Tagebuch

10. November 2019

Fünfzehn Jahre nach dem Tod meines Vaters finde ich in einer Mappe mit sämtlichen Urkunden und Auszeichnungen, neben einer Schachtel mit den zugehörigen Medaillen und Orden, darunter rein gar nichts von Bedeutung oder gar „Höhe“, er blieb ewig Oberlehrer, während junge Spunde längst zum Studienrat befördert wurden, vier runde bunte Scheiben, Durchmesser zehn Zentimeter. Es sind Zielscheiben, auf die mein Vater am 28. September und am 10. November 1943 als Unteroffizier schoss. Er war im Gegensatz zu mir ein guter Schütze. Und ich finde eine vorgedruckte Karte der SED-Kreisleitung Ilmenau mit einem „Glückwunsch zum neuen Jahr“, auf deren Vorderseite der sowjetische Außenminister Molotow zitiert wird anlässlich des fünften Jahrestages der DDR 1954: „Deutschland wird wiedervereinigt werden“. Da hatte er ausnahmsweise einmal Recht, nur kam er eben 35 Jahre zu früh. Das Leben bestrafte ihn trotzdem, es denkt bei Molotow nur an Cocktails.

9. November 2019

Natürlich weiß ich, wo ich war, als Schabowski und so weiter: vor dem Fernseher. Der lokale Rasiersender MDR Jump sendet heute den Sound der Wende, überall plärrt einem das Wort Freiheit entgehen, Marius Müller-Westernhagen verhöhnt mit seiner Edel-Phrase „Freiheit ist das einzige, was zählt“ schätzungsweise zwei Drittel der Menschheit, die auf Freiheit scheißen würden, wenn sie stattdessen etwas zu essen, sauberes Wasser oder auch nur eine benutzbare Toilette hätten und nicht ins Maisfeld kacken müssten, um dort dann von notgeilen Hindu-Männern vergewaltigt zu werden. Wir haben nicht von hiesigen Hartz-IV-Menschen geredet, die mit ihrer fetten Knete die tolle Reisefreiheit oder die tollen SUV-Sonderangebote sämtlicher Autofirmen nicht nutzen können, weil die fette Leberwurst auf dem überlagerten Toast aus der Tafel Kreativität bremst in Haupt und Gliedern. Ich kann Mauerfallbilder von der bunten Seite der Mauer her einfach nicht mehr sehen.

8. November 2019

Nichts von Beruhigung, nach dem Ende des exzessiven Kaufrausches ging es weiter mit dem ganz alltäglichen Kaufrausch. Summiere ich, was an einzelne Versandhäuser (alle natürlich im Westen) gezahlt wurde seitens meiner Eltern, später nur noch seitens meiner Mutter, dann ahne ich, was man mit all dem Geld hätte Schönes und Gutes anfangen können, vor allem die beiden selbst natürlich. Es lohnt die Überlegung, ob dies ein Generationsverhalten war: Not durch extreme Überfülle zu kompensieren. Ich weiß von einer Frau, die Berge von Fleisch in ihren Gefriertruhen bewahrt für fiktive, von ihr vermutlich gar nicht wirklich befürchtete Notzeiten. Abends die zweite katholische Weinverkostung, ein Tropfen besser als der andere. Die erste Hälfte „Das Magazin“ liegt nunmehr in meinem Keller, wo vorher die alten SPIEGEL lagerten, die nun dem Altpapier anheimgefallen sind. Morgen verschwinden in Gehren Schrank, kleines Sofa und Sessel aus dem kleinen Zimmer.

7. November 2019

Ich schreddere Rentenbescheide und gewinne den Eindruck, dass die Deutsche Rentenversicherung wesentlichen Anteil an der Abholzung der Wälder und somit am Klimawandel haben muss. Denn Jahr für Jahr versenden sie pfundweise Papier an Millionen Rentner mit Bescheiden, geänderten Bescheiden, Neuberechnungen, Nachzahlungen, Begründungen der nicht sofortigen Auszahlung von Nachzahlungen, Dokumentation der Zinsen, die aufliefen. Man bekam bei der DRV Zinsen, die heute jedes Sparerherz nahe an die Hyperventilation bringen würden. Anfang 2005 gab es allein 1200 Euro an Zinsen für eine Nachzahlung an meinen Ende 2004 verstorbenen Vater. Immer noch und immer wieder Überraschungen im Nachlass: Totenschein für meine Schwester, Freigabe zur Bestattung ab 20. November 1950, Versandhausrechnungen aus den Jahren eines fast exzessiven Kaufrausches 1991 bis 1993, danach Beruhigung, Ärger über manches Blendwerk der Kataloge.

