Tagebuch

8. November 2020

Rudolph William Louis Giuliani, genannt Rudy, sieht mittlerweile auch aus, als ob er es nicht mehr bis zur Fluchttreppe schafft, wenn es im Altersheim brennt, dafür aber hat er phantastische Zeugen für den demokratischen Wahlbetrug ausgegraben. Einer durfte während der Auszählung tatsächlich  nicht telefonieren, der andere nicht näher als fünf Fuß an die Zähler heran. Wenn ich weniger als fünf Fuß an jemanden, der zählt, heranrücke, verstoße ich gegen die Corona-Regeln, ich muss dann nur noch ein wenig trocken husten, und schon habe ich einen dieser demokratischen Idioten, die offenbar tatsächlich alle Stimmen zählen wollen, nicht nur die für Trump, womöglich infiziert. Rudy hat Männer aus dem Volk gewählt, dick, hässlich und stotternd. Nun müssen sich nur noch Richter finden, die, nach dem sie als Kinder zu heiß gebadet wurden, auch noch vom Wickeltisch stürzten. Große Wanderrunde heute: Corona-Gedächtnis-Wanderung rund um die alte Mülldeponie.

7. November 2020

Vielleicht baut Donald Trump schon heimlich im Keller des Weißen Hauses seine elektrische Eisenbahn ab, während oben die verbliebenen Jünger nach Zeugen suchen für Wahldiebstahl. Vielleicht füllt er auch seine Golfballsammlung in wasserdichte Säcke, während der Sohn seinen geliebten Sonderdruck von Goebbels‘ Sportpalastrede in Folie einschlägt, damit er keinen Schaden nehme. Immerhin muss man auf die Idee mit dem totalen Krieg erst einmal kommen, selbst wenn man der Sohn dieses Siegers ist. In Trump-Hirnen entstehen seltsame Synapsen-Verbindungen, die zu noch seltsameren Logiken führen. Wie auch immer, wir nutzen diesen hübschen Sonnabend mit seinem hellblauen Himmel, um uns einer Wartegemeinschaft beizugesellen, die auf einen Wagen mit Wein wartet aus der Region Nahe. Mangels Lagerkapazität ist unser Kontingent überschaubar, es gibt Oberärzte, die stapeln halbe Jahresrationen in ihren Kofferraum, ich verstehe sie sehr gut.

6. November 2020

Ich stelle mir vor, bei einer Ilmenauer Oberbürgermeisterwahl hätte ein Kandidat nach Auszählung der Stimmen in Heyda und Bücheloh seinen Wahlsieg verkündet und anschließend darüber gejammert, dass ihm auf dem Stollen, im Briefwahllokal des Rathauses, auf dem Ehrenberg, vor allem aber in Manebach die Wahl gestohlen worden sei. Er hätte seinen Ordnungsamtsleiter, seinen Justitiar des Rathauses losgejagt, die Stimmenauszählung auf der Pörlitzer Höhe zu stoppen, weil dort immer die Linken gewinnen. Dann wäre wohl rasch ein Auto vor seinem Domizil vorgefahren, man hätte ihm eine Jacke übergezogen, deren Ärmel hinten gebunden werden und das wäre es dann für ihn gewesen. In Amerika ist das anders. Man nennt das eine uralte Demokratie, von der wir erst spät lernen durften. Was wir nie lernen mussten, war das Zählen. Vermutlich haben deutsche Zähler andere Gene, deutsche Briefwahlzettel stehen unter Gottes Schutz, sie scheinen fälschungssicher.

5. November 2020

Dass ich eines Tages eine schriftliche Arbeit zur Erlangung des Grades eines Magister Artium von der Titelseite mit der Anschrift des Verfassers in Berlin-Tempelhof bis zur Seite 118 und der letzten Literaturstelle lesen würde, eingereicht im Jahre 2002, hätte ich mir nicht träumen lassen. Meine letzte akademische Aktivität fällt ins Jahr 1989, als ich mich vertraglich bereit erklärte, gegen ein geringes Entgelt extern eine Diplomarbeit zu betreuen, was im Zuge des Zusammenbruchs des mich beherbergenden Staatswesens hinfällig wurde. Jetzt habe ich den Verfasser 18 Jahre nach Abgabe seines Werkes sogar in Zürich ausfindig gemacht, wo er wie wahrscheinlich alle jüngeren Leute etwas tut, was mit seiner einstigen wissenschaftlichen Qualifikation nichts zu tun hat.  Aber auch ich kann ja nicht direkt damit prahlen, dass mir meine Promotion zum Fortschrittsbegriff zu einer fortschrittlichen Tätigkeit verhalf, im Gegenteil. Immerhin mache ich nun, was mir Spaß macht.

