Tagebuch
13. Oktober 2018
zwei Tage her, aber erst heute kann sich die Groß-Familie drum herum versammeln und den feierlichen Anschnitt begutachten. Vier Generationen an einem Tisch, das ist fast wie in archaischen Kulturen, nur dass dort die Urgroßmutter ein Kopftuch trug, freilich ein mit dickem Knoten unter dem Kinn gebundenes. Und morgen geht es nahtlos weiter: 63. In diesen Oktober-Tagen, wissen die Beteiligten, lag früher schon manchmal Schnee. Heute ist Klimawandel und wenn wir alle schön mit dem Elektro-Auto fahren, dafür kommt die Energie aus der Steckdose und nicht von Atom, Kohle oder Windrad, dann wird es bald auch wieder Flocken geben im Oktober, die jetzigen Urenkel werden es erleben. Grönland wird dann mit Island um den Namen Iceland wetteifern, wobei die Differenzen friedlich ausgetragen werden auf Baumhäusern und mit Puddingpulver.
12. Oktober 2018
Die Olympischen Spiele in Mexiko, am 12. Oktober 1968 eröffnet, waren für mich wie viele andere auch, die Roland-Matthes-Spiele: zwei der neun Goldmedaillen für die DDR gewann er: über 100 und über 200 Meter Rücken. Als Schüler der 10. Klasse an der Goetheschule Ilmenau verpasste ich einen Teil der Spiele wegen einer Klassenfahrt. Von der ich nicht viel mehr in den dunkleren Ecken meiner Erinnerungen finde als den Umstand, dass wir bei der Rückkehr vor dem Hauptbahnhof von zwei Goldmedaillen erfuhren. Es waren die von Manfred Wolke im Boxen und die von Lothar Metz im griechisch-römischen Ringen, dessen Regeln ich nie verstand. Wolfgang Nordwig ergatterte die Bronze-Medaille im Stabhochsprung. Als Nordwig 1972 in München Gold gewann, gratulierte ihm der 68er Sieger aus den USA, Bob Seagren, nicht. Was man sich so merkt. Die Stimme Bernhard Minettis etwa, er starb vor 20 Jahren, als der als alter Faust „Habe nun, ach“ sprach: unvergesslich.
11. Oktober 2018
Vor zehn Jahren sagte sie, leicht in sich versunken: Achtzig wollte ich eigentlich nie werden. Nun hat sie die 90 erreicht und als sie die Mutter von John McCain im Rollstuhl am Sarg ihres mit 82 gestorbenen Sohnes sah, sagte sie: Wenn man 106 ist, darf man auch im Rollstuhl sitzen. Die Torte mit der 90 drauf ist bestellt, die Plätze in ihrer Wunschgaststätte sind reserviert, das Hauptgeschenk kommt mit Enkeln und Urenkeln aus der Hauptstadt. Vielleicht muss man einen 17. Geburtstag 1945 erlebt haben wie sie, um trotz vieler Krankheiten, schwerer Operationen, Frühinvalidität so alt zu werden und immer noch allein in der eigenen Wohnung leben zu können, wo bis vor acht Jahren der Sohn, seit acht Jahren der Enkel das wöchentliche Einkaufen übernommen hat. Besser hören würde sie gern, besser sehen auch, die Handarbeiten gehen nur noch gelegentlich und schwerer von der Hand. Dass die Zeitungen nicht mehr gratulieren wegen des Datenschutzes, ist ihr sehr recht.
10. Oktober 2018
„Ich stamme aus einer Zeit, in der Balladen den Kindern den Zugang zu der Welt der Dichtung erschlossen, und in der Mütter, sich selbst am Klavier begleitend, sangen, so dass Gedichte zuerst Lieder waren“ – so begann Marie Luise Kaschnitz ihren Vortrag über Eduard Mörike. Natürlich war ihr klar, dass sie von einer ziemlich kleinen, sehr bestimmten Schicht redete, denn als sie geboren wurde am 10. Oktober 1901, da gab es massig Mütter, die mit Mann und mehreren Kindern in einem einzigen Raum schlafen mussten, ein Klavier hätte selbst als Miniatur nirgends Platz gefunden. Immerhin fünf Kaschnitz-Bücher las ich in diesem Jahr schon zu Ende, darunter zuletzt „Griechische Mythen“. Am heutigen Welttag gegen die Todesstrafe denke ich daran, dass unsere hyperaktiven Menschenrechtsfreunde eigentlich nie gegen die Todesstrafe in den USA kämpfen, die dort in grauenvollster Ritualisierung vollzogen wird. Der Welthundetag steht mir katzenmäßig fern.
