Tagebuch

31. Januar 2019

Hätte ich als älteres Kind einen Schulstreik begonnen, um die Welt zu retten, auf Freitag hätte ich ihn keinesfalls gelegt. Ich hatte an Dienstagen die Doppelstunde Sport und anschließend Russisch. Außerdem macht Streik an Freitagen wenig Sinn, wenn man am Sonnabend wieder zur Schule muss, Heute, da Samstage schulfrei sind, spricht viel für Klassenkämpfe am Freitag. Ansonsten bin ich 2018 wieder nicht unter den 500 wichtigsten Intellektuellen gelandet, die der CICERO seit einigen Jahren kürt. Der Trend des Jahres lautet: mehr Denker waren wichtig, weniger Dichter. Die Messlatte heißt Printmedien, da falle ich raus. Nicht einmal FREIES WORT zitiert mich, was schon die Höchststrafe wäre. Vor 100 Jahren, am 31. Januar 1919, starb ein Mann namens Paul Lindau, den Schelme gelegentlich einen Literaturpapst seiner Zeit nannten. Dabei war er zeitweise sogar Chef des Meininger Hoftheaters, von Herzog Georg höchstderoselbst 1895 an die Werra berufen.

30. Januar 2019

Auf dem Dach ihres Studios haben die Beatles heute vor 50 Jahren ihr letztes Konzert gegeben, der Verkehr in London soll rasch zusammengebrochen sein. Das waren noch Zeiten. Jetzt droht nicht der Verkehr in London, sondern der mit London zusammenzubrechen. Es hängt am Backstop. Um den verständlich zu machen, greift das Mittagsmagazin von ARD und ZDF in die Geschichte zurück: Im zwölften Jahrhundert, heißt es zu einer mittelalterlichen Zeichnung unbestimmten Datums, schickten die Engländer protestantische Truppen nach Irland. Das war eine Leistung. 300 Jahre, bevor es überhaupt Protestanten in der Welt gab, schickten die Engländer schon welche nach Irland. Wie machten sie das? Eine unabhängige Historiker-Kommission unter Leitung von Claas Relotius wird den Präzedenzfall untersuchen. Magnus Gottfried Lichtwer, bitte nachschlagen, hat heute seinen 300. Geburtstag. Titel seines Reclam-Buchs „Blinder Eifer schadet nur!“. Wohl wahr!

29. Januar 2019

Als ich gestern, einer leichten Regung schlechten Gewissens folgend, mein Archiv zu Hans von Oettingen befragen wollte, stieß ich auf eine blanke Leerstelle: nichts, kein Blatt, kein Ausdruck, kein Ausschnitt aus einer alten Zeitung. Von der langen Werkliste, die ich bei WIKIPEDIA fand, las ich in meinen jungen Jahren nicht weniger als 19 Titel. Dass er als DDR-Agent gegen Schweizer ausgetauscht wurde 1966, war mir unbekannt. Sein Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, den ich immer wieder einmal besuche, fiel mir nie auf, obwohl er seit 1983 dort liegt. Dass außer mir noch jemand an ihn dachte anlässlich seines 100. Geburtstages, will ich zu seinen Gunsten gern annehmen. Heute könnte man mit Oettingen-Lesefrüchten beliebte Feuilleton-Rubriken befüllen: was viele gern lesen, aber sich nie trauen würden, zuzugeben. Es war im guten alten Sinne spannend, was er schrieb, wie ideologisch es gefärbt war, habe ich glatt vergessen.

28. Januar 2019

Der Europäische Datenschutztag erinnert mich, dass die mediale Hektik um die neue Europäische Datenschutzverordnung schon wieder ein rundes Jahr alt ist. Wie immer in vergleichbaren Fällen wurde nichts so heiß gegessen wie gekocht, teilweise ist die Speise eiskalt und roh. Es starben: vor 100 Jahren Franz Mehring, vor 80 Jahren William Butler Yeats. Bei dem einen lese ich ziemlich oft nach, was er wohl so meinte, bei dem anderen nehme ich mir in gewissen regelmäßigen Abständen vor, seine 1984 im Leipziger Insel Verlag erschienenen „Autobiographien“ endlich zu lesen. Vor 75 Jahren erlebte „Die Feuerzangenbowle“ ihre Uraufführung, während in Auschwitz noch der tägliche Massenmord betrieben wurde. Kaum einen alten Film sah ich öfter im ersten DDR-Fernsehen, stets verwundert, wie alt seinerzeit die Abiturienten aussahen. Achim Reichel ist an jenem Tag geboren und deshalb heute 75 Jahre alt. Als er mit „Wonderland“ den Hit „Moscow“ hatte, war ich ihr Fan.

