Tagebuch

7. September 2020

Wenn eine Lieferung für die Zeit zwischen 7 und 13 Uhr angekündigt ist, dann nennt man das je nach Temperament einen Scheiß-Vormittag oder einen Scheißtag. Man steht also auf, obwohl man noch nicht muss, um nicht in der Unterhose dem Lieferanten die Tür öffnen zu müssen, falls er zeitig klingelt, dann hat man ständig das Gefühl, nichts Sinnvolles beginnen zu können, weil nach Murphys Gesetz genau dann die Unterbrechung kommt, wenn die Maschine rattert. Wir hatten das extraordinäre Vergnügen, von unserem Lieferanten angerufen zu werden, er stehe etwa 200 Meter Luftlinie von uns und sein Auto springe nicht mehr an. Mein neues Bett kam per Sackkarre von der Pannenstelle und der 150. Geburtstag von Alexander Iwanowitsch Kuprin, dem ich meinen Tag im Wesentlichen widmen wollte, hatte das Nachsehen. Ihm wird es egal gewesen sein, es kennt ihn in der alten Bundesrepublik ohnehin niemand. Und der neue Teil der alten Republik, der zählt nicht.

6. September 2020

Für die Stelle des Sekretärs der Deutschen Bischofskonferenz hätte ich mich auch dann nicht beworben, wenn mir die Stellenanzeige eher in die Hände gefallen wäre. So landet sie heute im Papierkorb, der auch die geschredderten Telekom-Rechnungen jener Jahre aufnimmt, die nicht mehr aufgehoben werden müssen, weil die Lagerfrist verstrichen ist. Die Krankenakte meiner Mutter muss zehn Jahre aufbewahrt werden, was die Frage aufwirft, ob die Hausärztin meiner Mutter sie mit nach Hause nimmt, wenn sie in den Ruhestand geht oder ihrer Nachfolgerin übergibt, damit die von Anfang an auch einen hübsch vollen Keller hat. Ich stieß dieser Tage auf einen Ordner, der meine gescheiterte Fonds-Anlage bei Barclays Bank dokumentiert. Die Anlage scheiterte nicht an mir, wohl aber an der Bank, die plötzlich keine Lust mehr hatte, diese Fonds anzubieten und mir deshalb den Rückkauf mit Verlust anbot. Dank Brexit verließ ich diese Bank ohne alles Bedauern.

5. September 2020

Victor Auburtin, Vollblutjournalist, der aus rein biologischen Gründen seinen heutigen 150. Geburtstag nicht selbst feiern kann, verzeiht mir aus seinen himmlischen Gefilden vermutlich, dass auch ich nicht zum Feiern komme an diesem Tag, denn ich habe in selbst auferlegter Pflicht heute den Landesverbandstag des Deutschen Journalistenverbandes Thüringen in Weimar besucht, daselbst gar einen Redebeitrag geliefert. Wir saßen alle sauber getrennt jeder an einem Tisch, hatten jeder eine eigene Kaffeekanne und drei kleine Flaschen Wasser, von denen ich eine fast leer trank. Der Kaffee war sehr gut, nur kann ich nicht mehr als eine Tasse trinken, was mich in dieser Hinsicht zu einem komischen Journalisten macht. Aber ich rauche ja auch schon fast 30 Jahre nicht mehr. Aus Andorra brachte ich uns vier Flaschen andorranischen Liköres mit, was nichts darüber aussagt, ob ich Sorgen habe. Unser aller Suchmaschine findet nichts Aktuelles zu Auburtin. Allzu logisch?

4. September 2020

Nicht weniger als 39 Fotos dokumentieren unseren 4. September 2000. Von Terenten auf der Sonnenterrasse von Südtirol aus starteten wir an der Abfahrt nach Antholz vorbei, wo wir am Vortag die Biathlon-Anlage besichtigt hatten, durch das Gadertal mit seinen vielen vom Weltcup-Zirkus bekannten Ortsnamen zu einer großen Pass-Rundfahrt. Erster Halt Kollfuschg, dann das Grödner-Joch, das Sella-Joch, Abfahrt zum Lago di Fedaia unterhalb des Marmolada-Massivs, dort eine kleine Pause für das so genannte leibliche Wohl, dann neue Auffahrt, nun zum Pordoi-Joch mit seinem deutschen Soldatenfriedhof für 9000 Gefallene, überwiegend aus dem Ersten Weltkrieg. 192 Kilometer legten wir zurück mit unserem noch ziemlich neuen Toyota Avensis, den ich erst 2010 in die ewigen Auto-Jagdgründe beförderte. Das Tagebuch registriert den mit Abstand tollsten Tag in Südtirol, rückblickend kann ich das Urteil kaum einschränken. Heute einfach nur Freitag und grau.

