7. Dezember 1984, ein Freitag

Goethe musste, als er sich seiner Vergangenheit widmete, eine junge Frau namens Bettina als Quelle heranziehen, die sich vormals von Frau Rath hatte erzählen lassen, wie er so war, der kleine Johann Wolfgang, als Kind und später. Es war ihm nicht vergönnt, einen Antrag bei der Gauck-Behörde seiner Zeit zu stellen und um Akteneinsicht zu bitten, die Kopien der Unterlagen hätten auch, was zu noch längeren Verfahren geführt hätte, als sie heute laufen, erst mühsam von Hand abgeschrieben werden müssen, um dann alle persönlichen Daten aller Personen inklusive der Mutter Aja nachträglich zu schwärzen. Wären die Dokumente schließlich in Weimar eingetroffen, hätte dero Geheimrat vermutlich in sein ministeriales Dienstsiegel gebissen vor Wut und Ärger. Wir haben es leichter. Auch wenn unsere eigenen Erinnerungen noch nicht jene Trübe erreicht haben, die uns reif macht, unser „Dichtung und Wahrheit“ in Angriff zu nehmen, wir können auf eigene Dokumente zurückgreifen, so spärlich die auch sind und so wenige Assoziationen sie wecken.

Greifen wir das heutige Datum heraus, wir nennen es den zweiten Advent, vor dreißig Jahren war es ein ziemlich gewöhnlicher Freitag. Der braungelb marmorierte Major-Kalender weist für diesen Freitag nach dem Nikolaustag zwei ziemlich blöd verteilte Lehrveranstaltungen aus, die ich abzuhalten hatte, um 11 Uhr mit der Seminargruppe 506, das war, einige werden sich erinnern, eine Seminargruppe aus der Sektion PHYTEB (Physik und Technik elektronischer Bauelemente), die wissenschaftliche Heimstätte einer späteren Beinahe-Bundespräsidentin, die damals, nun ja, noch eher unauffällig durchs Leben lebte. Um 14.30 Uhr wartete die Seminargruppe 407 auf mich, eine Gruppe aus der Sektion GT (Gerätetechnik), mit ihr hatte ich das Thema 7 abzuhandeln, von dem ich nicht mehr weiß, was es für eines war. Die Mühe, das herauszufinden, gebe ich mir an diesem schönen Sonntag nicht, an dem der Hausberg Kickelhahn aussieht wie mit Puderzucker überstreut, an dem die Kohlmeisen brav die Körner von unseren Körnerbrötchen aus dem Blumenkasten fressen, wohin sie aus dem Bäckerbeutel allwöchentlich geschüttet werden. Ich räume ein, das ich nach dem 84er Kalender lange suchen musste, weil das Gedächtnis doch schon Verlustbilanzen ausweist, insbesondere was das sorgfältige Aufbewahren von aussagefähigen Papieren betrifft.

Jene orangefarbenen Centra-Chromos-Ordner aber, auf deren Rückenschild „Bio“ steht, die sind mir keine Wundertüten, auch keine Sammlung von Tofu-Rezepten oder Adressen von koscheren Leberwurstlieferanten. In dem Ordner Bio Diverses findet sich in der Reihenfolge der sorgfältig geschnittenen Trennblätter Centra 630150 hinter Arbeitsamt und vor Reden, NVA und Musik die Abteilung Gauck. Das allererste Blatt ganz vorn weist die Herkunft „Zentrale Arbeitsverwaltung der DDR“ aus und ist ein Merkblatt für Arbeitslose. Ich bekam es in die Hände gedrückt, um den Bezug von Arbeitslosengeld vom ersten bis zum 14. August 1990 ordentlich in die Wege leiten zu können. Das war meine zweite Arbeitslosenzeit unter Schirmherrschaft des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden, die erste lag im Jahr 1973, ist nicht dokumentiert und fehlt mir bei den Rentenpunkten. Wegen der mitten in die DDR-Letalphase gefallenen Währungsunion heimste ich mein erstes DDR-Arbeitslosengeld schon in Form harter D-Mark ein, 560,28 DM gezahlt bekommen zu haben, bescheinigte mir das Amt in Suhl am 17. September 1990 gut zwei Wochen vor dem Tag, den ich in Eisenach erlebte, also dem Tag mit den Autocorsos, dem Gehupe.

