Tagebuch
16. Januar 2022
Wie erfährt man, wie es in Nicaragua wirklich steht? Natürlich nicht, indem man die Konzern-Medien liest. Man liest die „Junge Welt“, herausgegeben von 2602 Genossinnen und Genossen. Dort lässt sich die Schweizerin Natalie Benelli vernehmen und sie verrät, dass Daniel Ortega breite Unterstützung in der Bevölkerung genießt. „Ich habe während meines Aufenthaltes viele Gespräche mit Taxifahrern, Kioskbesitzern, Medienschaffenden, aber auch mit Ausländern geführt, die seit Jahren in Nicaragua leben und mir erklärten, dass sich das Land zugunsten der werktätigen Bevölkerung verändert.“ Wird auch Zeit, möchte man meinen, 42 Jahre nach der Machtübernahme sollte sich schon hie und da mal was verändern zugunsten der Menschen, die zwar im Mittelpunkt stehen, wie alle wirklich langjährigen Leser der JW wissen, leider bisweilen nur im Mittelpunkt geheimdienstlichen Interesses, siehe Arnold Schölzel. Armer Franz Fühmann, JW gedenkt deiner.
15. Januar 2022
Lang ist es her, da nutzte Chefredakteur Gerd Schwinger die Zeitung, deren Chefredakteur er war, dazu aus, auf zwei kompletten Seiten einen Auszug aus seinem Buch, dessen Titel wir vergessen haben, auszubreiten, mit dem dezenten Hinweis, es werde derzeit eine zweite Auflage vorbereitet. Jahre später sah ich in einer Buchhandlung in Suhl noch Stapel eingeschweißter Exemplare der ersten Auflage. Jetzt sah ich in einer Zeitung, deren Verleger Jakob Augstein ist, zwei Seiten Auszug aus einem Roman des Verlegers Augstein, Vorabdruck genannt. Lieber Gerd Schwinger, der Du mich immer mit Sie angeredet hast als einzigen Deiner Vasallinnen (alles Frauen außer mir), ich würde gern Abbitte leisten bei mir selbst, schlimmen Falles gar bei Dir, denn ich habe vergessen, was ich in der Sesam-Straße lernte: Es ist egal, wie weit du springst, es springt immer noch einer weiter als du. Wohl also jedem, der noch irgendwelchen Blödsinn über Journalismus glaubt.
14. Januar 2022
Der Effekt „Und täglich grüßt das Murmeltier“ trifft Älterwerdende (sämtlicher Geschlechter) vermutlich heftiger als Ronya Othmann, Ronja von Rönne oder selbst die vorgängige Räubertochter der N-Wort-Nutzerin Astrid Lindgren. In Kassel als erster deutscher Großstadt ist jetzt auch das M-Wort amtlich verteufelt worden. Das Buch „Mohr und die Raben von London“, mit dem Kinder wie ich dahinwachsen mussten im Unrechtsstaat DDR, müsste also neu betitelt werden, auch wenn der dort vorkommende Mohr mit vollem Namen Karl Mohrx hieß. Er konnte ebenfalls nichts dafür, dass er später ein alter weißer Mann wurde, dem man das allerdings noch nicht zur Last legen wollte. In der Murmeltier-Branche sehe ich, dass ich fast auf den Tag vor einem Jahr bei meiner Hausärztin ein Rezept holte, damals bekam ich es noch sofort, jetzt muss ich es beantragen. Der Vorteil: den nächste Woche fälligen Termin konnte ich selbst canceln. Frist bis in den frühen April.
13. Januar 2022
„Wenn einmal die Geschichte der Corona-Pandemie in Deutschland geschrieben werden wird, dann muss darin den Wandlungen und Pervertierungen des Freiheitsbegriffs ein umfangreiches Kapitel gewidmet werden.“ Das schreibt Thomas Meyer in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die an Sonnabenden erscheint. Ich hoffe inständig, nein, ich hoffe, inständig wäre schon maßlos übertrieben, dass kein von Restvernunft oder Resthirn im Kopf befallenes aufrecht gehendes zweibeiniges Wesen auf diese saudumme Idee kommt, dass kein Verlag in dieser noch nicht final geschriebenen, aber wohl auf mehr als einer Festplatte bereits im Wachsen befindlichen Textdatei ein potentielles Umsatzobjekt erblickt. Der Freiheitsbegriff wird seit 2000 Jahren missbraucht, wer braucht da ein neues Kapitel, gar ein umfangreiches, was hat die unschuldige Hannah Arendt damit zu tun, die nicht einmal die „Banalität des Bösen“ selbst erfunden hat, was nie jemand bemerkte?
