk aus dem vorigen Jahr, das so endlich die gebührende Ehre erfährt. Ibuflam 600 soll ich nach Bedarf nehmen, ich habe spürbaren Bedarf.

11. März 2019

Zweieinhalb Stunden sind eingeplant für meinen heutigen kiefernchirurgischen Runderneuerungs-Eingriff, ich bin bestens vorinformiert, vorbereitet von Erfahrungsträgern und Tröstern, ich sah jedes Detail auf dem Computerbildschirm, weiß, was wo gemacht wird und wie ich mich fühlen werde. Glücklicherweise gehöre ich nicht zu denen, die vorab den Heldentod aus Angst sterben, ich neige zu einer gewissen zuschaltbaren Schicksalsergebenheit, außerdem werde ich mittels Spritze in einen Zustand überhöhter Toleranz gegenüber der Schlechtigkeit dieser Welt versetzt, weshalb ich abgeholt werden muss, wenn alles vorbei ist, weil den eigenen Beinen in Kombination mit dem eigenen Kopf für eine längere Weile eher weniger zu trauen ist. Vermutlich wird morgen unter Anti-Biotikum, Schmerzmittel und Gesichtsschwellung keine Schreibleistung von mir zu erwarten sein, die der weltweiten Öffentlichkeit zuzumuten wäre, weshalb ich mich auf ein Schweigen einstelle.

10. März 2019

Schon wieder das dritte Frühstück und damit Abreise-Action. Beim Entsorgen des Leerguts fällt eine ganze Batterie gleicher Sektflaschen auf, es gab eine Hochzeitsfeier im Haus, während wir unsere vier Gänge bearbeiteten, eine Mini-Band spielte im anderen Raum zum Tanz auf: Mittwoch, Sonnabend und Sonntag ist hier Schwoof laut Werbung am Hotel. Das hatten wir vor Jahren in Bad Steeben, wo wir stets staunten, wie groß der Tanzeifer sein kann in den oberen Altersgruppen. Aus mir wird in diesem Leben kein Tänzer mehr. Unterwegs bisweilen Regen, nach genau einer Stunde in Ilmenau-West von der Autobahn herunter und noch zwei kleine Erledigungen, ehe sich unser arg gefüllter Kofferraum in den Fahrstuhl ergießen musste. Die Hälfte des Weinvorrates wieder ins Regal, neun von zwölf Bieren aus dem örtlichen Markgrafen-Getränkemarkt bleibt für zu Hause. Aus Dresden noch vor dem Tatort alle guten Wünsche für meinen morgigen chirurgischen Montag.

9. März 2019

Gönne den Gattinnen einen ruhigen Einkauf in der Stadt, dann bist du mit zufriedenen Gattinnen unterwegs. Du kannst währenddessen, den Schrittzähler am Arm, erst in Richtung End wandern, dann zur Reha-Klinik, die bis 1966 eine Lungenheilanstalt war, was auf gute Luft hier schließen lässt und zurück zum Hotel. Ein wenig Lektüre, bis die Tür sich öffnet, die Schnäppchen präsentiert werden, dann kurz entschlossen nach Bamberg. Wir waren 1993 zuletzt in Bamberg, den dortigen überaus berühmten Reiter auf seiner Säule im Dom sahen wir damals gar nicht, jetzt schon. In der Hotel-Sauna schwatzte ich mit einem Mann aus der Heilbronner Gegend über Dampflokomotiven und Thermen. Christa Wolf: „Sozialistisches Bewusstsein für die Masse ist erst bei weitgehender Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu erreichen. Mit Ideen allein geht es nicht.“ Vor 40 Jahren wäre das etwas zum Herumtragen gewesen. Zum Abend das 4-Gänge-Menü. 13393 Schritte sind Hausrekord.

