Tagebuch

11. April 2019

Das war er nun: der erste Neujahrsempfang des Oberbürgermeisters, der kein Neujahrempfang war, sondern ein Jahresempfang. Der Bürgermeister ist jetzt eine Bürgermeisterin und der neue OB hat ein sieben Wochen altes Baby mit in der ersten Reihe liegen, denn sitzen kann es selbstredend noch nicht. Die junge Frau neben dem Oberbürgermeister ist die Gattin des Oberbürgermeisters nebst Mutter seiner Kinder, was gut ankommt. Die neue Bürgermeisterin begrüßt die Gäste wie das der alte Bürgermeister mit dem Pferdeschwanz auch tat, der jetzt Beigeordneter der Landrätin ist. Die Landrätin umarmt den neuen Oberbürgermeister, was sie mit dem alten Oberbürgermeister so nie  tat. Dafür brachte sie immer die Genehmigung für den Haushalt mit, was diesmal ausfiel, weil der Haushalt heute erst beschlossen wurde. Am 28. August 2010 lobte ich Sigrid Damm in der TA für ihr Ilmenau-Marketing in „Goethes letzte Reise“, Ilmenau dankt ihr spät mit einer Ehrenmedaille.

10. April 2019

Wer Triest denkt, denkt gern Schmelztiegel. Ich will nicht orakeln, wie viele Menschen sämtlicher Geschlechter auf Anhieb wissen, was ein Tiegel ist, in ihm kann man nämlich nicht nur schmelzen sondern auch Spiegeleier braten. Wie auch immer, in Triest wurde heute vor 80 Jahren Claudio Magris geboren. Vermutlich wäre mir sein Name nicht oder erst sehr viel später aufgefallen, wäre er mir nicht im Zusammenhang mit Joseph Roth aufgestoßen. Seinen beiden ersten Büchern über den habsburgischen Mythos und die verlorene Welt des Ostjudentums bin ich ein Weilchen hinterher gejagt, ehe ich sie fand. Dass für Triest eine eigene Mannschaft bei der Friedensfahrt startete wie auch eine seltsame andere aus in Frankreich lebenden Polen in den frühen Jahren des Radrennens, werde ich wohl erst vergessen, wenn mir mein Name entfallen ist. Kindliche Begeisterung für den Täve-Schur-Sport prägte mich anhaltend und nun werde ich wohl auch bald einmal Triest sehen.

9. April 2019

Ich habe noch eben rasch einen Blick in eine sehr kleine Schrift von Arnold Stadler geworfen, weil der heute 65 Jahre alt wird und in meinem Österreich-Regal damit nach ganz unten rechts geraten ist. Das Textchen heißt: „Anfrage zum 28. August 1999: Was sagt Ihnen Goethe?“ Stadler stellt dort Goethes Gedichte ganz weit oben auf: „Ich kenne niemand, der derart naheliegende, kühne Worte gefunden hätte für das, was war.“ Stadlers Beispiel: das Wort morgenschön. Und: „Ich staune immer wieder, dass dieser Mensch ein langes Leben lang immer wieder die schönsten Gedichte  seiner Zeit schrieb, von Anfang an und bis zuletzt.“ Staunen, meine ich, ist einigermaßen das Beste, was einer sich erhalten kann, ob hier oder in Österreich. Auf der Seite, die dem Goethe-Stück folgt, zitiert Stadler übrigens einen ziemlich unbekannten Brecht, „Über die Verführung von Engeln“. Das Buch, in dem ich blättere: „Erbarmen mit dem Seziermesser“. Schöner Titel das, Glückwunsch!

8. April 2019

Ein sehr guter Freund von mir gestand mir eines schönen Tages, er lese nur noch Bücher zweier Autoren: Christa Wolf und Christoph Hein. Ich könnte diese minimalistische Vorliebe mit beiden Vornamen familial in Verbindung bringen, unterlasse es aber ebenso wie den gendergerechten Plural. Christa Wolf ist zum abgeschlossenen Sammelgebiet geworden. Christoph Hein wird heute 75 Jahre alt und nervt mit einem neuen Buch derzeit das westdeutsche Groß-Feuilleton. Zuletzt schaffte er das mit dem Roman „In seiner frühen Kindheit ein Garten“, mit dem er sich in die ureigenen Angelegenheiten Ur-Westdeutschlands einmischte, für die Deutungshoheitsrechte auf Lebenszeit vergeben waren. Für die Groß-Feuilletons ist die Gelegenheit von Falschbehauptungen aus der Feder eines Beinahe-Groß-Autor eine gefundene Mehlspeise. Nicht nur Claas Relotius und Dirk Gieselmann: auch Hein. Ich hatte schon 1990 einen Kollegen, der ganze Interviews frei erfand.