Hätte es diesen Tag nicht gegeben oder wäre er wesentlich später gekommen, müsste ich jetzt schon aufhören, denn mehr fiele mir zum 7. Dezember 1984 beim besten Wollen nicht ein. Ich könnte die punktbezogenen Erinnerungsschwächen ausgleichen durch den Blick in Briefe, die ich schrieb und bekam, das werde ich nun trotzdem tun, aber erst muss ich den Teil mit dem Trennblatt Gauck aufklappen. Mein Antrag auf Akteneinsicht stammt vom 24. Februar 1994, schon am 3. März bekam ich eine Eingangsbestätigung. Unter Punkt 5.1 meines Antrages (Ergänzende Hinweise zum Antrag und zum Auffinden der Unterlagen) notierte ich in Druckbuchstaben wegen der Lesbarkeit:
„Unterlagen in Berlin (Studienzeit 75 – 80) teilweise bereits bei Freunden in deren Akten aufgetaucht. Unterlagen in Suhl zu vermuten besonders 1983 – 85 eventuell schon 1971 – 73; 1989 noch Anwerbungsversuch von Suhler Mitarbeiter nach meiner Aufnahme in den Schriftstellerverband“, Dann tat sich sehr lange nichts, dann veröffentlichte der in der Regierungserklärung von Bodo Ramelow als sein Freund angesprochene Andreas Möller in der BILD-Zeitung, für die er arbeitete, Hinweise auf ehemalige Stasi-Spitzel in aktuellen Thüringer Redaktionen. Meine Redaktion, für die ich damals noch arbeitete, beschloss daraufhin, ihre diesbezügliche Vergangenheit zu erkunden.

Entsprechend gab es einen Beschleunigungsantrag, schriftlich vom 1. Dezember 1995, telefonisch vorbereitet am 30. November 1995. Am 19. Januar 1996 erteilte mir die Außenstelle Suhl die Auskunft, ich sei erfasst, es dauere aber aufgrund der vielen laufenden Anträge, bis ich Akteneinsicht nehmen könnte. Ebenfalls das Datum 19. Januar 1996 trägt die gleichzeitige Auskunft, dass keine Hinweise auf eine hauptamtliche oder inoffizielle Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst vorliegen. Aus Gründen, die hier nicht zu erörtern sind, bekam ich nach weiterer langer Wartezeit eine am 10. November 1998 ausgeschriebene Einladung für den ersten Dezember 1998. Ich könne, las ich, am ersten Dezember 1998 um 10 Uhr in der Außenstelle Suhl, neuer Friedberg 1, Haus 17, Einsicht in die aufgefundenen Unterlagen tun. Was ich tat. Nach den Kriterien jener, die ihre eigene Bedeutung am Nettogewicht ihrer Stasi-Akten respektive an der vorgefundenen Blattzahl ablasen und -lesen, war ich geradezu gnadenlos bedeutungsarm, habe mich aber in der Folge immer an schwerst enttäuschten Menschen aufgerichtet, die mir erzählten, sie hätten allweil in der Bahnhofskneipe böse Witze über Honecker gemacht und nun trotzdem keine Akte. Meine hundert Blatt fand ich am interessantesten dort, wo gar kein Blatt war, aber Hinweise auf Blätter, die da hätten sein müssen, wenn nicht die Aktenvernichter Akten vernichtet hätten.

Nichts gab es aus der Armeezeit, nichts gab es aus der Zeit meines Volontariats, der erste Suchauftrag kam aus einer nur von 1976 bis 1980 existieren selbständigen Diensteinheit AGA, die sich mit  der politisch-operativen Sicherung von Ausländern befasste, ich habe gelegentlich schon darauf Bezug genommen, es betraf meinen Freund Sergio aus Nicaragua. Dem ersten Suchauftrag vom 25. Januar 1977 folgten am 9. Februar Suchaufträge zu meinen Eltern und meiner Frau. Der erste Auskunftsbericht datiert vom 7. März 1977, am 10. März folgte ein Ermittlungsbericht aus meinem Wohngebiet, ein Kriminalistikstudent, der wie ich in der Berliner Mulackstraße 25 wohnte, hatte zugearbeitet. Vom 17. August 1977 datiert ein weiterer Suchauftrag wegen der Verbindung zu meinem Freund Uwe, der wiederum wegen Verbindung zu Robert Havemann unter Beobachtung stand. Der Ermittlungsbericht zu meiner Frau vom 8. Dezember 1997 fußt auf den Informationen eines Bürgermeisters, eines Kaderleiters, eines Kreisschulrates, eines Mitarbeiters der Abteilung Volksbildung und eines Verwandten, der hauptamtlich für die Staatssicherheit arbeitete. Halbwegs lustig ist der Umstand, dass die Auskunftspersonen, die teilweise auch im Auskunftsbericht über mich, ebenfalls vom 8. Dezember 1977, auftauchen, bei mir mit anderen Jahreszahlen erscheinen als bei meiner Frau, die Jahreszahlen geben an, seit wann bei der Stasi „bekannt“. Sonderlich viel intelligente Querabstimmung scheint es bei den Schnüffelnasen nicht gegeben zu haben.

