Efraim Frisch bleibt vergessen

Sagen wir so: Wenn in gewissen, meist größeren Abständen irgendwo von irgendwem an Efraim Frisch erinnert wird (er starb am 26. November 1942 in seinem schweizerischen Exilort Ascona), dann ist das noch wirkungs- und folgenloser als das Umfallen der berühmten Reissäcke auf chinesischen Bahnsteigen in Jahren der Ratte oder des Schweins. Es gibt einfach kein Argument, mit dem Neugier zu erzeugen ist, so scheint es jedenfalls. Und wenn Hans J. Schütz (4. September 1936 – 10. Juli 2004), den Tolkien-Fans als Übersetzer kennen, der aber lange auch mit verbotenen Büchern und vergessenen Autoren umging und dazu selbst beachtenswerte Bücher schrieb, gleich doppelt den Hinweis streute, es gäbe Kritiker, die den 1927 zuerst erschienenen Roman „Zenobi“ von Frisch sogar über den „Felix Krull“ von Thomas Mann stellen, dann vergaß er leider, auch nur einen einzigen Namen zu nennen zum Beleg seiner Behauptung. Auch längeres Suchen führt nur zu einem einzigen prominenten Namen: zu Hermann Hesse. Von dem konnte der geneigte Leser der „Dresdner Neuesten Nachrichten“ am 9. Dezember 1928 vernehmen: „Und mit Lächeln nicke ich dem „Zenobi“ von Ephraim Frisch zu (bei Bruno Cassirer), einem der liebenswürdigsten und bestgelaunten Romane aus diesen Jahren.“ Liebenswürdig und bestgelaunt, wir ahnen, wie vergiftet solches Lob auf die üblichen Verdächtigen wirken musste und muss. Heute wäre es Werbung.

Immerhin: Man kann „Zenobi“ derzeit in drei verschiedenen Ausgaben kaufen, wenn auch nur antiquarisch: schon für 1,50 Euro gibt es das Fischer-Taschenbuch von 1984, etwas teurer die Schweizer Ausgabe aus dem Walter-Verlag Olten und glatte 120 Euro muss man auf den Tisch des Hauses packen für die Erstausgabe von Bruno Cassirer, wenn man keine Preise vergleicht. Es geht diese Variante auch schon für 24 Euro in Österreich. Das Wenige, was sich zu Efraim Frisch selbst bei höherem Suchaufwand finden lässt, weist jeweils sofort wieder staunenswerte Wissenslücken auf. Andreas Herzog etwa, der 1996 im damals noch existierenden Leipziger Reclam-Verlag die sehr schöne Anthologie „Ost und West. Jüdische Publizistik 1901 – 1928“ edierte, kannte den Namen Efraim Frisch offenbar da noch nicht. Im jüngeren Sammelband „Jüdische Autoren des 20. Jahrhunderts in und aus Ostmitteleuropa“ (Frankfurt/Main 2000) kannte er ihn dann nicht nur, sondern schrieb über ihn unter der Überschrift „Von alten und neuen Tafeln“. Dieser Text widmet sich überwiegend „Verlöbnis. Geschichte eines Knaben“, 1902 zuerst ihn Berlin erschienen und danach, so weit ich sehe, nie wieder neu aufgelegt. „Verlöbnis“ war das Buch, das Efraim Frisch Christian Morgenstern zu Weihnachten 1902 schenkte. Andreas Herzog hat Morgenstern unter den Freunden Frischs wie auch Heinrich Mann, mit anderen verkehrte er, heißt es dann lapidar weiter.