7. April 2019

Ich hasse Max Frisch. Diese Überschrift eines Großartikels in der heutigen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung macht natürlich extrem neugierig. Wäre der Satz von mir, würde er fast niemanden interessieren. Der Satz ist aber von Sibylle Berg, der Schweizerin aus Weimar. Sie muss ihren neuen Roman vermarkten, der zwar erst am 11. April erscheint, aber vorab auch einen guten Seitenfüller liefert. Früher gab es bisweilen Sperrfristen und Streit um die strenge Einhaltung derselben. Mal sehen, welche Zeitung wie schnell nachzieht und ob Sibylle im ZEIT-Magazin die Traum- oder die Rettungsrubrik freigeräumt bekommt. Ich würde nie sagen: Ich hasse Sibylle Berg, obwohl sie mir durch das Gewese um ihre Person regelmäßig auf den Wecker geht. Ich habe auch nie gesagt: Ich hasse Elfriede Jelinek, obwohl ich seit der für meinen Vortrag über sie nötigen Hardcore-Recherche sofort von posttraumatischen Belastungsstörungen befallen werde, sobald mir ihr Name begegnet.

6. April 2019

Mein erster Gedanke gestern nach diesem Büchner in Meiningen: Lass Bulgaren aus Frankreich kommen, Gott des Theatergemetzels, dann wird alles gut. Was für ein schöner, schöner Abend! Heute geht es sicher weniger vergnüglich zu, an unserer Jahreshauptversammlung in Weimar in der Eckermann-Buchhandlung wird auch keine leibhaftige Botschafterin teilnehmen. Immerhin: ich werde in aller Stille die üblichen Gedichte belauschen, die verteilten Reden und die Debatten, die an Überraschungswert im Lauf der Jahre nicht zugenommen haben. Vor 25 Jahren besichtigten wir die Ausgrabungen von Pompeij und bestiegen den Vesuv. Wo es übel kalt wurde. Es rauchte brav im Krater, ein Bröcklein vom Vulkangestein lag jahrelang noch in unserer Durchreiche hinter Glas, es gab auch einen Stempel oben als Beleg, man sei dagewesen. Muss man dabei gleich noch an Goethe denken? Nur wegen des Namens der Buchhandlung? 2019 steht uns gleich zweimal Italien bevor.

5. April 2019

Ein merkwürdiges Gesetz der Serie führt offenbar dazu, dass ich ziemlich genau alle vier Jahre Georg Büchners „Leonce und Lena“ sehe: 2011 in Coburg, 2015 in Gera und heute in Meiningen. Mir fällt immer, wenn ich den Titel auch nur höre, die Berliner Inszenierung ein, die ich als studentischer Bewohner der Mulackstraße 25 sah: Staatsrat mit Blindenbinde am Arm, Lacher im Parkett, man verstand sich. Nur in einer Hinsicht haben uns Geschichte und Gegenwart korrigiert: Gerontokratie ist nicht an real existierenden Sozialismus gebunden, wenngleich uns Breschnews klappender Nussknacker-Unterkiefer bei sonst starrem Gesicht in ewiger Erinnerung bleibt. Wenn wir ausgestorben sind, wird niemand mehr den im Präsidium schlummernden Alfred Neumann vor Augen haben. Aber vielleicht wird zum Ausgleich vorher jemand fragen, warum Greta Thunberg so aussah, als käme sie direkt aus einem nordisch-germanischen Siedlerprojekt. Ohne Mobit-Alarm. 

4. April 2019

Die zehntausend Schritte erreiche ich heute immerhin schon zum siebten Male. Vorzeitig wandern die letzten Reisebelege in den nunmehr knackvollen Ordner Reisen VI, der mit dem Januar 2017 endet. Meine verehrte Gattin kehrt jetzt fast täglich mit Abschiedspräsenten heim von ihrem Dienst in Arnstadt. In genau drei Wochen ist es der letzte aller ihrer Arbeitstage, drei Tage später beginnt die längst geplante Renteneintritts-Reise in den tiefen Süden des Freistaats Bayern. Die geordneten Belege erlauben zum Beispiel die Rekonstruktion der Trinkfolgen in Baden bei Wien. Sie lassen erkennen, mit welchem Obstler wir in der Südsteiermark auf die Geburt unseres ersten Enkels anstießen nach einer wundersamen Käsemahlzeit, die uns zu jeder Käsesorte einen anderen Wein offerierte. Eine Rechnung aus Salzburg erinnert an eine widerliche amerikanische Hardcore-Pizza, die uns vor Augen und Gaumen führte, warum die Trump-Wähler-Heere alle so entsetzlich fett sind. 

