Als Irmtraud Morgner starb

Schwer zu sagen, ob sich Irmtraud Morgner darüber gefreut hätte: ihr Erstling „Das Signal steht auf Fahrt“, 1958 im Aufbau-Verlag Berlin erschienen, wurde am Vorabend ihres 30. Todestages für 60 mindestens und 115 Euro höchstens angeboten, zwei Exemplare ohne Versandkosten, zwei mit, das sind immerhin vier Exemplare mehr als vor sieben Jahren. Damals war der Markt komplett leer, Band 24 von „die Reihe“, DDR-Preis 1,95 Mark, 123 Seiten stark, nirgends zu haben. Sie selbst wollte, konnte man einst lesen, später von ihrem Debüt-Büchlein nichts mehr wissen, obwohl es ihr immerhin den Start in die Freiberuflichkeit ermöglichte. Sie musste keine Buchkritiken mehr für die NDL liefern. Man kann in den alten Jahrgängen der Zeitschrift des DDR-Schriftstellerverbandes nachsuchen, wann und über wen sie schrieb. Heft 12 1957 beispielsweise enthielt die Besprechung eines Erzählungsbandes von Anna Metze-Kirchberg, Titel „Entzauberte Kindheit“. „Jugend im Schatten“ nannte Irmtraud Schreck, so hieß sie als Gattin von Joachim Schreck noch, ihre Kritik. Wie verrückt scheint heute, dass die längst restlos vergessene späte Debütantin des Jahres 1957 ihre junge Kritikerin um knapp 14 Jahre überlebte, obwohl sie rund 26 Jahre älter war. Anna Metze-Kirchberg, geboren am 21. September 1907, starb am 14. Februar 2004 in ihrem 97. Lebensjahr.

Das genannte NDL-Heft enthielt auch einen Beitrag von Christa Wolf unter dem Titel „Vom Standpunkt des Schriftstellers und von der Form der Kunst“, später, so weit ich sehe, nicht wieder gedruckt. Das Mai-Heft 1958 präsentierte neben einer weiteren Kritik von Irmtraud Schreck einen nie wieder gedruckten Beitrag von Eva Strittmatter: „Die praktikable Wahrheit“. „Ein neuer Name“ war es, der Schreck beschäftigte: Erich Köhler (28. Dezember 1928 bis 16. Juli 2003) mit seinen ersten Titeln „Das Pferd und sein Herr“ und „Die Teufelsmühle“. Köhler wurde 2002 gegen seinen Widerstand aus dem PEN-Zentrum ausgeschlossen, weil er nachweislich zwischen 1972 und Ende der achtziger Jahre für das Ministerium für Staatssicherheit als inoffizieller Mitarbeiter tätig war. Die Musikballade „Denkmal für einen Flieger“ von Günter Kunert ist ebenfalls in Heft 5 von 1958 zu finden, ein rares Stück in mehrfacher Hinsicht. Irmtraud Morgner, mehr soll das alles gar nicht heißen, war sehr früh schon mehr als nur eine Randfigur der jungen DDR-Literaturgeschichte, was ihr natürlich Neid einbrachte (siehe dazu http://www.eckhard-ullrich.de/jahrestage/992-irmtraud-morgners-kleinigkeiten ). Als sie am 6. Mai 1990 starb, lagen die berühmt-berüchtigten Kommunal-Wahlen von 1989 fast auf den Tag ein Jahr zurück und die DDR insgesamt in ihren letzten Zügen.

Ob Morgner das von Marlis Gerhardt für die „Sammlung Luchterhand“ zusammengestellte Buch „Irmtraud Morgner. Texte, Daten, Bilder“ noch in den Händen halten durfte, es erschien im April 1990 als Originalausgabe des in Frankfurt am Main ansässigen Verlages, weiß ich nicht, es könnte sein. Die Herausgeberin feiert am 22. Mai ihren 80. Geburtstag bei hoffentlich guter Gesundheit, ihr Buch ist noch immer empfehlenswert und vielfach sehr informativ, auch wenn es mehrheitlich nur versammelt, was anderswo vorher schon zu lesen war. Doch wer hat schon noch die alten Hefte der „Weimarer Beiträge“ zur Hand, wer macht sich die Mühe, eine gekürzte Fassung bei Luchterhand mit dem Original in „Sinn und Form“ zu vergleichen? Der letzte Preis, den sie zu Lebzeiten erhielt, wenn auch wegen ihrer schweren Erkrankung nur noch in Abwesenheit, war der „Literaturpreis für grotesken Humor“ der Stadt Kassel, Walter Jens hielt die Laudatio, nachlesbar im genannten Buch. Jürgen Serke hielt 1998 Irmtraud Morgner noch nicht für würdig, in seinem Buch „Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR“ zu erscheinen. Uwe Wittstock (wie Serke bei Piper in München) klammerte Morgner in seiner Übersicht „Von der Stalinallee zum Prenzlauer Berg. Wege der DDR-Literatur 1949 – 1989) ebenfalls aus. Was alles und nichts bedeuten kann.

