Michail J. Lermontow 200

Als der große russische Tonkünstler Modest Mussorgski (1839 – 1881) am 22. Juni 1863 einen Brief an seinen Freund und Kollegen Cesar Antonowitsch Cui (1853 – 1918) mit den Versen „... langweilig, traurig und ärgerlich und weiß der Teufel, was sonst noch“ begann, rechnete er offenbar damit, dass der Adressat die Anspielung sofort verstand. Mussorgski zitierte, wenn auch nicht sonderlich exakt, die Eingangszeilen eines titellosen Gedichtes von Michail Lermontow aus dem Jahr 1840, die in der Übertragung von Friedrich Fiedler, dem Hausübersetzer aus dem Russischen des alten Reclam-Verlages, so gehen: „Und einsam und traurig ...  Vergebens die Sehnsucht, im Leid // Die Hand einem Freund zu reichen!“ Lermontow stand reichlich zwanzig Jahre nach seinem Duelltod für ein bestimmtes Lebensgefühl, eine bestimmte Welthaltung, in der Einsamkeit und Trauer eine Hauptrolle spielten. Das zitierte Gedicht endet mit der Feststellung: „... das Leben ist immer ein dummer, verächtlicher Scherz - // bei sehender Augen kühler Betrachtung.“ Und der Komponist Mussorgski erkannte in Lermontow weitere knapp zehn Jahre später einen, von dem sich sagen ließ: „... sie alle sind Generäle, die mit ihren künstlerischen Armeen schöne Länder erobert haben.“ Das kann man auch heute noch als einzig akzeptable Art ansehen, Länder in Besitz zu nehmen unabhängig vom Grad ihrer Schönheit, der dann ja auch Reichtum bedeutet.

Aus welchen Quellen Michail Jurjewitsch Lermontow seine jugendliche Weltweisheit schöpfte, wäre ein Kapitel für sich, wer sich die neuere Literatur zu ihm anschaut, findet nicht nur in der ordnungsamtlichen Fraktion der Literaturgeschichte gebieterische Aussagen zu Franzosen, Engländern und Deutschen, Schiller und Goethe sind dabei, sondern auch bei den kreativeren Köpfen. Man muss, um es vorwegzunehmen, sein Turboabitur nicht in dreizehn Jahren gemacht haben, um beim Lesen des Titels „Der Fatalist“ zwanglos bildungsbürgerlich auf den Vornamen Jacques zu kommen und so mäßig kühn bei Voltaire zu landen. „Der Fatalist“ beschließt ein Buch mit dem Titel „Ein Held unserer Zeit“, 1840 erschienen, Teile davon bereits vorher, das, wenn man es Roman nennt, ungeahnte Möglichkeiten aufschließt, Form- und Kompositionsprobleme des Romanes, Vorläuferschaften und Nachgängereien zu erörtern. Wieviel Romantik ist noch drin, wieviel Realismus schon, fiel die polyphone Struktur vom Himmel über den russischen Weiten oder haben sehr direkte Vorläufer einen Einfluss gehabt mit Novellen- respektive Erzählzyklen, Puschkin hie, Gogol dort und dann kommt ja, je nach Standpunkt, immer noch hinzu, dass Inhalte in der Literatur ja angeblich vollkommen unwichtig sind, es komme auf die Sprache an. (Nach dieser Regel dürften literarische Werke außerhalb ihrer Sprachgrenze jegliche Bedeutung im Handumdrehen verlieren, träfen sie dort nicht zufällig auf migrierte Muttersprachler und/oder denen gleichzustellende Kenner, allein diese Argumentation zeigt von einer vielleicht doch nicht ganz verschlissenen Seite, dass es natürlich auf Inhalt ankommt und nicht nur irgendwie nebenher!!)