27. Januar 2019

Wenn mich mein Oberbürgermeister persönlich und freundlich einlädt, es darf auch der neue sein, an der Veranstaltung zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus teilzunehmen, dann komme ich trotz Wetterunbilden und harre vor der Alten Försterei aus, in der ich einst so etwas wie ein Teil-Hausherr war. Ich höre die Rede von Helmut Krause, der einst mein Mitschüler war und sich gern meine Reden zu Abiturjubiläen anhört. Er ist jetzt Ehrenbürger und trägt, was ihn ehrt, eine längere Passage von Edgar Hilsenrath vor, der erst am 30. Dezember im Alter von 92 Jahren in Wittlich gestorben ist. Ich kenne Leute, die Hilsenraths „Der Nazi & der Frisör“ über fast alles stellen, was sie sonst noch gelesen haben. In meinem Archiv finde ich Beiträge aus den Jahren 1993 bis 2008 über ihn, da gab es also ein sehr langes Schweigen. Ich kann an Auschwitz nicht so unbefangen befangen denken wie früher, ich weiß, dass es auch ein Ort der Familiengeschichte ist.

26. Januar 2019

In Dresden kann man heute im Staatsschauspiel eine Premiere erleben, bei der es mir die Schuhe ausziehen würde, falls auch nur die Hälfte von dem zutrifft, was vorab geschrieben stand. Meine Schuhe bleiben freilich am Fuß, mit Schrecken male ich mir nur aus, wie die Welt wäre, wenn Menschen wie dieser seiner eigenen Logik nicht folgen könnende Regisseur die Macht in ihren Händen hielten, die sie zum Glück höchstens an einem Theater ausüben dürfen. Volker Lösch erkennt im Theater die letzte feudalistische Einrichtung und bedient sich ihrer wie ein Feudalherr, weitab all der Gesinnung, die er in seinem Bauchladen vor sich her trägt. Ausgrenzen um jeden Preis nennt er sein Ziel. Wenn das nur Zynismus ist, könnte man mildernde Umstände anrechnen. Es ist aber mehr als Zynismus. Ein Bühnenarbeiter in Dresden fühlt sich an die späte DDR erinnert, der Journalist aus dem Westen ermahnt ihn: er dürfe das doch immerhin sagen. Es werde gedruckt.

25. Januar 2019

Wäre die ZEIT aus Hamburg ein Wurstblatt aus Hinterdupfingen, könnte man meinen, sie räche sich auf niedere Kanalarbeiterweise, weil ich ihren herrlichen Beitrag aus der Reihe „Da wollten Sie nie hin“ über Ilmenau nicht so lustig fand wie die Blattmacher und der Autor selbst. Sie räche sich mit einem neuen Beitrag über Ilmenau, in dem der Bockwurst-Bürgermeister ausführlich und leise suboptimal vorgestellt wird mit der Behauptung, vorher wäre zu wenig für Kultur getan worden,  Entscheidungen fielen über Köpfe hinweg. Nun denn, wer in Ilmenau wohnt, lebt und womöglich sogar schreibt, weiß es besser. Vor allem, dass Pro Bockwurst ohne Hilfe von gleich drei sonst gern sehr selbstbewussten Parteien, die auf eigene Kandidaten mangels Personal verzichteten, stehen geblieben wäre beim Achtungserfolg. Die ZEIT ist aber kein Wurstblatt, sie folgt nur dem unseligen Gesetz von Hund und Mann, 28 Jahre verblassen wie zehntausend Gebissene vor einem Beißenden.

24. Januar 2019

Diese Lungenärzte! In voller Kompaniestärke behaupten sie, dass das mit den Grenzwerten und dem Feinstaub gar nicht so ist, sie bezweifeln sogar die Wissenschaftlichkeit der entsprechenden Studien! Das geht gar nicht. Könnte ja sein, dass, wenn alles nicht stimmt, sich unsere Aktivisten eventuell den Fernflügen zuwenden und im Zusammenhang damit den Reiseteilen unserer Groß-Medien, die schon allein deshalb am liebsten teure Fernreisen vorstellen, weil die vorstellenden Journalisten kostenlos an diesen Reisen teilnehmen dürfen. Der SPD-Mann mit der Fliege, der immer vor die Kamera tritt, wenn es um Gesundheit geht, sagt, alles sei aus der Luft gegriffen und  neue Studien müssten erst einmal in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Beim Feinstaub gehe es nicht um die Lunge, sondern ums Gehirn. Nun frage ich mich, wie wohl Staub in einen Sozialdemokraten-Kopf gerät, ohne kurzen vorherigen Umweg über Bronchien und Lunge. 