12. Januar 2022
In unserer Wohnung gibt es mehrere Zeitungsstapel, der kleinste und streng genommen gar nicht als Stapel zu bezeichnende enthält jene Blätter, die neu hereinkommen und zuerst von meiner fleißigen Mitarbeiterin und Gattin gelesen werden. Dann trage ich sie in mein Arbeitszimmer, greife zuerst die Reiseteile und das Feuilleton heraus, die schlachte ich für mein Archiv aus, während der Rest warten muss, bis er an der Reihe ist. Das kann dauern, so dass ich immer wieder Entdeckungen in meinen Zeitungen mache, die ich längst gemacht hätte, wenn ich gleich alles durchgeschaut hätte. Manche Entdeckungen sind aber zeitlos. Wenn ich zum Beispiel auf den Namen Ilja Trojanow stoße, denke ich wie Pawlows Hund beim Leuchten der Lampe regelmäßig: unser gesamtdeutscher Bulgare vom Dienst. Trojanow bleibt, was er ist. Anders Jurij Andruchowitsch. Der war lange unser gesamtdeutscher Ukrainer vom Dienst, bis er in Ungnade fiel, Delikt: ostukrainische Russophilie.
11. Januar 2022
Damit sich nicht irritierte Heimatforscher aus den Fenstern ihrer Forschungskeller stürzen: am 20. Juli 1933 meldete die gestern zitierte Zeitung den genannten Waffenfund als in Großbreiten bei Erfurt geschehen, ebenfalls in einem zugeschütteten Bergwerksschacht, ebenfalls 221 Gewehre, jetzt aber gut eingefettet und in Säcke verpackt. „Die Waffen entstammen einer Waffenfabrik in Zella-Mehlis.“ Ob daraufhin vier Waffenfabriken verhaftet wurden, blieb unerwähnt, was mit den Kommunisten geschah, ebenso. Vermutlich wurden sie nach ihrer Flucht und Erschießung wenig eingefettet in Säcke verpackt. Gestern wollte ich eigentlich erwähnen, dass Franz Kain 100 Jahre alt geworden wäre, heute muss ich wenigstens erwähnen, dass Caroline von Wolzogen vor 175 Jahren starb, was als herber Verlust für Rudolstadt zu werten wäre. Aber die Ereignisse haben die dumme Angewohnheit, sich zu überschlagen. Großbreiten bei Erfurt gab es leider nie, dumm gemeldet.
10. Januar 2022
Worin liegt in dieser Nachricht der Skandal: „In Geraberg bei Arnstadt hob die Gendarmerie ein Waffenlager in einem zugeschütteten Bergwerksschacht aus. 221 Infanteriegewehre und viele hundert Schuss Munition wurden beschlagnahmt. Vier Kommunisten sind verhaftet.“ Die Antwort lautet: bei Arnstadt. Die Nachricht konnte man übrigens am 19. Juli 1933 nachlesen in einer Zeitung, für die einst Lessing, später Fontane gearbeitet hat. Das war eine Zeit, in der immer Kommunisten in Gartenkolonien Waffen lagerten und dann auf der Flucht erschossen wurden. Das Versteck im Bergwerksschacht war also sehr originell. Später wurde zu Gerabergs Hauptsorge das feindliche Ausland Geschwenda. Von Vorbereitungen zu einem bewaffneten Kampf gegen die Nachbarn ist zwar nichts bekannt geworden, boshafte Menschen aus Ilmenau aber behaupteten bisweilen, Geraberg wäre lieber an Tibet gefallen als an Geschwenda. Das war früher, ganz früher.
9. Januar 2022
Wahnsinn: genau 50 Jahre ist es heute her, dass ich aus Rövershagen meinen Eltern schrieb, meinen ersten NVA-Urlaub ankündigend. Ich bat, den Badeofen anzuheizen und Kaffee zu kochen, meine Ankunft am Sonnabendmorgen voraussetzend. In „Kulturschock NVA“ kann man das bei Bedarf und Vorhandensein eines Exemplars nachlesen. Ich schrieb von der Post, die ich bekam: von Franks Karin schrieb ich, die Zahnärztin wurde und sich nun auch schon im Ruhestand befindet, während ich an Franks Grab jeweils kurz verweile, wenn ich den Gehrener Friedhof besuche. Ich schrieb von Erikas Brief und dem Foto von ihr, das ich mir in den Spind hängte. Ach, Erika, ach Ungarn 1965 bis 1971 und danach wieder von 1973 bis 1976! Wer schreibt heute noch Briefe von Hand und klebt selbst angeleckte Briefmarken drauf oben rechts? Gedruckte Brief-Ausgaben in mehreren Bänden wird es nie mehr geben. Auch von unseren alten weißen Frauen nicht, geschweige den Diversen.