6. November 2019

200 Kilometer sind es bis zum Buchdorf Mühlbeck. Wir luden am Morgen alle 44 Kisten auf den Transporter, via A 71 und A 38 waren wir gegen 12 Uhr vor Ort. Der Bürgermeister hatte eigens einen zusätzlichen Raum zur Verfügung gestellt für unseren Bücherberg. Angenehmes Gespräch mit der Chefin des Hauses Dorfplatz 15, wir sahen Büchermengen, die sortiert sind, die sortiert werden müssen, leere Bananenkisten für alle Fälle. Heimzu die falsche Richtung auf der A 38, also Umweg. Kaum Zeit, an den 6. November 1994 zu denken, meine allererste Reise nach Brüssel mit der Europäischen Akademie Arnstadt und dem Collegium Jenense, Beginn einer langen, durchaus freundschaftlich zu nennenden Beziehung zu Professor Timmermann, der mich auch später sehr regelmäßig zu seinen Reisen einlud. Am 6. November erstmals im Leben in Aachen. Im Hotel „Gerfaut“ wohnte ich nur dieses eine Mal, Zimmer 304, später war es immer das Hotel „Van Belle“.

5. November 2019

Der Ladestein, der mir gestern vom Herzen fiel, als ich die Kartonberge sah, die für uns gesammelt worden waren, mündete heute in den allerersten entspannten Lesevormittag seit fünf Wochen. Den zweiten Band von Theodor Fontanes Darstellung „Der deutsche Krieg von 1866“ legte ich mir  gestern bereits auf den Arbeitsplatz, Lesezeichen auf Seite 115. Diese Kriegsdarstellung ist nicht im Ansatz mit sonstiger Prosa Fontanes zu vergleichen. Mein Interesse ist allein sachlicher Natur, nachdem ich vor Jahren die Düppeler Schanzen sah in Dänemark und später las, was Fontane dazu schrieb. In Gehren stapeln sich nun für morgen nicht weniger als 44 Bananenkartons voller Bücher, nach den Faustregeln der Kenner an die 1800 Bände. Im Testament meiner Eltern vom 27. Februar 1988 gilt den Büchern ein eigener Punkt, der glücklicherweise nur die Pflichten beider Parteien, nicht meine regelt. Bei den letzten drei Kartons hätte ich heulen müssen, habe aber nur Muskelkater.

4. November 2019

Nach dem Arbeitseinsatz an der Haushaltsauflösungsfront nach unserer Heimkehr heute erst der Text zum Horvath in den Kammerspielen. Ich graste ein wenig nach Regisseur Kruse, den vor Jahren der alte Augstein wegen seiner „Hamlet“-Inszenierung im SPIEGEL abwatschte und der danach 1994 ausgleichend porträtiert wurde. Seit 2002, wenn ich es richtig sah, schweigt sich das Hamburger Nachrichtenmagazin aus über den Hamburger Kruse. Unsere vorwöchige Bitte um Bananenkartons zum Büchertransport fand ein überwältigendes Echo, REWE überbot alles, was wir uns hoffend ausgemalt hatten. Ich freilich kombiniert mit dem Alptraum, dass wir die Ladung nicht sicher verstaut bekommen mangels Kartondeckeln und anhängender Stabilität auf der Ladefläche. Wir füllten und stapelten, das große Regal leerte sich rasant, Restarbeiten für morgen bleiben noch. Wir essen in Gehren und sind noch am Abend satt, als der ZDF-Dreiteiler zum DDR-Ende begann.

3. November 2019

Beinahe hätten wir uns nach dem Theater in einen Laden gesetzt, der 7,80 Euro für ein Glas Wein wollte. Wir flohen und landeten nach Fahrt mit der Kleingruppenkarte am Savigny-Platz, wo uns ein ganzer Liter für 23 Euro kredenzt und für den späten kleinen Hunger Pizzabrot gebacken wurde, das gar nicht auf der Speisekarte stand. Das ist die Art Gastronomie, die der Osten an sehr vielen Orten auch 30 Jahre nach dem und so weiter nicht erlernt hat. Heute schon wieder Heimreise, der ICE kommt pünktlich, handelt sich aber bis Wittenberg 10 Minuten Verspätung ein. In Erfurt sind wird dann schon wieder vorzeitig und haben zur Belohnung keine Einfahrt. Heute wäre Joachim Seyppel 100 Jahre alt, zu dem ich ohne Todesfall ganz sicher etwas geschrieben hätte, schon wegen der dissidentischen Artikelkopien meiner Studienzeit, die aus dem Westen in meinem Ostberlin landeten und noch heute verblassend mein Archiv zieren. Seyppel schrieb auch etwas zu Fontane.