Tumorspezialistin Alice Schwarzer beschuldigte in ihrem onkologischen Fachorgan „EMMA“ die bereits verhandlungsunfähige DDR, Irmtraud Morgner nicht richtig behandelt zu haben, man kann die genauen Formulierungen und diverse Texte der einen über die andere leicht finden im Internet. Nicht ganz so leicht zu finden sind diverse Nachrufe aus dem Jahr 1990, denen aus genau diesem Grund hier mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. Denn sie offenbaren ganz nebenher die noch ungewohnte neue Freiheit der alten DDR-Blätter wie auch den noch wenige Monate vorher vollkommen undenkbaren Sage-Eifer der alten Redakteurinnen und Redakteure. Es hat sich etwas gelöst, es muss heraus. Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Angelika Griebner etwa ließ am 9. Mai 1990 in JUNGE WELT ihren kleinen Nachruf unter der Überschrift „Frauen sind die einzige Hoffnung“ erscheinen. Der zweite Satz lautet: „Es ist ja so einfach, jemanden verächtlich zu machen. Vom sicheren Ufer des Patriarchats aus.“ Ich verrate 30 Jahre später das offene Geheimnis, dass buchstäblich alle, ausnahmslos alle für mich als Kritiker zuständigen Redakteure in Berlin, für deren Blätter ich Bücher besprach, Redakteurinnen waren. Genannte Angelika Griebner für die monatlich vier Seiten Literatur in JUNGE WELT, wir kannten und trafen uns auch persönlich.

Daneben Leonore Brandt beim SONNTAG, an die mich Regina General weiter vermittelte. Daneben Sybille Walter bei der TRIBÜNE, daneben Isa Speder von der BERLINER ZEITUNG, deren rigide Chefin Gisela Hermann hieß und Gattin des sattsam bekannten Joachim Hermann war, ich hätte hier eine leichte Mühe, in allen ein Patriarchat zu erkennen. Angelika Griebner jedenfalls reduzierte in ihrem Nachruf Irmtraud Morgner fast vollständig auf die Rolle der Feministin in den Farben der DDR. „Kein Schubfach, nirgends. Aufsässige lassen sich nicht einsperren.“, schrieb sie. Es wäre wichtiger gewesen, zu fragen, ob Morgner vielleicht etwas wie Klopstock war, den alle lobten, aber nicht lasen, den Lessing so abwandelnd. Denn das zieht sich durch Nachrufe und alle späteren rückblickenden Artikel: Immer erscheint Irmtraud Morgner als eine, die sehr hohe, die höchste Anforderungen an Leser und Leserinnen stellt, eine, die mit Erzählstrukturen, Perspektiv-Wechseln, mit kausaler Logik experimentierte. Ein Autorinnen-Duo (Doris Janhsen und Monika Meier) zitierte bei Gelegenheit des 60. Geburtstages von Morgner am 22. August 1993 im FREITAG eine so grauenhafte Passage aus dem Roman „Rumba auf einen Herbst“, nach der ich nie im Leben auch nur einen Satz mehr hätte lesen wollen. Ich zitiere die beiden Autorinnen gern.

