Tagebuch
6. November 2018
Früher hätte mich eine solche Nachricht kaum dazu gebracht, den Blick von den Schnürsenkeln zu wenden, an einem Montag aber, da ich mich anschicke, den ersten Teil einer RAF-Geschichte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen, weil mich Terroristinnen schon immer interessierten, noch mehr aber, wenn sie von Petra Schmidt-Schaller gespielt werden, da breitet sich Vorgefühl in mir aus: im kommenden Jahr komme ich in den Genuss einer Rentenerhöhung von 3,9 Prozent, da soll noch einer was gegen die Groko sagen, die freilich nichts dafür kann, es ist halt der Verlauf der Konjunktur. Heute wäre vom 138. Geburtstag Robert Musils zu reden oder vom Spielplan in Bad Hersfeld 2019, der mich von einer Reise abhält, weil ich zwar Franz Kafka mag, nicht aber seine Romane auf Bühnen, gleich wer und wie gut der/die sie inszeniert. Ich bin der sehr altmodischen Meinung, dass 2500 Jahre Weltdramatik so viel beinhalten, dass Romane Romane bleiben sollten.
5. November 2018
1965 gab es noch wissenschaftliche Bücher des Berliner Akademie-Verlages, die hinten die vollständigen Anschriften nicht nur der DDR-Wissenschaftler, sondern auch der Gäste aus dem Reich des Bösen abdruckten, sodass man, falls man wollte, an sie schreiben konnte, damit dem aufs Brieföffnen spezialisierten Spezialministerium eine Jobgarantie liefernd. Immerhin ist dem als Band I deklarierten Buch über Turgenjew und Deutschland nie ein zweiter Band gefolgt, der so auch gar nicht hätte mehr heißen dürfen, denn was um alles, war denn Deutschland? Das alte, das ganz alte, oder gar jenes in drei Teile zerfallende mit dem besonderen politischen Territorium Westberlin? Ich nähere mich dem 200. Geburtstag von Iwan S. Turgenjew auf leisen Sohlen, dem 199. widmete ich vor Jahresfrist ein Textlein über ein Bühnenwerk, das werde ich in diesem Jahr nicht wiederholen können wegen anderer Jubiläen. Ein Montag voller Sonnenschein zu Lasten der neuen Winterräder.
4. November 2018
Es ist wie mit Turgenjews „Natalie“, von der man nicht automatisch wissen muss, dass sie „Ein Monat auf dem Lande“ unter anderem Titel ist wegen ihres anderen Übersetzers. „Mumu“ ist der andere Titel von „Der Stumme“, den wiederum las ich am 3. Januar 1976 mit Federzeichnungen von Kurt Riedel aus dem Leipziger Jugendbuchverlag E. Wunderlich 1953. Nicht weniger als 13 Bücher las ich in jenem Januar, in dem meine studentische Hauptaufgabe eigentlich „Materialismus und Empiriokritizismus“ von Lenin hieß, das musste ich konspektieren, deshalb waren die anderen zwölf Titel deutlich dünner: immerhin noch Joseph Conrad dabei und Bobrowski und ein zweiter Turgenjew. Am Nachmittag ein Ausflug zum Ilmenauer Lichterfest. Vom Wetzlarer Platz bis zum Kino alles rammelvoll, wir trafen tatsächlich sogar Bekannte, nur diesmal fotografierte uns anders als beim Stadtfest niemand, als Wahlkampfunterstützer haben wir unsere Schuldigkeit brav getan.
3. November 2018
Mein Behandlungsplan Kiefergelenkserkrankung/Kieferbruch vom 24. Oktober hat den Segen meiner Krankenkasse, für meine Privatkasse wird am Ende dennoch und trotz Zusatzversicherung ein Stänglein bleiben. Ob ich später noch so fröhlich wie nach der gestrigen wunderbar mundigen Weinprobe im Gemeindesaal in der Unterpörlitzer Straße werde zubeißen können, wird sich zeigen, wenn alles installiert ist, wieder aufgebaut, was einst mitten im Sozialismus durch suboptimale Zahnarztkunst respektive Abwesenheit von Zahnärzten für Studenten über den Jordan ging. Den Versuch, nach meiner Morgenlektüre von „Mumu“ herauszufinden, wann ich diesen Turgenjew zuerst las, gab ich erst einmal auf. Sicher bin ich nur, dass die Geschichte nichts verloren hat seit damals. Das Weingut, dessen Erzeugnisse ich in trauter Runde verkostete, sitzt in einem Ort namens Sommerloch, meine Favoriten ein Regent, ein Spätburgunder Alte Reben, ein Weißburgunder.