Als 2006 „Ein Held unserer Zeit“ in neuer Übersetzung (Peter Urban) in der Friedenauer Presse erschien, trabte das gehobene Feuilleton in nur auf den ersten Blick faszinierender Kompaktheit, wenn auch noch nicht wie heute in ähnlichen Fällen innerhalb weniger Tage, sondern etwas verteilt über die Wochen, auf die Rennbahn. Wenn neue Übersetzungen gepriesen werden, geraten die Preisenden im Nebeneffekt automatisch in den Ruch, besonders intime Kenner der jeweiligen Sprache zu sein, was beim Russischen im Westen aus meiner Perspektive immer verdächtig ist. Dort, wo laut Marcel Reich-Ranicki trotz extrem verbreiteter Englisch-Kenntnisse geradezu massenhaft miserable Übertragungen aus dem Englischen den Markt dominieren, sollten ausgerechnet die Russisch-Füchse gleich im dreiviertel Dutzend einherstolzieren, sich plötzlich und unerwartet zu erkennen gebend? Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Wird aus der Verszeile „Ade, du ungewaschnes Rußland“ in der ganz neuen, ganz eignen Übersetzung „Ciao, du ungewaschnes Russland“, kann ich nur sagen: Hut ab, auf solche Entstaubungen muss man erst kommen. Ein Kritiker fand es gar erwähnenswert, dass im neuen Lermontow nicht gespeist, sondern gegessen wird. Weshalb man, wir alle wissen es, in deutschen Gaststätten auch Esskarten gereicht bekommt und nicht etwa Speisekarten.

Spätestens als die preisgekrönte Swetlana Geier Dostojewskis „Der Jüngling“ in „Der grüne Junge“ verwandelte und das Feuilleton vor Begeisterung trampelte (im Kern sollen vermutlich einfach nur keine Lizenzhonorare an Übersetzer-Erben der „ehemaligen“ DDR gezahlt werden, sonst gäbe es keinen Grund, hervorragende Übertragungen durch zweifelhafte Neuversuche zu ersetzen), ist mir das Geschäft in Verruf geraten. Und so soll hier stellvertretzend das Loblied auf Sonja Zekri von der SÜDDEUTSCHEN gesungen werden, die als einzige im Chor der plötzlichen Lermontow-Schlaumeier nicht nur die Frage nach der Notwendigkeit einer neuen Übersetzung, und zwar vollkommen zurecht auch für den westdeutschen Markt, gestellt hat seinerseits, sondern die auch an diversen schönen Beispielen vorführte, dass die Neuübersetzung von Peter Urban keineswegs unkontrollierten Beifall verdient. „Ein Held unserer Zeit“ ist, um vier Namen zu nennen, vor Urban von Johannes von Guenther, von Arthur Luther, von Lothar Gürgens und von Günther Stein übertragen worden. Die Stein-Übertragung verhalf gleich drei verschiedenen Taschenbuch-Ausgaben des „Romans“ auf den Markt, aus dem Leipziger Reclam-Verlag, aus Insel Frankfurt am Main und aus DTV München. Da außerdem im Westen auch eine Goldmann-Taschenausgabe zu haben war, ist die Frage nach dem Sinn einer Neuübertragung in der Tat mehr als berechtigt.

In meinem Besitz befindet sich „Der Fatalist“ in einer separaten Ausgabe aus dem Jahr 1947, sie erschien als Steuben-Blaetter No. 9 im Steuben-Verlag Paul G. Esser Berlin, hatte die Genehmigungsnummer 7458 des Amerikanischen Nachrichtendienst-Kontrollamtes, kostete offenbar 80 Pfennig vor der Währungsreform und stammt, vom Eigentumsstempel für immer gekennzeichnet, aus den Beständen meiner Mutter. Es ist atemberaubend, die anonyme Übersetzung (sie ist vom genannten Lothar Gürgens) mit der mit Abstand am meisten verbreiteten von Günther Stein zu vergleichen. Man hat geradezu fortlaufend den Eindruck, beide hätten einen vollkommen unterschiedlichen Urtext in den Händen gehalten. Eine der beiden Fassungen muss unbedingt der groben Willkür oder wahlweise der forcierten Ahnungslosigkeit geziehen werden und ich bin mir ziemlich sicher, auch ohne das russische Original zu kennen, nicht Günther Stein wäre durch die Bezichtigung zu treffen. In den vielen Stimmen aus 2006 und 2007 jedenfalls, die einen vorläufigen Höhepunkt feuilletonistischer Aufmerksamkeit für Lermontow in deutschsprachigen Gefilden darstellten, der heutige 200. Geburtstag kann das vielleicht toppen, waltet sonst viel Ignoranz, wenig Detailkenntnis und man ist schon beinahe erschüttert, wenn einem munteren Betrachter der Dekabristenaufstand in Russland einfällt.