9. Oktober 2018
Schwer auszudenken, was heute los wäre, wenn Thomas Mann seine Antwort auf Otto Julius Bierbaums Frage nach französischen Einflüssen, 1904 in „Die Zeit“, Wien, gedruckt, in „Die Zeit“, Hamburg, 2018 veröffentlicht hätte. Man lese: „Ich bin nordisch gestimmt, bin es mit der ganzen Bewusstheit, die heute überall in Sachen der Nationalität und der Rasse herrscht.“ Welch ein Shitstorm wäre zu erwarten, wie viele Berg- und Talprediger würden sich in ihre Brüste werfen, beiderlei Geschlechts und aller restlichen Zuweisungen. Wen würde die herrliche Ironie überhaupt interessieren, die der Autor der „Buddenbrooks“ souverän handhabt: „… in weiteren Kreisen bin ich, glaub ich, als Schilderer guter Mittagessen geschätzt“. Wie komme ich überhaupt darauf? Ach ja, wegen Fontane: „… dürfte man ihn für zweifel- und makellos deutsch erklären?“, fragt Thomas Mann. Theodor Fontane nannte einen seiner frühen Romane hemmungslos einfach „L’Adultera“.
8. Oktober 2018
Zur Gewohnheit soll es nicht werden, aber wenn es vorkommt, kommt es vor: Tagebuch am Abend, erquickend und labend. Ich habe eben ein Autogramm in ein Buch geschrieben, an dem ich fast nichts verdiene, ich habe Torschützen aus der Premier League gesehen, die mir besser schienen als unsere Torschützen. Die Politiker im Talk sind immer noch unerträglich, der Faktencheck dafür nicht mehr, was er einmal war. Wenn ich weniger Leberwurst esse, halte ich den Klimawandel auf, wobei es mir einigermaßen Wurst ohne Leber ist, wenn es 2052 mehr als anderthalb Grad wärmer ist als jetzt. Ich bin dann 99 Jahre alt und brauche wahrscheinlich jede Wärme, die ich kriegen kann, vielleicht trinke ich sogar noch den ersten norwegischen Rotwein mit und idealerweise nicht aus der Schnabeltasse. Ich las Albert Kösters gestern begonnene sieben Vorlesungen über Gottfried Keller zu Ende aus dem Jahr 1899, ich bin als Historiker wohl doch ein rückwärtsgewandter Kleinprophet.
7. Oktober 2018
Als Event inszenierte Proteste gegen Nordwind, Südwind, Westwind und Ostwind, gegen Atom, Kohle, Sonne, Mond und Sterne sowie Windräder sind nicht mein Ding. Ich möchte, dass das Licht angeht, wenn ich auf den Knopf drücke und finde, dass Fledermäuse, die zu blöd sind, einer Brücke auszuweichen, es auch nicht verdienen, unschuldige Nachtfalter im Flug zu fangen und aufzuessen. Ich liebe Nachtfalter. Je näher die Ilmenauer Oberbürgermeister-Wahl rückt, umso öfter werde ich auf das Pseudoplakat angesprochen, das die Familie Ullrich mit dem Kandidaten Andreas Bühl in den so genannten sozialen Medien zeigt. Das Foto schoss mein alter Lieblingsfotograf, der mich auch für meine Homepage und meine Bücher belichtete. Es war am Stadtfestsonntag im Juni. Und wenn nun der Kandidat Bühl die Wahl gewinnt, ich hoffe, er schafft es im ersten Wahlgang, dann ist das gut für Ilmenau. Von „Social Media“ halte ich selbst mich fern wie das Weihwasser vom Teufel.
6. Oktober 2018
Gut, es gab tatsächlich eine Zeit, da ich Donovan gern hörte. Jetzt aber, wenn Gottschalk die Donovan-Mumie aus der Gruft ziehen, ihr einen Stecker in den Hintern stecken und sie dann zittrig „Hurdy Gurdy Man“ krähen lässt, bekomme ich Schreikrämpfe und flüchte aus dem Wohnzimmer. Gottschalk stellt Claudia Roth die Frage, ob wir immer noch von der DDR reden müssen, findet es aber selbstverständlich, dass wir uns sein ewiges Von-68-Gequatsche anhören. Das alles nach einem netten Tag in Nürnberg, wo wir einen geführten Stadtrundgang erlebten, den Handwerkerhof und das Memorium Nürnberger Prozesse sahen, wieder mit einer informativen Führung. Rechtzeitig noch vor der Wahl verlieren die Bayern zu Hause, was man als Omen sehen darf. Für alle Fledermausfreunde war das auch gestern schon toll: eine Milliarde Wertverlust für RWE geschafft, 4600 Arbeitsplätze in Gefahr gebracht und endlich wieder ins Baumhaus dürfen.
