Ulla Lenze: Der kleine Rest des Todes

Mit ihrem dritten Roman ist die 1973 geborene Ulla Lenze bereits beim dritten Verlag. „Bruder und Schwester“, das Debüt, erschien bei DuMont, „Archanu“ dann bei Ammann in Zürich und jetzt „Der kleine Rest des Todes“ in der Frankfurter Verlagsanstalt. Das ist zumindest nicht ganz der Normalfall angesichts der doch so lobend aufgenommenen Kölnerin, die jetzt in Berlin lebt. Wo sonst, möchte man fragen? Berlin ist Einwanderungsland für Intellektuelle einer bestimmten Art vorrangig, die „Reich-mir-mal-den-Rettich-rüber“- Biotope überstehen hartnäckig jede Karikatur und pflanzen sich fort, ohne dass sich ihre Individuen zwingend auch selbst fortpflanzen. Was selbstredend nicht auf die Autorin gemünzt sein soll.

Lassen wir die Bezeichnung „Roman“ für diese 150 Druckseiten beiseite, sie besagt längst nichts mehr und ist angesichts wirklicher Romane immer auch eine Beleidigung ihrer größten Repräsentanten. Schauen wir, was laut Klappentext den Leser „atemlos“ folgen lassen soll, dann ist schon ein erster Offenbarungseid angebracht. Diese Hauptfigur Ariane, 33 Jahre alt, dabei, eine Dissertation zu verfassen über Negation bei Hegel, Adorno und im Zen-Buddhismus, hat ihren Vater verloren. Der Tod ereignete sich bei einem Flugzeugabsturz, der Leser erfährt bis zum Schluss nicht gerichtsfest, ob es nun ein als möglich erwähnter Selbstmord oder „nur“ ein Herzinfarkt am Steuerknüppel war. Was den Leser altmodischerweise interessiert, interessiert die Tochter Ariane dagegen nur beiläufig, denn die ist primär an ihrem eigenen Leiden, das dieser Tod verursacht, interessiert.

Sie hat sogar eine dem Zen-Buddhismus entnommene eigene Leidensphilosophie, die freilich erst spät im schmalen Buch den Blick auf dessen Wurzeln ermöglicht. „Ich habe im Zen-Kloster Folgendes gelernt. Es gibt zwei Arten des Leidens. Leiden. Und Leiden am Leiden. Das erste Leiden ist unvermeidbar, aber geht vorüber, das zweite hört nie auf. Wähle!“ Ariane entscheidet sich für das Leiden am Leiden, denn dies hört, wenigstens einen Roman lang, nie auf. Sie kann sich dabei beobachten, analysieren, auch genießen durchaus, denn dieses Leiden verschafft, wenngleich das nicht nur punktuell ans Perverse grenzt, Leidensgenuss. Die Geschichte endet im Vagen und sie ist am Ende vergangen, ohne dass in der Summe eines ganzen Buches auch nur soviel soziale Substanz aufgeschienen wäre wie in einem einzigen kurzen Artikel der Autorin über ihr Damaskus- und Syrien-Erlebnis, wie er vor Jahren in der Neuen Zürcher Zeitung erschien.

Irritierend wirkt, wenigstens auf mich, der ich ohne Verstoß gegen das Jugendgesetz Vater dieser Autorin sein könnte, dass da eine Angehörige des Jahrgangs 1973 fast ungefiltert, ungebrochen, auch unreflektiert 68er Essentials weiter trägt, was sich an immer wieder auftauchenden Einzelwörtern festmachen ließe. Ich verstehe als einer, der Philosophie studierte, freilich schon kaum, wie man Schulmusik und Philosophie studieren kann und weiß, Verzeihung, westliche Welt, als Inhaber eines Diploms auch nicht, was denn eine „Staatsarbeit“ sei, mit der Ulla Lenze ihr Studium abschloss und zwar zu Hegel und der Dichtkunst. Ulla Lenze scheint in einer Welt aufgewachsen zu sein, da Professoren oder Betreuer solcher Arbeiten verantwortungslos mit Themenvergaben umgingen. Denn „Hegel und die Dichtkunst“ sättigt sicher drei Habilitationen und unversehens gilt das auch für die Ariane des dritten Romans. Welcher Witzbold von Lehrstuhlinhaber vergibt das im Roman genannte Thema allen Ernstes und offenbar unter vollständiger Ignoranz der vorhandenen Literatur?

Die Autorin ist selbstverständlich nicht verpflichtet, solche Fragen in ihrem Buch zu erörtern oder gar zu beantworten. Sie setzt ihre ja doch unleugbar erwachsene Figur allerdings seltsamen Verdächten aus. Denn im Vollzug ihres prätentiösen Leidens gönnt sich Ariane nicht wenige vollkommen infantile Verhaltensweisen, am krassesten vielleicht, was man in Köln offenbar „Klingelmännchen“ nennt, ich kenne das aus einer freilich sehr frühen Vorschulkindheit als „Klingelalarm“. Doch ist, was Ariane zeigt, und hier liegt für mich der zweifelhafte Kern des Buches von seiner philosophischen Grundierung her, nicht Ausdruck des Befindens und Fühlens im Angesicht eines überraschenden Todesfalls in der eigenen Familie, sondern das, was als Ausdruck GESEHEN werden soll. Ariane ist eine Zeichen-Setzerin und sie nimmt es der Welt und den Menschen übel, wenn diese ihre Zeichen nicht nur nicht verstehen, was bei einer selbst erfundenen Zeichen-Codierung ja eher der Normalfall ist, sondern gar nicht als Zeichen überhaupt wahrnehmen.