3. April 2019

Dies ist auf Monate hin mein letzter Zahnarzttag. Ich plaudere mit der jungen Dame, die gegen ein geringes Entgelt die so genannte große Zahnreinigung an mir durchführt mit Maulsperren-Einsatz und allerlei Messdatenerfassung, über die Wirkung von Chlorhexamed. Seit Montag schmecken auch meine Weißweine wieder wie meine Weißweine, drei komplette Wochen hat das gebraucht. Warum es bei den Roten etwas schneller ging, werde ich wohl nie erfahren. Am alten Gleim bleibe ich dran, finde immer mehr in meinen Beständen, was ich gelesen haben will, ehe ich mich an die Tastatur begebe. Meine Bestände an liegen gebliebenen Reisebelegen verringern sich so auffällig, dass ich mir für diese Woche das Ende der Fahnenstange vorgenommen habe. Ich finde in der Literarischen Welt vom Sonnabend ein seltsames Schriftwerk von Broder. Wenn sich Henryk M. zum Rammstein-Versteher aufschwingt, ist tatsächlich etwas faul im Staate südlich Dänemarks.

2. April 2019

Und dennoch schreibe ich nichts zu Widmer, das bleibt anderen Situationen vorbehalten als diesem fünften Todestag. Auch Johann Ludwig Wilhelm Gleim ist heute nicht an der Reihe, der fünfzig Jahre seines Lebens in Halberstadt verbrachte, weshalb es dort ein Gleim-Haus gibt, was wiederum jeden froh macht, der über ihn schreiben will. Er kann sich an diesem Haus festklammern und muss sich nicht mit dem schwierigen Status des Mannes beschäftigen, den auch sein 300. Geburtstag am heutigen Dienstag nicht aus dem Vorurteilsnetz befreien wird, in das ihn, schon mit der Mitwelt beginnend, die Nachwelt verstrickt hat. Als Goethe 1805 das Gleim-Haus besuchte, war ihm die Zeit, die der Alte schon tot war (seit 1803), nur noch vage bewusst, sein Rückblick in den „Tag- und Jahresheften“ liest sich wie einer auf ferne Vergangenheiten. An einen Weimar-Besuch des 30 Jahre älteren „Vater Gleim“ Ende Juni 1777 erinnert er sich, soweit ich es überblicke, überhaupt nirgends.

1. April 2019

Luftkämpfe unter meinem Arbeitszimmerfenster: Beide Elstern verteidigen mit heftigem Gekecker ihr Nest, das offenbar auch einer deutlich größeren Krähe als bewohnbar erscheint. Die Krähe ist im Bewusstsein ihrer Überlegenheit hartnäckig, die Elstern sind es nicht minder. Es beginnt der letzte Arbeitsmonat für die Frau an meiner Seite. Morgen der letzte Schulausschuss nach einem vollen Vierteljahrhundert am Protokoll. Die Vorsitzenden kamen, gingen, starben, die Protokollantin blieb. Vor 25 Jahren speisten wir paradiesisch wie nie vorher und nie nachher in Italien in der Fabbrica Frattelli Menella, die wir eher zufällig fanden. Sprachen über unseren Ausflug nach Neapel und Herculaneum. Ich belichtete eine Werbung für „Ottica Ullrich“, den deutschen Augenoptiker. Hier heute Archivarbeit, nur ein kurzer Blick auf eine komplette Zeitungsseite zu Milan Kundera, der 90 Jahre alt ist und mich noch immer nicht wirklich interessiert. Anders als Urs Widmer, den ich mag.

31. März 2019

Abreise nach Umstellung auf Sommerzeit ist widerlich, denn es fehlt eine Stunde zum Auschecken. Die Temperatur ist stark abgesackt, der Himmel trübe. Wir fahren mit beiden Autos noch einmal ins nahe Markleeberg, genauer nach Markleeberg-Ost, wo wir vor knapp zwei Jahren schöne Tage verlebten und ich am Heimreise-Tag meine Tasche vergaß. Heute blieb nur mein Seepark-Prospekt im Auto des Sohnes, alles andere wurde zu Hause in gut gestaffelter Kleinarbeit ausgepackt und verstaut. Ich holte meine Zeitungen an der Tankstelle, die Post brachte die Nachbarin. Darunter ein Brief mit zwei Verlagsprospekten und einer Honorarabrechnung für verkaufte Bücher zu meinen Gunsten. Das angeblich empörende Rammstein-Video sehen wir in voller Länge, die selbstfahrende Erregungswelle brandet und natürlich ist es wie immer: Die Lampe geht an, Pawlows Hund bellt und speichelt. Ich kenne bessere Rammstein-Videos. Aber selbst Goethe schrieb nur einen „Faust“.


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