8. Januar 2022
Das erste Buch, das ich im neuen Jahr zu Ende lese, heißt „Tausend und eine Premiere“. Der Titel ist natürlich Unfug, denn auch ein Kritiker, der 60mal im Jahr ins Theater geht, verfehlt das Ziel, in fünfzehn Jahren auf tausend Premieren zu kommen. Bei knapp siebzig Premieren im Jahr würde es rechnerisch reichen, nur ist die Realität nicht rechnerisch. Wie auch immer: irgendein Titel musste her für das Buch von Hans Weigel, der meistens klug schrieb und auch gut und Formulierungen fand, die Chancen hatten, von mir mit gelbem Textmarker herausgehoben zu werden in meinem Exemplar. Nur wenn er gegen Brecht geiferte, geiferte er. Österreich hatte über Jahre zwei Geiferer gegen Brecht: neben Hans Weigel war es Friedrich Torberg und dass beide 1908 geboren wurden, eint sie eher zufällig. „Und es zeigt sich, dass die Zeit für das wahre Zeitstück erst da ist, wenn die Zeit, die gespielt werden soll, nicht mehr da ist.“ Dagegen kein Wort. Intendanten sollten es lesen.
7. Januar 2022
„Nach ihrem Debütroman aus dem Jahr 2016 hat Ronja von Rönne ein neues Buch geschrieben.“ Dies kann man im „Bücher Magazin“ Februar/März 2.2022 nachlesen, das eben, Anfang Januar, in meinem Briefkasten gelandet ist. Autorin dieses grandiosen Satzes ist Katharina Manzke, eine alterslose Literatur- und Theaterkritikerin, die seit 2015 für just dieses Magazin schreibt. Weil sie offenbar fleißig ist, hat sie noch mehr geschrieben: „Der erste, im Katapult Verlag erschienene Debütroman ist eine faszinierende Aussteigergeschichte um einen Vater, seine Tochter und einen Fremden, der sich zu ihnen gesellt.“ Hier wäre es wichtig, aufmerksam zu bleiben, wie viele Debütromane der hier nicht zu nennende Autor noch schreibt. Im ersten Fall stellt sich die Frage, was gewesen wäre, wenn Ronja von Rönne nach ihrem Debütroman ein altes Buch geschrieben hätte. Das Mädel ist seinerzeit irrwitzig durch die Feuilletons gejubelt worden, nun rächt sie sich.
6. Januar 2022
Was bleibt haften, wenn ein Nachrichten-Magazin 75 Jahre alt wird? Eine Affäre und ein Skandal. Die Nachricht zum nämlichen Jubeldatum gestern war passend: Spiegel-Affäre und Claas Relotius. Den kann man getrost vergessen wie etwa auch erhebliche Teile dessen, was die Besserwissenden über die DDR zu wissen glaubten. Man war halt selten da und wenn, nur in Berlin und bei den Dissidenten: Befragen Sie mal den Krill über Wale, Sie ahnen, wie realistisch das Wal-Bild ausfällt. Ansonsten lese ich den Spiegel seit dreißig Jahren höchst selektiv und selten gleich. Heute aber sind alle beim Gedenken an den Sturm auf das Capitol in Washington, den ein Mann einleitete, der so etwas wie ein Präsident war, wenn ich mich recht erinnere. Man hört, dass er immer noch glaubt, was er glauben will, das hat er freilich mit mehr Menschen gemeinsam, als man glauben möchte. Wie sagte ein alter Preuße: soll jeder nach seiner Fönwelle, äh, seiner Fasson glücklich werden.
5. Januar 2022
Geschafft hat er es nicht mehr bis zu seinem heutigen 90. Geburtstag, 2016 ist er einfach gestorben, nachdem er seinen 84. noch erlebt hatte: Umberto Eco. Der Mann war von Hause Semiotiker, ein echter Professor und vermutlich wissen die meisten seiner Leser, Leserinnen und sonstigen Lese-Gestalten nicht einmal, was Semiotik ist. Man muss „Der Name der Rose“ schreiben und damit eine ganze Lawine Mittelalter-Krimis lostreten, dann ist der Rest Beiwerk. Ich kenne nur den Film und habe damit kein schlechtes Gewissen. Ich besitze ein dickliches Buch von ihm aus dem Carl Hanser Verlag, es heißt „Sämtliche Glossen und Parodien“. Mein Lesezeichen steckt bei Seite 132, dort findet sich ein (fiktives) Lektoratsgutachten zur Bibel, eine Köstlichkeit. Außerdem besitze ich „Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen“. Zeichen sind das, womit die Semiotik zu tun hat, man könnte also eine Semiotik politischer Ersatzhandlung schreiben: Vom Zeichen-Setzen.