2. November 2018
Allerseelen heute ist für die Spatzenscharen unter meinem Arbeitszimmerfenster ein finsterer Tag. Drei, phasenweise vier Männer rotteten unter Erzeugung von Höllenlärm zwei üppige Sträucher mit Hagebutten aus, der eine Busch war vor einem Jahr schon verstümmelt worden, trug aber noch tapfer Früchte, jetzt sind beide weg. Die Sperlinge haben nun nicht nur einen Landeplatz weniger, in dem sie fröhlich zwitschern konnten, auch eine gute Vorratskammer mit Winterfutter ist weg. An der auch andere Vögel teilhatten. Die Sozial-Verbrecher, pardon, Sozial-Demokraten, die 2004 die Teilenteignung meiner Altersvorsorge bei Eintritt ins Rentenalter beschlossen, damit meinen Vertrag mit dem Presseversorgungswerk aus dem Jahr 1991 in ein Vertrauensbruch-Papier verwandelnd, nehmen mir von den ersten 120 Monatsrenten nicht weniger als 19 einfach wieder, ich bekomme also dank Rot-Grün rein rechnerisch in 10 Jahren nur achteinhalb Jahre Rente. SPD-Gerechtigkeit!
1. November 2018
Als zivilisierter Bürger bin ich bis zum heutigen Tage durchaus geneigt gewesen, Hassmails in den so genannten sozialen Medien mit Unverständnis zu begegnen. Nun aber, ausgelöst durch einen Brief der AOK, eröffne ich mein persönliches Hass-Zeitalter. Mein Hass gilt beiden Parteien, die vor Jahren eine rot-grüne Regierung bildeten, in dieser Funktion ein Gesetz unter Ausschluss des in Deutschland geltenden Rechtstatbestandes Vertrauensschutz erließen, demzufolge nachträglich Beiträge zur Altersvorsorge, bei mir im Presseversorgungswerk, krankenversicherungspflichtig sind. Praktisch bedeutet dies für mich, dass ich in den kommenden zehn Jahren mehr als 20.000 Euro an eine Krankenkasse nachzahlen muss, bei der ich erst seit zwei Jahren überhaupt bin, dass ich keinerlei juristische Handhabe habe gegen dies verbrecherische Gesetz aus dem Jahr 2004 und darüber auch erst aufgeklärt wurde, als die Auszahlung meiner Altersversorgung fällig wurde.
31. Oktober 2018
Zu den härteren Fällen des Bücherfreundelebens gehört der, dass man Vorkasse leisten soll, einem aber nicht die Kontodaten zur Verfügung gestellt werden, die man zur Überweisung benötigt. So zieht sich der Erwerb eines alten Stückes ein Weilchen hin, man entfaltet muntere Mail-Wechsel und am Ende überkreuzen sich verspätete Zahlung und Lieferung. Dabei ist Jost Schillemeit nicht eben überrepräsentiert auf dem Markt, ich also froh, just das gefunden zu haben, was ich als solider Arbeiter im Fontane-Bergwerk brauche. Heute sind wir gewappnet, falls es um Saures und Süßes geht, es gab schon Jahre, da wir uns den Ruf von Dödeln einhandelten, weil unbevorratet. Wir haben einen dicken Reisekatalog durchblättert und sind auf ein Angebot gestoßen, dass uns zusagt, werden demnach 2019 der zweiten gleich noch eine dritte Renteneintrittsreise folgen lassen. „Alles spitzt sich im letzten zu einer Geldfrage zu“ sagt Fontane, sagt locker seine zweite Rom-Reise ab.
30. Oktober 2018
Wenn eine hochrangige Politikerin der CDU, die jahraus, jahrein nur von Angela Merkel redete, plötzlich von Frau Merkel spricht, dann weiß, wer mit Ohren ausgestattet ist zu hören, was die Stunde geschlagen hat. Manchmal dauert es danach noch etwas länger. Und so vermerke ich am heutigen 30. Oktober, dem 25. Jahrestag meines ersten und bisher einzigen Herzinfarktes, zugleich dem ersten Erscheinen einer Rentenzahlung auf meinem Girokonto, eine historische Einmaligkeit: meine erste und bisher einzige Lieblingskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, wirft mit Geste hin: erst den Vorsitz, dann die Kanzlerschaft, mit ihr auch noch das Bundestagesmandat. Geschieht alles vor der nächsten regulären Wahl, freut sich ein Nachrücker, wird vorgezogen, ist wieder die SPD das Opfer, die so ausdauernd ihr Profil schärft, bis dieses wegen Dünne durchscheinend wird. Meine Rente reichte für mittelfristige Altersarmut, wäre ich nicht der Gatte einer Gattin, der ich bin.