Ohne diesen Aufstand ist Lermontow nicht zu verstehen, dagegen helfen auch keine strukturalistischen oder poststrukturalistischen Schutzwälle im Geiste, für Mauern in den Köpfen ist  per Definition ja ohnehin nicht das deutsche Fein-Feuilleton zuständig, sondern der unbelehrbare Ost-Depp, der einfach nichts verstehen will. Wie könnten tiefste Frustration und Lebensüberdruss etwas mit tatsächlichen Verhältnissen zu tun haben, historischen oder mikrobiographischen oder welchen auch immer? Im Osten hatte die Lermontow-Rezeption damit zu tun, dass außer Wissarion Belinski, der als Nicht-Marxist, günstigenfalls Vor-Marxist, nur ein Klassiker vierten Ranges sein durfte in der Hierarchie der Zitierquellen, keine als rettendes Ufer dienende oberste Weisheit als Berufungsinstanz herhalten konnte. Kein Marx, kein Engels, kein Lenin, kein Plechanow, keine Rosa Luxemburg, vielleicht Julian Marchlewski, aber wer war das denn, Franz Mehring nicht und Karl Liebknecht nicht, haben richtungweisende Worte über Michail Jurjewitsch Lermontow hinterlassen und im Westen, wo Russland wahlweise mit Bären, mit Seele oder mit Putin in Verbindung gebracht wird, hüpft der Sachverstand auch nicht aus den Feldfurchen der Forschung.

Verbreitet ist, das war wohl zu googeln, dass Lermontow etwas mit dem für die russische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts irgendwie typischen (Typik, eine ganz böse Sache) „überflüssigen Menschen“ zu tun hatte, an dem auch Puschkin schon im „Eugen Onegin“ schnitzte und später trieb Anton Tschechow Exemplare dieser Gattung über die Bühnen der Welt. In der Übertragung von Rainer Maria Rilke lauten zwei Lermontow-Zeilen des Gedichtes „Der Felsen“: „Ach, warum ist mir so schwer zumute? // Was erwart ich denn? Was tut mir leid?“ Diese drei Fragen beschreiben, wenn man es in erlaubtem Maße komprimieren möchte, die Kernsubstanz der gesamten literarischen Produktion von Lermontow. Wer es übers Herz bringen kann, dem westeuropäischen Katzenjammer nach allen Revolutionen seit 1789 eine konstituierende Bedeutung für Weltschmerz, Weltflucht, Fundamental-Pessimusmus und was auch immer die Urphänomene in der Wiege der so genannten Moderne sein mögen, zuzugestehen, der kann vielleicht auch den gern als kaum kleineren Begleitstern von Puschkin gesehenen Lermontow ähnlich verorten. Dichterseelen, ließe sich etwas zynisch behaupten, halten es eher mit der Ästhetik des Widerstandes als mit dem Tun.

Lermontow (und andere) hatten damit zu tun, dass mögliches Tun in naher und fernerer Zukunft nur Dummköpfen als aussichtsreich erschien, nach der Revolution von 1905 in Russland gibt es ein frappierend ähnliches Phänomen unter den besten Köpfen und wir wissen heute, dass diejenigen, die den vermeintlichen Irrwegen des Geistes durch den Übergang zum vermeintlich einzig wahren Denken, dem des Marxismus-Leninismus, auszuweichen wagten, ja auch nicht direkt auf der achtspurigen Autobahn ins ewige Paradies auf Erden landeten. In der Art, wie Lermontow mit „Der Fatalist“ seinen Klassiker „Ein Held unserer Zeit“ zu Ende bringt, ob er tatsächlich, wie im Text angekündigt, aus den (fiktiven) Papieren Petschorins ein weiteres Buch gemacht hätte, wenn er nicht einer Duellkugel erlegen wäre, gilt weitgehend als ausgeschlossen, in der Art jedenfalls wird heute kaum jemand noch über die Frage von Schicksal oder Selbstbestimmung nachdenken. Hier ragte natürlich damals noch fast frisches Aufklärungsdenken hinein, die Argumentation wirkt jetzt naiv, die Geschichte, an russisches Roulette erinnernd, nicht sehr viel weniger.