Vom 7. Dezember 1984 datiert ein Ermittlungsbericht, der von Major Scheffel und Leutnant Richter gezeichnet ist. Die Auskunftspersonen waren mein Direktor für Kader und Qualifizierung, mein Institutsleiter (Institute gab es zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr an Hochschulen, die Staatssicherheit hatte offenbar die dritte Hochschulreform komplett verpennt), ein Mitarbeiter des nicht vorhandenen Institutes, eine Frau aus dem Wohngebiet (sie wohnte zwei Etagen über mir in der Kopernikusstraße 8) sowie zwei Abschnittsbevollmächtigte. Zu Rate gezogen wurde alles, was bis dahin sich gesammelt hatte, es wäre ein Sonderstudienthema, wie sich welche Information hinschleppt, einfach abgeschrieben wird oder aber seltsame Metamorphosen erlebt, ohne dass neue Erkenntnisse zwischenzeitlich gewonnen wurden. Der Ermittlungsbericht ist sauber gegliedert und verrät, was für ein problematischer Fall ich war: „Bedingt durch ungenügende Arbeitsdisziplin und Selbstüberschätzung konnte er seine Arbeit nicht termingemäß abschließen und es wurde ihm eine einmalige  Verlängerung der Assistentur bis Dezember 1984 bewilligt.“ Die Genossen hatten mich durchschaut.

Ich hätte in der Tat zum Ende des Studienjahres 1983/1984 mit meiner Doktorarbeit fertig sein müssen, hatte in totaler Selbstüberschätzung etwa 3000 Seiten schriftliches Material gesammelt, um daraus schließlich maximal 120 Seiten Text zu destillieren, von dem etwa zwei Drittel Vervielfältigungsreife erreicht hatten, als die Genossen auf die wunderbare Idee kamen, mich mitten aus der Schreib-Endphase heraus und von meiner hochschwangeren Frau weg in ein Lager für Zivilverteidigung zu schicken, wo ich, ohne Mitglied der FDJ zu sein, den FDJ-Sekretär spielen sollte für etliche Wochen. Dergleichen würde selbst der aggressivste und menschenfeindlichste Imperialist einem jungen Wissenschaftler nie angetan haben, ich musste betteln um wenigstens etwas vorzeitig nach Hause zu können, wo fortan mein Arbeitsplatz im kombinierten Schlaf- und Arbeitszimmer durch ein Baby-Bett blockiert war. Es gelang mir danach einfach nicht, mich so hinreichend zu disziplinieren, ohne Arbeitsbedingungen kreativ zu sein. Bei der Länge der einmaligen Verlängerung hatten sich die Genossen zudem um ein halbes Jahr verhört, was natürlich nichts mit deren Selbstüberschätzung zu tun haben konnte.

„Obwohl Ullrich, Eckhard über hohe intellektuelle Fähigkeiten und eine entsprechende Qualifikation verfügt, wird der bisherige Teil seiner Dissertation von seinem Betreuer (Name hier verschwiegen – E.U.) als parteilich unverbindlich sowie unkonkret eingeschätzt und es ist Ausdruck mangelnden Verantwortungsbewußtseins und einer ungefestigten Klassenposition.“ Hätten die Genossen sich selbst ernst genommen, wäre ihnen womöglich aufgefallen, dass es einem Angehörigen einer Schicht zwangsweise schwer fallen musste, eine Klassenposition zu entwickeln, eine Schichtposition wäre da eher zu erwarten gewesen, da aber hätten die Genossen wohl wieder  an Nachtschicht gedacht, die für beobachtende Genossen (Biermann: „die bei Schnee und Regengüssen mühsam auf mich warten müssen“) ganz sicher nicht zu den Höhepunkten ihres Dienstlebens zählte. Ich entstammte der sozialen Schicht der Intelligenz, was mir bis heute sympathischer ist als beliebigen Gruppen von Volltrotteln anzugehören, und da war halt potentiell immer ein Wurm drin. „Dies wird noch durch die ablehnende Haltung des Genannten, Mitglied der SED zu werden, bekräftigt. Gegenüber dem Genossen (Name hier verschwiegen, der Namensträger führt ein kleines wirtschaftliches Unternehmen im Gastgewerbe und soll nicht Schaden an Umsatz und Ruf nehmen – E.U.) vertrat er in einer diesbezüglichen Aussprache die Auffassung, daß man in unserem Staat augenscheinlich nur etwas werden kann, wenn man in der Partei ist.“ Alle mich negativ beurteilenden Passagen des Ermittlungsberichtes sind an der Seite angestrichen, von wem auch immer, wohl damit sie schneller aufgefunden werden konnten, wo wem auch immer.