29. Oktober 2018
Man hat sich beeilt in Gera gestern, 15 Minuten Spielzeit gespart, so dass wir etwas eher in den anhaltenden Dauerregen zurückkehren konnten und zum vorläufigen Hochrechnungsergebnis aus Hessen. Mittlerweile kann ich die Sätze der Experten bei Anne Will schon mitsprechen, obwohl ich diesen Experten noch gar nicht kannte, aber er sagte halt, was ich schon sechsmal las. Die Experten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren, da halten sie sich auf der Höhe der Volksparteien. Wie auch immer: am Morgen hörte ich im Frühstücksfernsehen, dass es für eine satte 49er Adenauer-Mehrheit doch noch reichte. Unser neuer Oberbürgermeister muss schon am 1. November seinen Dienst antreten, was er nicht wusste. Unser alter Oberbürgermeister wird den Schreibtisch besetzt vorfinden ohne Übergabe, wenn er aus seinem Fernreise-Urlaub wieder an seinem vermeintlichen Arbeitsplatz einrücken will. Unseren OB aber wählen wir Ilmenauer künftig immer ganz extra.
28. Oktober 2018
Als ich am Freitag zu später Stunde von Meiningen gen Ilmenau fuhr, die endlose 80er Zone also, überholten mich mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit exakt drei Fahrzeuge, das erste mit dem Schweizer Kennzeichen AG für Aargau, das zweite mit dem Schweizer Kennzeichen ZH für Zürich, das dritte mit dem Kennzeichen SÖM für den Thüringer Kanton Sömmerda. Würde ich mit meinem durchaus flotten Fahrzeug in der Schweiz so schnell fahren wie diese Schweizer bei uns und dazu so unbeeindruckt von den an den Straßenrändern stehenden Schildern, würde ich wohl jedes Mal in die Schweizer Bußgeldgeschichte eingehen und nennenswerte Teile der dortigen Kantonshaushalte tragen, hier aber ist Raserland. Heute reisen wir vorbildlich nach Ostthüringen, vorbildlich auf den Theatergang vorbereitet, final las ich eben noch „Burleske“ aus Max Frischs Tagebuch von 1948. „Biedermann und die Brandstifter“ sah ich zuletzt 2014, es ist also hohe Zeit für frischen Frisch.
27. Oktober 2018
Drei Stunden Schiller gestern, eine späte Heimkehr folgerichtig, eine längere Auslaufkurve bis zur nötigen Bettschwere. Gut, dass wir in dieser Nacht eine Stunde geschenkt bekommen, nachdem sie uns im März gestohlen wurde. Ich bekomme nicht gern Diebesgut zurück, am liebsten werde ich gar nicht erst beklaut. Deshalb finde ich die Idee einer durchgehenden Sommerzeit dämlich, ich bin für durchgehende Normalzeit. Immerhin, wenn ich morgen aus Gera zurückkehre, einen hoffentlich soliden Max Frisch gesehen habend, dann ist es noch gar nicht so spät wie es aussieht, obwohl es so dunkel sein wird, wie es eben dunkel ist um diese Jahreszeit. Im April 1878 schrieb Fontane, der schon wieder: „Um den Karl Moor zu spielen, muss man an ihn glauben. Aber welcher gebildete Mensch kann das. Fände sich einer, so tut er mir leid. Im Leben wird jede Kraftmeierei verlacht; auf der Bühne sollen wir sie nach wie vor pietätvoll hinnehmen.“ Ehrlich: ich ziehe „Maria Stuart“ vor.
26. Oktober 2018
Als ich am 26. Oktober 1993 in Verona Renzo Chiarellis „Neuen praktischen Führer von Verona“ für bescheidene 6000 Lire kaufte, war dieser noch neu, fünf Jahre später, am 25. September 1998, verzichtete ich auf den Erwerb einer neuen Broschur, obwohl ich die alte in Ilmenau vergessen hatte. Meine ersten Fotos zeigen San Zeno Maggiore, außen, innen, unten, den Kreuzgang. Wie viele Kreuzgänge sahen wir seither. 1998 fuhren wir bei Regen in Garda los, erwischten dann aber einen sehr schönen Verona-Tag. Sehe ich die wenigen Bilder, auf denen ich selbst bin, dann meine ich, mir schon etwas anzusehen vom nahen 30. Oktober: ein wenig in mich gekehrt, ein wenig wie unterdrückt leidend. Das bilde ich mir natürlich nur ein, weil ich weiß, was passierte nach unserer Rückkehr vom Gardasee. Das ist wie bei Fontanes „Schach von Wuthenow“: weil alle wissen, dass Jena-Auerstädt folgte, glauben sie an die Genialität der Projektion. Fontane wusste nur, was kam.