Auch hier ist die Suche quälend und ergebnislos: In Heinrichs Manns Lebenserinnerungen nirgends der Name Frisch, auch in Frank Wedekinds Tagebüchern nicht. Morgenstern immerhin sei zitiert: „Dein Buch und die es geleitenden lieben und schönen Worte haben mich im Innersten erfreut und beglückt. Es war das wertvollste Weihnachtsgeschenk, das ich erhalten konnte“. Überhaupt Morgenstern: Klaus Schuhmann, der für interessierte DDR-Leser 1975 die ziemlich ansehnliche Zusammenstellung „Ausgewählte Werke“ im Leipziger Insel-Verlag unterbringen konnte und dazu auch das unvermeidliche Lang-Vorwort schrieb, das wie eine Ersatz-Biografie daherkam, nahm drei Briefe Morgensterns an Efraim Frisch und einen an dessen Frau Fega Frisch auf. Zusätzlich erfahren wir aus einem Brief an Georg Hirschfeld vom 19. Mai 1897, dass Frisch ihn auf Stefan George und Hugo von Hofmannsthal brachte. Schuhmann legt in seinem informativen Vorwort nahe, dass Morgenstern beinahe sein gesamtes Leben auf der Suche nach einem alles überragenden Leitbild war und auch tatsächlich immer wieder ein neues fand, zuletzt Rudolf Steiner, den Anthroposophen. Mit Efraim Frisch aber kam er auf Nietzsche, auf Tolstoi und dann auf Paul de Lagarde. Lagarde (2. November 1827 – 22. Dezember 1891) wird heute, wenn überhaupt, nur noch als „Vordenker des Antisemitismus“ rezipiert, wozu alles Recht besteht, nur blendet es andere Perspektiven eben aus.

Eine von ihnen steht im Zusammenhang mit Efraim Frisch. Noch einmal zitiert sei Christian Morgenstern: „Ich danke Dir von innerstem Herzen, dass Du mich Lagarde zugeführt hast. Ich traf ihn im rechten Zeitpunkt. Welch ein Mann! Und diesen größten Gesetzgeber der deutschen Gegenwart – denn Nietzsche ist kein Gesetzgeber in diesem Sinne - , wer kennt ihn? Du hattest recht, als Du ihn im Gegensatz zu Tolstoi als den echten rechten besten Germanen charakterisiertest.“ Innehalten: Efraim Frisch, am 1. März 1873 im galizischen Stryi geboren, im äußersten östlichen Zipfel der Donaumonarchie, wie jemand erläuterte, stammt aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, sein Vater Manasse schickte ihn ins Rabbiner-Seminar nach Wien, wo es den Sohn nicht lange hielt. Efraim Frisch also, der seine jüdische Herkunft niemals verleugnete, im Gegenteil, sein „Judentum findet sich in allen seinen Arbeiten ausgedrückt“, wie Daniel Hoffmann in „Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart“ (suhrkamp taschenbuch 3529) festhielt, brachte einem Nicht-Juden wie Christian Morgenstern einen Antisemiten wie Paul de Lagarde nahe. Frisch hatte Morgenstern 1901 in dessen damaligem Wohnort Wolfenschießen (Kanton Nidwalden, Schweiz) getroffen, den man passiert, wenn man von Stans aus der Straße in Richtung Engelsberg folgt.

Frisch hat, in der Lesart Klaus Schuhmanns, Morgenstern zugleich auch gewarnt vor den möglichen Wirkungen Lagardes. Schuhmann zitiert ohne Quellenangabe: „Lagarde meint Kämpfer, sie meinen Soldaten; Lagarde will eine deutsche Religion, und der Kaiser spricht in Gotha mit hohler Begeisterung von der Vereinigung der protestantische Konsitorien“ und folgert dann für sich: „Es kann dahingestellt bleiben, ob Morgenstern die Warnung Frischs verstand.“ Festzuhalten ist: Klaus Schuhmann wies ausdrücklich auf Efraim Frischs differenzierte Sicht hin, die Paul de Lagarde unmissverständlich über den Nachahmer Houston Stuart Chamberlain stellte. Andreas Herzog kannte noch 25 Jahre später den Namen Lagarde im Zusammenhang mit Frisch gar nicht, dafür aber Chamberlain. Auch der heute am ehesten noch Brecht-Freunden bekannte große Theatermann Kurt Hirschfeld (10. März 1902 – 8. November 1964), der die Rede zur Gedenkfeier für Efraim Frisch hielt, betonte zuerst dessen Judentum: „Er war in seiner Haltung, seiner menschlichen Substanz ein Jude, ein Jude in des Wortes vollster, ernstester und tiefster Bedeutung.“ Ergänzte aber umgehend auch: „Und er war, wie man hinzufügen darf, ein Erzähler von Rang und Originalität.“ Dieser Frisch also, es sei wiederholt, hatte genau das nicht in seinem Denken, was Friedrich Nietzsche eine „Idioten-Formel“ genannt hätte. Das führt direkt zu einer von Ferdinand Lion geprägten Aussage.