Bei Iwan Turgenjew findet sich mitten in einer Würdigung Wissarion Belinskis, in der Lermontow eine wichtige Rolle spielt, der Satz: „Die Macht der Dinge ist stärker als die persönliche Kraft jedes einzelnen, ebenso wie das Gemeinsame in uns stärker ist als unsere eigenen Neigungen.“ Warum konnten einst große Köpfe große Dinge klar und gelassen aussprechen, während wir jetzt rings um uns in langen Nasen abgebrochene Finger betrachten müssen und wenig hören, was den Sachen dient, um die es geht? Turgenjew hat aus zwei persönlichen Zusammentreffen mit Lermontow heraus eine Vorstellung von diesem zu vermitteln versucht: „Irgendetwas in Lermontows Äußerem wirkte unheilverkündend und tragisch; eine düstere und ungute Kraft, eine grüblerische Verachtung und Leidenschaft gingen von seinem dunkelhäutigen Gesicht und seinen großen, starr blickenden Augen aus. Ihr harter Blick stand in einem seltsamen Gegensatz zu seinen fast kindlich weichen aufgeworfenen Lippen. Seine ganze Gestalt, untersetzt, krummbeinig, mit dem großen Kopf auf den gebeugten breiten Schultern, erweckte ein unangenehmes Gefühl; die ihm innewohnende Macht allerdings spürte jeder sofort.“ Es ist lächerlich und dennoch mit großem Ernst unternommen worden, diesem mit nicht einmal ganz 27 Jahren gestorbenen Dichter Phasen von Jugend an Reife anzudichten. Was als Frühwerk bekannt ist, stammt von einem 16-jährigen, dem einfach nicht zugeschrieben werden kann, was er angeblich alles schon gewusst und gelesen haben muss, wie ihm auch später, wenn all die Geschichten mit seinem Frauenverschleiß auch nur annähernd stimmen, keine rasante Entwicklung an Erfahrungsgewinn beigeordnet werden sollte, auch die Tage der Genies enden nach vierundzwanzig Stunden.

Das hinterlassene Werk Michail Jurjewitsch Lermontows ist insgesamt eher fragmentarisch und füllt in einer zweibändigen Ausgabe, die vor 25 Jahren Roland Opitz in der DDR verantwortete und die Frankfurt am Main übernahm, keine tausend Seiten. Das ist für einen jungen Mann sehr viel und dennoch kaum aussagefähig darüber, was aus ihm geworden wäre, wenn jener Martynow ihn nicht erschossen hätte. Auch hier merkt man übrigens manchem Feuilletonisten an, dass er wohl den Dienst mit der Waffe verweigerte, denn keineswegs führt außerordentlich langes Zielen automatisch zu besonders tödlichen Schüssen. Handfeuerwaffen im Jahr 1840 hatten ein Streubreite, die einen sofort tödlichen Treffer eher zum Zufall machten, wenn er gezielt erfolgte, freilich ist der Abstand der Duellanten voneinander anzurechnen. Es darf jedoch sowohl bei Puschkin als auch bei Lermontow gefragt werden, ob die Bereitschaft zum tödlichen Duell ihrem sonstigen Persönlichkeitsstatus eher wider- als entsprach. Abschließend noch einmal „Der Fatalist“: Als der, ein serbischer Leutnant übrigens, sich die Pistole an den Kopf hielt, ging der Schuss nicht los, der im zweiten Versuch eine Mütze durchlöcherte. Das „Schicksal“ führt ihn danach mit einem betrunkenen Kosaken zusammen, der ihm mittels Säbel den Schädel und den halben Rumpf spaltet.


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