3. September 2020

Gestern muss ein wunderschöner Tag für Donald Trump gewesen sein, obwohl Joe Biden nirgends eine peinliche Schlappe einzustecken hatte. Deutschland, der unzuverlässige Partner, der immer zu wenig zahlt, sich kaum einschüchtern lässt, kaum bedrohen, Deutschland hat endlich einen Grund gefunden, Trumps Fracking-Freunden doch noch zu Willen zu sein und deren Erdgas zu kaufen statt des russischen. Alles nur, weil Unbekannte einen Mordanschlag auf einen ebenfalls Unbekannten verübt haben: mit einem Gift aus, huh, der Sowjetunion, das war  das Land, das zwei Weltkriege begann, sechs Millionen Juden umbrachte und die eigene Bevölkerung verhungern ließ. Seit gestern gilt wieder das alte Kaiser-Motto: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Putin-Gegner. Schluss mit Nordstream 2 fordern Angehörige einer seltsamen Allianz, denen die Aerosole aus den Mund spritzen vor Eifer, der Peinlichste sagt sogar: Wir sind stärker. Wie Napoleon und noch einer.

2. September 2020

Man kann eigene Anspannung gut daran messen, wie man sich fühlt, wenn sie von einem abgefallen ist. Etwas vollmundig versprach uns gestern der junge Mann vom Gesundheitsamt, wir könnten heute Mittag auf der Corona-App unser Testergebnis sehen, bis dahin hätten wir Quarantäne, sollten weder Besuch empfangen, noch jemanden besuchen. Nach unserem Verständnis beginnt Mittag gegen 12 Uhr und endet gegen 14 Uhr, großzügig ließe sich eine halbe Stunde vorn und eine halbe Stunde hinten auf drei Stunden hochrechnen, dann aber wäre die Nachricht fällig. Sie kam aber nicht. 17.26 Uhr erreichte uns dann der erlösende Anruf: negativ. Eben noch Käfighaltung, plötzlich Freiheit. Sofort eilten wir zum Abendspaziergang, schauten zu, wie Ilmenaus Geschäfte ihre Türen schlossen, studierten die Immobilienangebote der Sparkasse, lasen das Kinoprogramm, sahen durch die Scheiben aufgegebener Läden. Falls uns in Andorra ein Virus befiel, hieß er nicht 19, der Gute.

1. September 2020

Kein Nachtrag mehr: einfach nur wieder zu Hause. Vor 50 Jahren starb Francois Mauriac, der immerhin mit vier Büchern in meinen Beständen vertreten ist, gelesen habe ich schon ewig nichts mehr von ihm. In der Post ein großes Paket mit Arthur-Eloesser-Manuskripten, die schon gestern kamen, als wir noch im Bus saßen. Mir fehlt nur noch eine Lieferung aus Wien, dann ist alles beisammen, was mir auf längere Sicht eine neue Aufgabe stellt. Ich schaffe mir in gewisser Weise Baufreiheit. Zum Abend haben wir einen Termin im Gesundheitsamt: Heimkehrer-Test, der zur Pflicht wurde, weil die Bundesregierung am dritten Tag unseres Urlaubs Andorra zum Risikogebiet erklärte. So bringe ich nicht nur 141 Fotos nach Hause, sondern auch Gefahrenpotential, obwohl ich von früh bis spät mit Maske unterwegs war, obwohl ich mehr Desinfektionsmittel verrieb als in allen 67 vorher vergangenen Lebensjahren. Das Ergebnis soll es morgen per App geben, Wahnsinn.

31. August 2020

Nachtrag: Das Hotel Campanile hat uns gut versorgt, die Koffer wurden vor der Abfahrt noch einmal nach Ausstiegen sortiert: wir sind wieder in Waltershausen an der Reihe, in den Zubringer nach Ilmenau umzusteigen. Anders als gestern verläuft die Fahrt heute, obwohl Montag ist, völlig ohne den geringsten Stau. Wir sehen im Burgund gleich mehrere Güter, die Cremant herstellen, die Hinweisschilder an der Autobahn, die ihre Botschaft mit Bildern illustrieren, oft mehrere zu einer Stadt, stehen deutlich dichter als bei uns. Manches kennen wir: Beaune zum Beispiel oder Dijon. Die letzte Rast auf französischem Boden bringt mir noch einmal drei lothringische Biere, alle, die ich bisher hatte, gaben mir ihre Etiketten ohne unüberwindliche Schwierigkeiten her. Wir hatten uns noch extra mit vietnamesischen Rasierklingen für die harten Fälle ausgestattet. Es ging unblutig ab. Kurz nach 21 Uhr zerrten wir die Koffer in unseren Fahrstuhl, das Auspacken kostete gute Zeit.