Lion (11. Juni 1883 – 21. Januar 1968) schrieb über die Zeitschrift „Der Neue Merkur“, die Efraim Frisch bis zu ihrem Ende 1925 leitete, sie sei „das Gewissen der Weimarer Republik“ gewesen und „er war ein Rutengänger, fortwährend zu entdecken bereit, voll brennender Begierde nach dem Neuen, aber er hätte es nie als Avantgarde bezeichnet.“ Solche Hochschätzung war es wohl, die 1927 zwischenzeitlich zu Überlegungen führten, Frisch zum neuen Chef der „Weltbühne“ zu machen. Ganz so die „zum Programm erhobene Programmlosigkeit“, von der Hans J. Schütz schrieb, kann es dann doch nicht gewesen sein, wenn für die Ossietzky und Tucholsky Efraim Frisch ein ernst gemeinter Kandidat tatsächlich gewesen sein sollte. Ohne gegen den Schweizer Lion einen Vorwurf daraus zu formulieren, muss allen, die ihn etwas gedankenlos zitieren, gesagt werden, dass eine Zeitschrift, die es nur sechs von vierzehn Existenz-Jahren der Weimarer Republik überhaupt gab, nicht guten Gewissens als deren gewissen charakterisiert werden kann. Sei's drum. Noch immer ist vollkommen unklar, wie Efraim Frisch so radikal und vollständig aus öffentlichem wie veröffentlichtem Bewusstsein verschwinden konnte. Das zweibändige DDR-Lexikon zur deutschsprachigen Literatur kennt ihn nicht, der „Brauneck“ kennt ihn nicht, der große Günther Rühle hat ihn allen Ernstes in seinem Standardwerk „Theater in Deutschland 1887 – 1945“ nicht.

Rühle hat ihn ebenso nicht in seiner zweibändigen Kritiken-Sammlung, die in Ost und West erschien, auch Hugo Fettings zweibändige Kritikensammlung (Reclam Leipzig) schweigt sich aus, der Autor weiß aber immerhin, dass Efraim Frisch nicht nur Dramaturg unter Max Reinhardt war, sondern mindestens einmal auch selbst inszenieren durfte: Strindbergs „Fräulein Juli“ nämlich 1907. Frisch war aber auch selbst jahrelang Theaterkritiker und keineswegs nur für irgendwelche Winkelblätter. Ihn förderte der nur fünf Jahre ältere Moritz Heimann, der „Verlöbnis“ lektorierte, Heimann empfahl ihn Martin Buber, den Frisch früh kennenlernte über die Zusendung seines Buches. Frisch selbst fand Hermann Hesses Beifall dafür, dass er den großen Russen Gontscharow in Deutschland bekannt machte und noch 1934 dankte ihm der spätere Nobelpreisträger in der National-Zeitung Basel dafür, dass er unter dem Titel „Von der Frankfurter Juden Vergangenheit“ eine Auswahl brachte aus den „Jüdischen Merkwürdigkeiten“ von Johann Jacob Schundt, der freilich in Wahrheit Schudt hieß, was Hesse-Herausgeber Volker Michels entging oder unwichtig war. Dabei war das ja 1934 nahe der deutschen Grenze durchaus eine Botschaft: „Die von Efraim Frisch ausgewählten Schilderungen handeln größtenteils vom jüdischen Glauben und Kult, der Sabbathfeier, den Festen, zum Teil auch vom bürgerlichen Leben der Frankfurter Juden.“