„Wie bereits erwähnt, zeigt Ullrich, Eckhard, keine feste ideologische Position, ist leicht durch negative Meinungen zu beeinflussen und neigt zum Systemkritiker. Entsprechend dem eingesehenen VSH-Material der KD Ilmenau gehörte Genannter während seiner Studienzeit an der Humboldt-Universität Berlin einer Gruppe Studenten an, die sich auf der ideologischen Plattform des sogenannten „modernen Sozialismus“ in Richtung Biermann/Havemann zusammengeschlossen hatten.“ Hier melde ich nachträglich energischen Protest an. Meine negativen Meinungen habe ich mir stets selbst gebildet, dazu brauchte ich keine Beeinflussungen, aber Ihr Deppen im Majorsrang konntet nie begreifen, dass Menschen selbst im Sozialismus in den Farben der DDR nicht nur eigene Köpfe, sondern in diesen Köpfen auch eigenes Hirn hatten. So wie Ihr in Eurer kompletten Volltrotteligkeit annahmt, dass man Mängel am System durch verstärkte politisch-ideologische Arbeit in den Parteigruppen ausbügelt, so nahmt Ihr auch an, dass einen Abfall vom rechten Glauben nur der Teufel bewirkt haben kann, pardon, da habe ich wohl etwas verwechselt. Und Logik war nie Eure starke Seite, man könnte meinen, zum Logikseminar der Offiziershochschule für Schlappohren hattet Ihr immer gerade Haushaltstag.

„Ullrich, Eckhard wird als Einzelgänger beurteilt. Zum Kollektiv hat er nur wenig Verbindung. Der Genannte ist leicht beeinflußbar und stark materiell interessiert. Ullrich, Eckhard neigt zu extremen (!!) äußeren (!!) Aussehen, welches sich in sehr nachlässiger, teilweise unsauberer, Kleidung sowie wenig gepflegtem Haar- und Bartwuchs widerspiegelt. In moralischer Hinsicht sind keine negativen Momente bekannt.“ So war ich: ein Einzelgänger, der sich zu einer Gruppe zusammengeschlossen hatte, moralisch ohne Fehl und Tadel, dafür aber mit teilweise unsauberer Kleidung sowie ungepflegtem Bartwuchs. Ich besaß zum Beispiel einen hellblauen französischen sowie einen weißen Jeans-Anzug, die so ungepflegt und teilweise unsauber aussahen, dass ich in Ungarn im Urlaub um Westgeld angebettelt wurde, obwohl ich nur über DDR-Mark verfügte. Mein materielles Interesse erstreckte sich vor allem auf antiquarische und neue Bücher, von denen ich nie genug raffen konnte, diese peinliche Eigenschaft klebt mir bis heute an. Im Wohngebiet trat ich nicht in Erscheinung  und bin bis heute unsicher, ob es mich dort überhaupt gab. Dafür aber kannte ich einen Lehmann, Hartmut, der im September 1975 tödlich verunglückte und ESG-Mitglied war. Und es wurde vermutet, dass Kontakte zum Abteilungsleiter Außenpolitik der „Berliner Zeitung“, Links, bestehen. Diese Kontakte bestehen noch heute, und zwar freundschaftlicher Art. Es kann aus eigener Erkenntnis heraus berichtet werden, dass Links sogar über einen echten Vornamen verfügt.

Ich fand in meiner Akte einen Originalbrief meiner Tante Erika aus Schwelm an meine Mutter in Gehren, welcher an keiner Stelle auf mich Bezug nahm und zu denen gehörte, die nie bei meinen Eltern ankamen und für manche innerfamiliäre Irritation sorgten. Ich fand einen Brief der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg in Kopie an mich vom 20. September 1983. Am 9. November 1983 gab es erneut einen Suchauftrag. Am 7. Dezember 1984 hieß es über mich: „Er ist sehr belesen und verfügt über eine umfangreiche eigene Bibliothek. Der Genannte ist im Schreiben gewandt und vermag, korrekt und treffsicher zu formulieren.“ Woran ich dankbar die Folgerung hängen müsste, dass nicht einmal bei der Staatssicherheit alles schlecht war in der DDR, denn wo sie recht hatten, hatten sie recht: meine Bibliothek ist sogar noch umfangreicher geworden in den dreißig Jahren seither. Meine Tochter hat es Auskunftsersuchenden einst dahingehend erklärt, dass „bei uns“ überall Bücher stehen, nur auf dem Klo nicht. Inzwischen habe ich selbst ihr ehemaliges Zimmer damit halbwegs angefüllt. Und lese dort zuweilen. Wenngleich nicht in meiner Akte.


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