23. Januar 2019

Thüringen schwimmt im Geld, behauptete rotzdreist die Überschrift einer hier ansässigen Zeitung in der vorigen Woche auf ihrer zweiten Seite. Keine Zeile, kein Satz des darunter lesbaren Artikels bestätigte die Behauptung des Titels. Wir haben somit einen Seitenaspekt des Themas Lügenpresse gewonnen, ohne auf der Suche danach gewesen zu sein. Wenn ein Oberbürgermeister, den ich nicht gewählt habe, sagt, Touristen seien nicht seine erste Zielgruppe, dann ist das keine Herabwürdigung des Tourismus, sondern eine Befolgung seines Amtseides. Denn Oberbürgermeister sind dem Wohl ihrer Stadt verpflichtet, ihren Einwohnern mithin (nebst Einwohnerinnen und aller Diversen) und erst danach können rein rechtlich alle anderen Gruppen folgen. Wer kein Problem hat, muss sich folglich nicht wundern, wenn ihm eins draus gemacht wird. Das Fach „Verstehendes Lesen“ wird dummerweise von Journalisten bei ihren Lesern als absolviert vorausgesetzt, was ein Irrtum ist.

22. Januar 2019

Heute vor zwanzig Jahren kehrte ich nicht nur nach einer Woche im holländischen Aelderholt nach Hause zurück, ich fand den Steuerbescheid in der Post und bekam nach 21 Uhr einen Anruf vom Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF). Ein Mann wollte von mir wissen, wie man am einfachsten an Dagmar Schipanski herankommen könnte. Er war ein wenig irritiert, dass mir nicht sofort klar war, woher dieses Interesse rührte. Bald wusste ich es natürlich: die CDU wollte sie als Kandidatin für die Bundespräsidentenwahl aufstellen. Bei erfolgreicher Wahl wäre ich dann jemand gewesen, der einmal eine leibhaftige Bundespräsidentin zur Stellvertreterin gehabt hätte. Wir erinnern uns, wie die Wahl ausging. Ich erzählte beim Abendessen vom Besuch im Museumsdorf Orvelte, wo wegen der toten Jahreszeit alles geschlossen war. Knapp 600 Kilometer lagen hinter mir, 25 Gulden an Restgeld wanderten in die Schublade mit den Devisen. Dort liegen heute nur noch alte Münzen.

21. Januar 2019

Die Immobilienseiten in den feineren Zeitungen haben, anders als die Schaufenster von Sparkassen mit ihren Angeboten, einen Hauch von Sankt Moritz. Nicht baufällige Häuser in Dörfern ohne Bäcker, Kneipe und Nachbarn unter 80, sondern Überraschungen aus der Märchenwelt. Heute fällt, purer Zufall, mein Blick auf ein Anwesen in Saalfeld, vom Anbieter ein „prachtvolles Refugium“ genannt, wobei die Angabe Saalfeld/Saale bei Erfurt ein wenig irritierend ist. Im Zug aus Saalfeld nach Erfurt kann man mit etwas Pech schon mal eine Stunde Verspätung haben. Aber immerhin. Man kann in Saalfeld, wo einst die Gründung der Neuen Saale-Zeitung das mir verbundene Projekt Arnstädter Nachrichten so nachhaltig aus dem Gleis brachte, dass beide Blätter gut als verzögerte Totgeburten bezeichnet werden könnten, ein Refugium für fast zwei Millionen Euro erwerben. Hätte ich die, zöge ich dennoch nie nach Saalfeld. Dort kommen keine Westverwandten mehr an.

20. Januar 2019

Das neunte Gebot 42-jähriger Ehen lautet: Du sollst mit Deiner Gattin spazieren gehen, wenn sie dies wünscht. In den Ausführungsbestimmungen für Gebotsbefolgung steht dazu: Wenn Du am Abend tatortbegleitend einen Gelben Muskateller von Josef Dockner, Lage Göttweiger Berg, zu trinken beabsichtigst, empfiehlt sich zu Mittag vorbereitend ein Josef Dockner Tresterbrand vom Gelben Muskateller im Eichenfass gereift. Den inwohnenden Alkohol verarbeitest Du während der Runde durchs Wohngebiet am Friedhof nebenher, wo Du den Wohlhabenden und denen, die sich dies einbilden, auf die unvollendeten Treppen, Carports und Fassaden schaust und Erwägungen über den verpassten Bau eigener Häuser mangels flüssiger Mittel anstellst. Den sonntäglich-stillen Verdauungsschlaf kannst Du nachholen, er befällt Dich übergangslos, wenn Du Dich in deine Decke rollst, die die Gattin liebevoll frisch bezogen hat. So geht das Leben hin und ist angenehm.


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