Die Kleinigkeiten addieren sich, weil sie eine zweifelsfreie Begleiterscheinung von Ignoranz sind: Auch Gedenkredner Kurt Hirschfeld war, als er seine Rede hielt, keineswegs Direktor des Zürcher Schauspielhauses, wie behauptet wurde, erst 1946 wurde er dort Vizedirektor, da war Frisch schon vier Jahre tot. Und wenn Andreas Herzog bedauernd feststellte, dass Efraim Frischs 1911 zuerst publizierte Erzählung „Der Tod des Studenten Moissewitsch“ nie nachgedruckt wurde, stimmt das ebenfalls nicht, denn Wulf Kirsten und Konrad Paul haben genau diese Geschichte in den ersten ihrer drei sehr repräsentativen Bände „Deutschsprachige Erzählungen 1900 – 1945“ (Aufbau-Verlag 1981) aufgenommen. Diese Geschichte führt, damit soll hier das Gedenken enden, in die Tage der russischen Revolution von 1905. Der Chemiestudent will eine Kommilitonin suchen, der Zufall führt ihn mit einem revolutionären Waffenschmuggler zusammen. Sie fallen in die Hände der den Aufstand unterdrückenden Armee. Da der Student die Pistole seiner Kommilitonin mit sich führt, verfällt er, obwohl der Schmuggler ihn glaubhaft entlastet, dem konterrevolutionären Standrecht. Nur eine Vergünstigung erhält er: es ist eine Art von russischem Roulette. Der Soldat, der auf ihn schießen muss, weiß nicht, ob eine Patrone im Lauf ist. Er schießt und es war eine drin. Eine nur, eine einzige. Das alles ist irritierend lakonisch erzählt. Ich las es vor zwölf Jahren zum ersten Mal.

Der Student hält zunächst nicht viel von Revolution: „Er hasste in diesem Augenblick die Revolution nicht weniger als die Machthaber, und eine tiefe, bittre Geringschätzung – das Los aller Erfolglosigkeit – war in ihm gegen diese „Maximalisten“ und „Minimalisten“, die alle plötzlich so schrift- und weisheitskundig geworden waren, dass sie auf ihren geschwätzigen Meetings über die kleinsten Einzelheiten der zukünftigen Staatsordnung sich in die Haare gerieten, aber eins vergessen zu haben schienen: dass die Bajonette zum Stechen und die Kanonen zum Schießen da sind. Diese dachten sie wohl mit Liederabsingen zu beschwören.“ Wenig später aber sieht es anders aus: „er fühlte neue Kraft in sich erwachen: nicht mehr sich herumdrücken, horchen, reden, widerlegen und widerlegt werden, im Dunkel konspirieren. Endlich sich selber wie einen lauten Schrei hinauswerfen und für sich handeln, in eigener Verantwortung, Mann gegen Mann stehen, hart und schonungslos gegen einen schonungslosen Feind! Jetzt verstand er diesen Kampf.“ Vor zwölf Jahren schien mir das vielleicht eine Geschichte, wie einer möglicherweise zum Helden wird, ohne es zu sein oder gewollt zu haben. Jetzt bin ich mir noch weniger sicher. 1940 setzte bei Efraim Frisch eine Lähmung ein. Der deutsch-amerikanisch-jüdische Literaturwissenschaftler Guy Stern hat 1963 erstmals Frisch-Essays gesammelt: „Zum Verständnis des Geistigen“. Lang ist es her.


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