„Niemand sagt etwas. Niemand fragt. Die Notwendigkeit meines Tuns scheint allen klar.“ Sagt Ariane zu sich, als sie ihr „Klingelmännchen“-Spiel abzieht. Das ist verquere Weltwahrnehmung in krassester Form: Sie meint, gefragt werden zu müssen, warum sie bei allen klingelt, aber niemand fragt sie. Und jetzt kommt der große Irrtum, sie begründet sich das allgemeine Schweigen damit, dass jeder die Notwendigkeit ihres Tuns sieht. Diese Figurenhaltung sollte man tunlichst nicht automatisch der Autorin unterschieben, doch legt der „Roman“ an manchen Stellen immerhin die Vermutung nahe, dass Ulla Lenze solches Weltsehen wenigstens nicht kritisch hinterfragen möchte. Obwohl ihre Ariane natürlich weiß, was sie tut, man lese, warum sie sich gerade bei dem jungen Türken so wohl fühlt, der ihr noch nach Ladenschluss und obwohl sie barfuß kommt, Zigaretten verkauft. Man lese, wie sie ihre eigene Besiegtenpose auf dem Fußboden beschreibt, die ja eben leider niemand sieht und deshalb beschrieben und erzählt werden muss.

Ariane hat eine Schwester Svenja und eine Freundin Beatrice. Mit der Freundin verbinden sie eher jungshafte Kindheitsabenteuer, mit der Schwester lebt sie fast bis zum Ende des Buches in Distanz und innerer Abgrenzung. Wie überhaupt für Ariane und solche Art von Figuren das Abgrenzen fast wichtigster Lebensinhalt ist und damit, was sie Freiheit nennen, eigentlich nur hochtrabend umschriebene Fremdbestimmung wird. Erst der letzte Satz des vorletzten der 16 Kapitel fixiert eine Erkenntnis der Tochter, die wirklich erschüttert: „Ich müsste mich um meine Mutter kümmern.“ Die auf das Leiden am eigenen Leiden fixierte Ariane braucht 15 von 15 Kapiteln des Buches, um sich daran zu erinnern, dass da ja noch jemand leidet, vielleicht sogar mit mehr und tieferem Grund als sie selbst, als beide Töchter. Erschütterung bezieht sich hier freilich nicht auf eine plötzliche Qualität des Erzähltextes, die vorher fehlte, Erschütterung bezieht sich auf einen TYPUS der radikalen Ich-Bezogenheit, der einem Angst und Bange machen sollte.

Ulla Lenze trägt das ohne Anklage vor, sie ist keineswegs verpflichtet, anzuklagen, wenn sie anklagenswertes Verhalten vorführt, denn auch Autoren unterliegen unter dem Diktat des Buchmarktes einem Abgrenzungsgebot. Das führt freilich beinahe in luftleere Räume. Das Buch ist unsinnlich, das Buch ist sogar aggressiv antisinnlich. Oder wie soll man es deuten, wenn Ariane im Auto vorbeifliegende „Sinneinheiten“ wahrnimmt, nicht etwa Kuhherden, Telegrafenmasten, Bäume oder wenigstens Leitplanken? Wie zum unglücklichen Ausgleich dessen greift sie beim für das Buch letztlich überflüssigen Beschreiben von Sexualität in die allerunterste Sprachschublade, als wolle sie wenigstens ein Quäntchen von Charlotte-Roche-Hype mitnehmen. Das Buch vereint und vielleicht folgt auch dies einer mir glücklicherweise unvertrauten französischen Modephilosophie, unterschiedliche Sprachebenen. Mal eine krude Esoterik-Sülze, mal Sozialarbeiter- und Psychotherapeuten-Chinesisch, dann wieder erfreulich überraschend auch echte und reine poetische Bildlichkeit. Bedeutsamkeits-Tuning erfahren vor allem die Text-Passagen, in denen Schriftliches wiederholt wird.

„Am besten so tun, als sei Geld mir auch gar nicht wichtig. Was stimmen könnte, sonst hätte ich längst welches.“ Sagt sich Ariane fast am Ende des Buches, ehe sie mit Schwester Svenja zum Ort aufbricht, wo der Vater zu Tode kam. Ist das unfreiwillige Komik wie dort, wo Ulla Lenze Autos aus Parklücken kommen lässt, obwohl die natürlich gar keine Lücken sein können, wenn da Autos stehen, die jetzt von da abfahren? Oder treibt da mitten im Willen zum Anderssein, mitten im Senden schwer verstehbarer Leidenszeichen purster Neoliberalismus? Hat man in der Welt dieser Autorin wirklich Geld, wenn man es als wichtig ansieht?

Ulla Lenze hat ein Buch geschrieben, dass sich vermutlich absichtlich dem Genossenwerden verweigern soll. Es ist blutarm und kopfig, es führt eine Figurenarroganz gegen fast jede Wirklichkeit vor, fügt allerdings der Selbstbezogenheit seines Personals etwa gegenüber einem uralten, in Berlin zur Schreibzeit des Romans höchst erfolgreichen, Drama aus dem Jahr 1905 („Kinder der Sonne“ von Gorki) nichts Neues, überhaupt nichts hinzu. In Zeiten, da die Kleist-Biographien 24 bis 29 geschrieben und gedruckt werden in der Hoffnung, 1 bis 23 seien vergessen, sollte man das einer (noch immer) jungen Autorin allerdings nicht zu heftig ankreiden.


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