2. November 2019

Natürlich kennen wir in Berlin viele Ecken nicht. Heute führt uns die Familien-Expedition ins Unbekannte nach Kreuzberg. Wir bestiegen selbigen, sahen im dortigen Victoria-Park oben „Das Nationaldenkmal“, von dem wir nie etwas gehört hatten, das Nationale gehört nicht zu den Berliner Lieblingsdingen. Der Wasserfall schon stillgelegt, der Blick auf die Großbeerenstraße lässt sich nicht stilllegen. Anders als Hamburg seinen Bismarck lässt Berlin immerhin sein 1813-Memorial nicht zuwachsen. Wir laufen die Bergmannstraße ab, sehen Nebenstraßen, die wie Kopien aus Karlsbad anmuten. Wir essen in „Rocco und seine Brüder“ überraschend gute Sachen und haben noch genug Zeit, um uns auf den abendlichen Theatergang einzustimmen nebst Vorbereitung. Ich freue mich auf mein erstes Mal „Glaube Liebe Hoffnung“, nach reichlich zwei Stunden ist alle Freude dahin, ich lernte eine Regie kennen, von der ich keine weiteren Proben zu erleben wünsche.

1. November 2019

Wir fühlen uns gut aufgehoben in dem Hotel, in dem ich schon namentlich begrüßt werde, nachdem ich die selbsttätige Tür passiert habe. Die Abläufe wiederholen sich: wir stellen unser Gepäck unter, weil das Zimmer erst um 14 Uhr zur Verfügung steht, wir eilen zu unseren Lieblingsgeschäften, ich will endlich meinen Geburtstagsgutschein einlösen und bekomme tatsächlich das Buch zum halben Preis, von dem ich hoffte, es zu finden: den Ehebriefwechsel von Eva und Erwin Strittmatter. Dazu gibt es, ebenfalls zum halben Preis, den ersten Band der neuen Hesse-Briefausgabe: 1881 – 1904. Im Kindergarten werden wir erwartet, in der Schule werden wir erwartet, es ist sehr kalt in Berlin, wir haben nichts hinreichend Warmes mit, aber schon morgen soll es deutlich milder werden. Für uns ist heute ein privater Jubiläumstag. Der 1. November 1979 war der erste Tag unseres ersten eigenen Mietverhältnisses, somit wohnen wir heute seit genau 40 Jahren auf der Pörlitzer Höhe.

31. Oktober 2019

Noch vor der französischen Erstaufführung von Eugene Ionescos „Die Nashörner“ im Januar 1960 gab es die Uraufführung des bis heute berühmten, nur leider kaum noch gespielten Stückes in Düsseldorf unter der Regie von Karlheinz Stroux: am 31. Oktober 1959. Liest man lediglich die knappe Charakteristik des Stückes, wie sie Georg Hensel in seinem monumentalen „Spielplan“ gab, dann staunt man, wie aktuell das ist (und bleibt). Schaut man dagegen am Sonntag ins Kritikportal „Nachtkritik“, gewinnt man (vorige Woche etwa) den Eindruck, es werden überhaupt keine Stücke mehr gespielt, nur Romane, Filme, Projekte kommen auf die Bühnen, fast alle nach einer halben Spielzeit schon so veraltet wie die TAGESSCHAU-Sensationen vom vorigen Dienstag. Wer war doch gleich dieser Rezo, war das dieser dicke Grüne, der immer Wein trank? Nee, das war Rezzo, der Wein in sich als alten Schlauch füllte. Heute die finale Stromablesung am Zähler in Gehren.

30. Oktober 2019

Die Oktoberrente ist auf dem Konto, die TEAG hat in Gehren noch einmal abgebucht, die finale Abrechnung folgt nach dem Zählerablesen zum morgigen Monatsende, ich habe das Formular in Bereitschaft liegen. Den Mietvertrag für unsere Wohnung in der Talstraße 14, datiert auf den 10. November 1959, unterschrieben von Bürgermeister Alfred Koch und meinen Eltern, sehe ich zum ersten Mal, das Mietverhältnis begann am 1. Juli 1959. Vielleicht krame ich gelegentlich in meinen Erinnerungen. Ich fand auch sämtliche Quittungen zum Umzug aus der Talstraße in die Obere Marktstraße, alles in allem kostete es knapp 17.000 DM, teuerster Posten das neue Bücherregal für das kleine Zimmer. Für die Beschieferung der Wetterseite in der Talstraße gab es einst eine Hebung der Miete, ich fand auch einen Antrag auf Mietminderung wegen der Langzeitbelästigung durch die anfallenden Arbeiten. Wahrscheinlich abschlägig beschieden, Missstimmung beendet die Mietzeit.


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