5. Oktober 2018
Wie erzieht man seine Kinder zu gesunder Ernährung? Man geht an einem Freitag mit seinen drei Mädchen zu Aldi, kauft dort zwei Gurken, drei Semmeln und noch einige andere Dinge und bittet dann die Frau an der Kasse, doch die Brötchen zuerst einzugeben, damit die Mädchen sie essen können. Die drei Mädchen, die zuvor noch ausdauernd an den Weinflaschen des Angebotsregals von gestern fummelten, stehen danach, während Mutter und Vater zwei getrennte Rechnungen umständlich begleichen, wie die Eichhörnchen mit der Haselnuss zwischen den Händen, ernsten Gesichtes. Trockene Semmeln waren allzeit willkommene Kindernahrung, ich kenne das aus ganz eigener Erinnerung. Ich biss einst sogar, wenn ich das frische Vierpfundbrot beim Bäcker Nippe zu holen hatte, mitten hinein, was angesichts meiner prinzipiellen Leichtgewichtigkeit toleriert wurde. Vierpfundbrote oder gar solche mit fünf und sechs Pfunden sind ausgestorben wie die Dinosaurier.
4. Oktober 2018
Erstmals erscheine ich als Rentner beim Bäcker und am Zeitungsstand, meine Gegenüber ahnen davon natürlich nichts. Pünktlich zum neuen Status hat die neue Maestro-Girocard ihre Premiere, es funktioniert mit der alten PIN. Die ersten Buchmesse-Beilagen liegen auf dem Zeitungsstapel, die restlichen sind bestellt. Den Literatur-Nobelpreis gibt es 2018 nicht, weshalb in Frankfurt kein Verlag Panik bekommen muss, wenn der Name verkündet wird. Wenn alles klappt, gibt es 2019 zum Ausgleich-Doppel-Panik. Ich habe eine Reise zum nächsten Rentenantritt gebucht, der auf den Kampf- und Feiertag der Werktätigen fällt und aus einer Leserreisen-Werbung die nächste Italien-Tour ausgeschnitten. Nie wieder müssen wir Anfang Januar alle Termine wissen, weil im Amte Urlaubsplanung angesagt ist, wir werden fahren, egal, wer eben Goldene Hochzeit, Kindtaufe oder Schulferien hat in der Familie. An einer Kreuzfahrt mit Florenz-Flutung nehmen wir nicht teil.
3. Oktober 2018
Nachtrag: Der Feiertag ist gut zum Ausruhen und Ordnen. Ein sehr ärgerlicher Artikel in FREIES WORT zur Wohnungsbau-Genossenschaft. Ich verzichte auf einen Leserbrief. Bei Altlinks und Neulinks jubelt man über die Entlassung von Hubertus Knabe, der über Verfehlungen seines Stellvertreters stolpert, Knabe war die Lieblingshassfigur aller Führungsoffiziere und aller, die zu Schild und Schwert in Nibelungentreue standen. Natürlich ist die Entlassung nicht politisch zu deuten, wir kennen das aus der DDR-Nomenklatura, schwere Leiden waren es da, die über Nacht Leber und Nieren befielen. Der Ilmenauer Wahlkampf hat groteske Züge, weil er sich behilft mit Spitzfindigkeiten statt Argumenten. Mancher Alt-Aktivist aus dem vorigen Jahrtausend scheint nicht nur von allen guten, sondern von sämtlichen Geistern verlassen. In der Mail-Post die Kunde vom Ende des selbständigen Ch. Links Verlages, ein Foto von Christoph sogar im FW-Feuilleton.
2. Oktober 2018
Nachtrag: Es geht nach Hause. Meinen Fontane las ich gestern zu Ende, griff im Bus dann zu einer Hochglanz-Broschüre über die heilige Katharina von Siena. Um 10 Uhr sind wir auf dem Brenner, um 11.25 Uhr passieren wir die deutsche Grenze bei Garmisch-Partenkirchen. Rundum zufrieden mit der Reise, vertraut mit Marmor und Alabaster, neugierig auf Piero della Francesca geworden. Wie dergleichen Zufälle immer ausfallen, kaum habe ich Alabaster-Früchte gesehen, die völlig natürlich wirken, lese ich von solchen beim alten Fontane. Nur ein Marmormitbringsel liegt im Koffer, dazu ein sehr feiner, sehr starker Barolo-Grappa und drei Weine aus der Fattoria Poggio Alloro. Das Transfertaxi bringt uns vom Hermsdorfer Kreuz bis zum Parkplatz in Arnstadt. Zwei Pakete hat die Nachbarin für uns, eins mit den Bänden der Manesse Bibliothek der Weltgeschichte, die Fontanes Darstellung des Krieges von 1870/1871 komplett enthalten. Postsichtung, Telefonate.