4. November 2020

Es gab Leute, die diese ganze Nacht offen blieben, um zu sehen, dass es noch kein Ergebnis gibt. Dafür hat das Robert-Koch-Institut wieder einmal Schwierigkeiten, seine Zahlen an den Videotext zu posten. Ich schwelgte gestern in einem neu erschlossenen Archiv via Internet, ein allererstes Arbeitsergebnis liegt schon vor, die aufwendigeren nächsten Schritte stehen natürlich noch aus. Alfred Georg Hermann Henschke erblickte am 4. November 1890 in Crossen an der Oder das Licht der Welt, noch nicht entschlossen, sich später einfach nur Klabund zu nennen. Als solcher ist er mehrfach in meinem Regal vertreten, letzter Zuwachs war „Borgia. Roman einer Familie“, einst mein Geschenk für meine Eltern zu Weihnachten, inzwischen auf dem Erbwege in meine Bestände übergewechselt, wo er jetzt zwischen „Die Harfenjule“ und „Bracke“ steht, „Bracke“ mit, wie der Antiquar sagt, Randläsuren am Schutzumschlag. Irgendetwas war noch an einem 4. November?

3. November 2020

Nimmt man die Zahl aller Sendungen zusammen, die mir erklären, was für eine wilde Pfeife dieser Mann ist, der in dieser Nacht eine Wahl vortäuscht, die er schon gewonnen hat, dann kann man in dieser einen Hinsicht seiner Analyse auf alle Fälle zustimmen: Deutschland will diesen Mann nicht. Vor vier Jahren erlebten alle Prognostiker und Analysten ihr Debakel, jetzt werden wir abermals zugemüllt mit Pseudo-Informationen über Swing States, Blaue Mauern, Briefwähler, deren Stimmen vielleicht gar nicht gezählt werden und wir sehen einen hüpfenden Joe Biden, der als Sieben-Schritte-Jogger Dynamik zu mimen versucht, während Orange Head seine Gesten nicht im Griff hat, mal hebt er die Faust wie Honecker im Mauerschützen-Prozess, mal macht er Victory-Zeichen und immer grinst er, als probe er für „Shining“. Sollte er das Weiße Haus nicht verlassen dürfen, bleibt die Frage, aus welchen Abkommen er noch aussteigen könnte, Klima war ja bereits.

2. November 2020

Mein Fest- und Feier-Kalender weist für heute den 50. Todestag von Johannes Urzidil aus, der einst in Prag geborene Mann starb in Rom. Mich begleitet er seit etlichen Jahren, weil ich sein Buch „Goethe in Böhmen“ immer wieder benutze und nebenbei auch systematisch von vorn nach hinten lese. „Da geht Kafka“ kaufte ich mir erst viel später und „Das Glück der Gegenwart. Goethes Amerikabild“ las ich im Februar 2016. Wilhelm Steffens meldet in seinem Buch über Georg Kaiser die Uraufführung von „Der Soldat Tanaka“ für den 2. November 1940, Georg Hensel stattdessen für den 9. November. Ich jedenfalls las den Dreiakter am 9. November 2003 und schrieb meine Notizen noch mit meiner elektrischen Schreibmaschine. Hätte ich gesammelt, wie oft sich solche Daten in unterschiedlichen Quellen voneinander unterscheiden, wäre bereits ein hübscher Datensatz zustande gekommen. Manchmal erwische ich auch selbst einfach nur die falsche Spalte in meinem Kalender.

1. November 2020

Das Schöne an Feiertagen, die auf einen Sonnabend fallen und nicht in allen Bundesländern gefeiert werden, ist: es gibt keine Zeitungen: besser, keine, die ich als solche bezeichnen würde. Die eine, die es gibt, habe ich in dreißig Jahren deutscher Einheit zirka viermal gekauft, das ist 25 Jahre her. Heute aber ist ein völlig normaler Sonntag, ich gehe wie an allen Sonntagen unabhängig von ihrer Normalität zu meiner Tankstelle und erwerbe dort die Sonntagszeitung meiner Wahl, die aus Frankfurt. Die trage ich frohen Mutes nach Hause, freue mich auf ein abgerüstetes Mittagessen, welches mit Blick auf Kaffee und Kuchen wenig später rasch verzehrt ist. Es sieht trübe aus heute und alle sind angeblich noch überall hin gesaust, wohin sie morgen nicht mehr dürfen. Das wenige, was ich will, darf ich, unnötige Kontakte meide ich nicht erst lange, ich habe sie gar nicht. Soweit, so schlecht. Wann kommen eigentlich die ersten Masken-Tatorte ins Fernsehen? November Rain.