30. August 2020

Nachtrag: reichlich zehn Stunden brauchen wir von La Massana nach Tassin, wo uns heute das Zimmer 115 erwartet: problemfrei. Unterwegs überraschende Bilder. Was wir als kühlendes Gewitter erlebten, war auf allen Berggipfeln Andorras Schnee. Weiß vor blauem Himmel, wie Postkartenmotive mit Nachkolorierung. Zunächst verläuft alles gut und zügig, schon zehn Minuten vor 9 Uhr verlassen wir Andorra, wir sehen Carcassonne, wohin wir gefahren wären, wenn Spanien gesperrt worden wäre: wir hätten fast drei Stunden Fahrt für eine Strecke gebraucht, La Seu d’Urgell war die gute Alternative. 200 Kilometer vor Lyon begann ein nicht endender Dauerstau, wir verloren eine runde Stunde. Die Zeiten, da französische Autobahnen angeblich leer waren wegen der hohen Mautgebühren, scheinen endgültig vorbei, jetzt ist alles voll, obwohl man keine Touristen sieht, nicht einmal Holländer, die sonst überall sind und immer schon da: Märchen-Igel.

29. August 2020

Nachtrag: Andorra hat ein kleines feines Parlament, das wir von innen sahen. Heute sehen wir die spanische Stadt La Seu d’Urgell, wo es nicht nur die olympische Wildwasserbahn des Jahres 1992 gibt, wir haben auch Glück, Trainierende zu sehen, sondern vor allem die Kathedrale des Bischofs, der einer der beiden Staatsoberhäupter von Andorra ist, der andere ist immer der Präsident von Frankreich, derzeit also Macron. Da wir aus Nicht-EU-Gebiet kommen, kontrolliert die Guardia Civil, wenn auch nicht allzu streng, immerhin kommt einer sogar in den Bus. Wir sind zeitig zurück in La Massana, was uns die Chance gibt, auch die ortseigene Seilbahn noch zu nutzen: preiswert für nur elf Euro beide Touren, unserem Beispiel folgen andere aus dem Hotel. Anders als in Andorra la Vella bekommen wir oben Aperol Esprit, wie wir in bestellen. Den Hitzetagen folgt ein kräftiges Gewitter mit Regen und etwas Hagel. Die Luft kühlt massiv ab, wir packen zur Abreise morgen.

28. August 2020

Nachtrag: Mein „Goethe 1820“ ist leider sehr umfänglich geraten, dennoch wäre weniger nicht mehr gewesen, denn es muss mir ja letztlich auch selbst ein wenig gefallen. Wir sehen heute zuerst den kleinen Stausee Llac d’Engolasters mit einigen technischen und bautechnischen Details und hören von den Schwierigkeiten, die es bereitete, ihn zu bauen ohne Straßen, ohne Strom und fast ohne Technik. Zwei Turbinen laufen seit 1934. Danach sind wir in Andorra la Vella und in Escaldes, beide gehen ineinander über. Ich erkenne natürlich das Thermalbad wieder, von dem wir 1996 nicht wussten, dass es ein Thermalbad ist, wir hatten keinen Reiseführer. Jetzt haben wir einen ganz und gar hervorragenden, der all unsere Andorra-Tage bei uns bleibt und ungeheure Mengen an guten Nebeninformationen über Land und Leute vermittelt. Ich erkenne den Supermarkt wieder, in dem ich seinerzeit ein paar Biere für die Sammlung kaufte, stellte dann alte 1996er Spiegel-Fotos nach.

27. August 2020

Nachtrag: Erste Tagesstation erreichen wir mit der neuen 10er Gondelbahn Ordina Arcalis in 2200 Metern Höhe. Dort wandern wir ein wenig bergauf, rechts und links einfachste Steinbauten, wie sie von Hirten und Trägern genutzt wurden, wir hören Murmeltiere pfeifen, sehen sie aber nicht. Wir befahren zweimal einen Tunnel, der anzeigt, dass hier die Tour de France 1997, 2009 und 2016 durchkam: 1997 hieß der Etappensieger Jan Ullrich, 2009 Brice Feillu und 2016 Tom Dumoulin. Die Attraktion des Tages heißt Os de Civis, ist eine katalanische Enklave, die nur von Andorra aus erreicht werden kann. Ehe wir unser großes Fünf-Gänge-Menü in Angriff nehmen, schauen wir uns das Dorf an, sehen die alte Schule, die mit einem Schild den letzten aller Schultage hier im Jahr 1989 im Gedächtnis hält. Dass unser Haupt- und Staatsphilosoph Georg Wilhelm Hegel heute vor 250 Jahren geboren wurde, ist kein Urlaubsthema, „Goethe und Hegel“ wird keins für mich vorerst.


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