„Das politisch-emanzipative Engagement, dem alle Texte Morgners auf ihre Weise verpflichtet sind, wird durch die Komposition der Romane in ein Kaleidoskop neuer Blickwinkel gezogen, das auch noch das Unabgegoltene zum Tanzen bringt. Insofern ragen sie, in bleibender Provokation, als Vorentwurf hinein in die gegenwärtige gesamtdeutsche Tristesse.“ Als Roman würde ich, so charakterisiert, bis zum Europäischen Gerichtshof Beschwerde einlegen: Ich rage nicht, ich werde auch nicht gezogen, was ich zum Tanzen bringe, ist angesichts meiner substantiellen Tonlosigkeit irrelevant, ich würde auf inkompetente Befangenheit plädieren: Samba, Rumba oder Blues mit dem Unabgegoltenen, den Damen sollte man zuvor einen Grundkurs in Musikstilen verordnen, ehe man ihnen die Produktion geistiger Schüsselsülze gestattet. Zurück aber zu den eigentlichen Nachrufen. Eckart Krumbholz zum Beispiel, vier Jahre jünger als Morgner und deshalb auch erst vier Jahre nach ihr gestorben, mixte seltsame Indiskretionen mit seltsamen Geheimnistuereien in seinem Beitrag für den SONNTAG vom 20. Mai 1990. Seither weiß ich, dass Joachim Schreck in der alten Wohnung Günter Kunerts in Berlin-Buch wohnte, ich weiß seither, dass Morgner sich mit Sarah Kirsch verkrachte wegen Biermann und wieder versöhnte und dass Thomas Mann bei Professor Freud abgeschrieben hat. Und dass sie sehr früh ergraute und immer sehr schwarzhaarig umherlief.

Nein, ich will nicht behaupten, dass sie so waren, die großen Feuilletonisten der DDR, es wäre eine zu heftig unzulässige Verallgemeinerung, zu heftig, nur erträglich im Kaleidoskop der Blickwinkel vielleicht. Oder im Tanz des Unabgegoltenen. 1993 übrigens war der Freitag schon so weit, dass das Korrekturlesen wegen der hohen Personalkosten entfiel, „Rumba auf einen Herbst“, der aus dem Nachlass kompilierte Roman, dessen Textgestalt ein Schweizer, Rudolf Bussmann, herstellte, „konnte erst 1922, nach dem Fall der Mauer, erscheinen“. In zwei Jahren feiern wir dann alle 100 Jahre Mauerfall. Irmtraud Gutschke schrieb in NEUES DEUTSCHLAND schon am 8. Mai 1990, so schnell ist das Blatt heute oft nicht mehr: „Sie hatte so viele Ideen für die Zukunft, und wir hätten ihren Rat dringend gebraucht.“ Wer wäre in diesem Falle „wir“ gewesen? Immerhin, Alice Schwarzer im ND, da musste erst Irmtraud Morgner sterben, das zu ermöglichen. Christa Wolf ließ ihren Nachruf unter der Überschrift „Der Mensch ist in zwei Formen ausgebildet“ in der ZEIT drucken, nicht ahnend, dass bald drei Formen mindestens als korrektes Minimum gelten würden. Die hauseigene Recherche zum Wolf-Beitrag schaffte es noch nicht einmal, dem Debüt „Das Signal steht auf Fahrt“ ein korrektes Erscheinungsjahr zuzuordnen. Wolf sprach von „Montageromanen“.

Ob außer Christa Wolf noch irgendein Mensch an Ingeborg Bachmanns Franza-Fragment dachte und eine Papierwand, durch die ein Mensch ging? Wolf wusste: „.. sie war tief mitgenommen von der Wucht der Veränderungen in der DDR seit dem letzten Herbst“. Das lässt sich tatsächlich an den letzten Interviews ablesen, die Morgner noch gab. Ihr schauderte vor einer Gesellschaft der nackten Konkurrenz, in der sie mit schwerst verdaulichen Romanen gegen Schund und Tratsch und Yellow Press hätte antreten müssen, was sie natürlich bezüglich ihrer eigenen Werke so nicht sagte. Fritz Rudolf Fries, den sein nebenberufliches Schaffen als IM erst später des Nachfragens wert machte, schrieb in NEUES DEUTSCHLAND: „Ihr Wort hat uns gefehlt in den nunmehr legendären Herbstwochen, und es fehlt in den Diskussionen dieser Tage.“ Das ist und war einfach falsch, denn eine Debatten-Teilnehmerin, eine öffentlich Eingreifende war Irmtraud Morgner eben nie gewesen. Ihr Worte konnten niemandem fehlen, weil es auch zuvor just diese Worte niemals gab. Sie schrieb nie offene Briefe, sie hockte nie Stefan-Heym-artig vor Kameras von ARD und ZDF, um betroffen dreinschauend dem System die finalen Leviten zu lesen. Als sie mit Sohn David und Ehemann Paul Wiens in der Leipziger Straße wohnte, war ich auch da, ein paar Wohnungen weiter: bei Erich Honeckers Schwiegersohn, der das Zweitgutachten für meine Diplomarbeit verfasste. Lange her.


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