31. Oktober 2020

„In Berlin, meine Freunde, wird man schnell vergessen, und es ist traurig, am letzten Tage des Oktober mit nassen Füßen durch die verregnete Bellevue-Alle zu wandeln und zu bedenken, dass es nicht genügt, sich Verdienste erworben zu haben und ein Denkmal. Man muss in dieser fixen Stadt auch jemanden haben, der auf das Denkmal aufpasst, dass es nicht geklaut wird.“ Ich fand diese Berlin-Beschreibung bei Walther Kiaulehn, von dem es ein berühmtes Buch gibt, „Berlin: Schicksal einer Weltstadt“ und dann noch etliche andere Bücher mit viel Berlin und auch etwas weniger Berlin. Kiaulehns Leben hat Abgründe in den Jahren 1933 bis 1945, die mancherorts ausgeblendet wurden, was andernorts zu ihrer Überbetonung führte. Man kann daraus lernen, wenn man nach dreißig Jahren deutscher Einheit unbedingt etwas lernen will. Unsere wegen Corona vorbereiteten Halloween-Tüten warten im Flur, es kommt niemand, es klingelt niemand: so gehen wir spazieren.

30. Oktober 2020

Der Weltspartag weckt in mir das sonderbare Gelüst, die dicken amerikanischen Wähler mögen in der kommenden Woche ihren Corona-Superman nicht wieder wählen und der SPIEGEL könnte sich fortan wieder um eine andere Titelfigur kümmern. Mir gehen sie nur noch auf den Sack. Ich kann die orange Fresse einfach nicht mehr sehen. Unsere schöne neue Schwimmhalle ist kaum eröffnet, schon muss sie wieder schließen und nachdem ich nun dreimal wieder geschrieben habe, gehe ich zu anderen Themen über. Rotwein vielleicht? Warum kommt so wenig Lagrein zu uns? Von Rom aus wären wir heute nach Norden gefahren zur Übernachtung am Gardasee, wir hätten Costermano besucht. Dickfellig wie ich bin, habe ich für September 2021 mutig eine Italien-Tour gebucht, nur wegen der Vorfreude. Wegen eines Termins in der kommenden Woche las ich ein Nachwort aus DDR-Zeiten, das mit Zitaten aus Texten erfreut, die im Buch gar nicht vorkommen: DDR eben.

29. Oktober 2020

NEUES DEUTSCHLAND überrascht heute mit dem Foto eines acht- bis neunstöckigen Gebäudes, welches nach etwa einjähriger Fertigstellungsverzögerung die Rosa-Luxemburg-Stiftung beinhaltet. Dies ist, lese ich, die letzte parteinahe Stiftung gewesen, die ein eigenes Gebäude bezog. Dumm nur, dass in diese acht Etagen nicht alle Mitarbeiter passen, weil sich die Stiftung seit der Nachricht vom großen Eigenheim offenbar rasanter vergrößert hat als eine Stopfgans unter Dauermais. Zwei Fünftel passen nicht mit rein und ich frage mich als ehemaliger DDR-Bürger, der mit zwei Kindern auf 59 Quadratmetern wohnen durfte und das auch noch toll zu finden hatte wegen toll niedriger Miete und toll zeitnah gebautem Kindergarten nebenan (anderthalb Jahre später nur), wie viel Platz auf acht Etagen jeder einzelne Stiftunger (inklusive aller vertretenen Geschlechter) da wohl für sich beanspruchen darf. Jedes Büro mit eigener Sauna oder eigenem Tischtennis-Raum? Ach, die Linke.

28. Oktober 2020

Da nun wieder die deutschen Bürgersteige eingerollt werden, die deutschen Theater ihre Hygiene-Konzepte in den Rundordner werfen dürfen, haben auch wir unsere für morgen geplante Reise nach Leipzig gestrichen, wo wir übermorgen den guten alten Dürrenmatt besuchen wollten mit seinem „Besuch der alten Dame“. Hat die alte Dame eben Pech: wenn wir schon mal kommen, dann kommen wir dann doch nicht. Mäßiger Ersatz: heute vor haargenau 100 Jahren hatte zeitgleich in Leipzig und Dresden das ziemlich haarsträubende expressionistische Stück „Jenseits“ von Walter Hasenclever deutsche Erstaufführung, obwohl es vorher schon eine natürlich auch deutsche Aufführung in Prag gegeben hatte, nur Prag war eben jetzt, nun ja, Ausland. Seit 1918, als all diese Kaiserreiche dahingingen. Wenn sie nicht dahingegangen wären, wer weiß, was Joseph Roth für Bücher geschrieben hätte, ob überhaupt. So haben Untergänge ihre schönen Seiten, letztendlich.


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