8. März 2019

Wir sind im Zimmer 52 diesmal, eine Etage tiefer als zuletzt, dafür die Zweier-Delegation aus Dresden unmittelbar nebenan und den guten Blick in die Gegend wie gehabt. Den Begrüßungs-Cremant von der Loire haben wir eben noch geschafft, ehe wir zur Mahlzeit schritten. Heute ist die Obermaintherme unser Tummelplatz. Sieben Saunagänge verteilen sich über den Tag, darunter zweimal der Fünf-Sterne-Premium-Aufguss, einmal der Nothelfer. Der volle Parkplatz täuschte, innen verteilte sich alles ganz gut. Wir trieben im Solebecken umher. Mit Christa Wolfs „Moskauer Tagebüchern“ kam ich sogar ein paar Seiten voran. Sie registriert altmodische Kleider in Moskau, aber auch: „Es gibt hier keinen Snobismus, in keiner Sache.“ Max Zimmering, schreibt sie, sei „von einer atemberaubenden Plattheit“. Das ist eine hübsche Formulierung. Peter Huchel ist für sie ein „eitler Fratz“. Das muss Gatte Gerhard als Nachlass-Herausgeber kommentierend zurechtrücken.

7. März 2019

In Deutschland ist dies der Tag der gesunden Ernährung, ich werde sofort, wenn ich im Hotel angekommen bin, das Vier-Gänge-Menü, welches im Preis inbegriffen ist, gleich für heute Abend reservieren lassen, damit wir morgen früh umgehend mit der Gesundheit beginnen können. Ich führe drei Flaschen Cremant mit mir, wir haben auf zwei Geburtstage nachträglich anzustoßen und ich führe ein lustiges Spiel mit mir, weil wir während des Trinkens gern spielen. Es ist ein Spiel, das die Schweizer erfunden haben, die nicht nur bei den Hustenbonbons führend sind. Den morgigen Frauentag verbringen wir mit einer je fünfzigprozentigen Frauenquote. Wir werden uns erinnern, wie wir vor, sagen wir 55 bis 60 Jahren, als Indianer verkleidet Cowboys an südthüringische Bäume banden, um dann ein wenig um sie herum zu hüpfen und krumme Speere schwangen. Ich jagte einst sogar unseren Hahn, in der Hoffnung, er verliere eine seiner Schwanzfedern für den Kopfputz.

6. März 2019

Dies ist der 90. Geburtstag von Günter Kunert, den ich vor allem damit zubrachte, über Günter Kunert zu schreiben. Mein Arbeitszimmer ist zwischendurch fast unwegsam geworden, ich habe Trittbänkchen aufgestellt, Ordner aus dem Regal gezogen, Dateien geöffnet und Schreibmaschinen-Typoskripte gesichtet. Kleinkarierte Blätter aus DDR-Schreibblöcken, auf die ich einst Gedichte abschrieb, jedes Blatt ein Gedicht, Platz für spätere Interpretationen und Bemerkungen, ganze Bände, die sich nicht in meinem Besitz fanden, sind so in meiner Handschrift für spätere Reißwölfe überliefert. Ich schnitt aus, was ich in heutigen Zeitungen fand, es war verblüffend viel, ich druckte aus, was meine e-paper-Zugänge hergaben, es war verblüffend viel. Blätter mit Bezahlschranken boykottiere ich, www.eckhard-ullrich.de hat auch keine Bezahlschranke. Günter Kunert ist knapp vier Monate jünger als meine Mutter. Wie man 90 ist, weiß ich also ziemlich genau, Glückwunsch!

5. März 2019

Wie auch immer: heute jährt sich der Tag der späten Uraufführung der im Jahr 1929 zu Papier gebrachten Posse „Rund um den Kongress“ von Ödön von Horvath. Die einschlägige Literatur hat zwei Jahre im Angebot: 1959 und 1969. Für beide Jahre wird als Haus der Uraufführung das Theater am Belvedere in Wien genannt, es handelt sich dabei um ein Theater, das der Google-Suche tapfer widersteht. Regisseur der Uraufführung war Irimbert Ganser, den ich um seinen Vornamen nicht beneide, auch er widersteht der Google-Suche außerordentlich tapfer. Mit etwas Mühe findet man noch die Namen der für Bühne und Kostüme Verantwortlichen und dann ist schon Feierabend. Immerhin hat der ewige Horvath-Experte Traugott Krischke, den ich um seinen kompletten Namen nicht beneide, eine Uraufführungskritik als Zeitungsausriss in seinem klassischen Dokumentenband veröffentlicht. Zu Rewe und zurück sind es 1200 Schritte, ganz unabhängig von Regen und Sturm.


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