Tagebuch

1. Oktober 2020

Das letzte Quartal des Jahres beginnt damit, dass die Augenärztin Urlaub hat, bei der man sich ab heute neue Termine für die Jahre 2034 und 2035 holen konnte. Das Leben ist so. Für mich der erste Tag seit ziemlich langem, dass ich im Ilmenauer Stadtarchiv saß, eine Akte aus dem Jahr 1902 in Augenschein nahm, ohne sehr viel davon lesen zu können, das meiste aber war ohnehin zu speziell für meine Zwecke. Ich weiß leider nicht, ob es zum Ausbildungsinhalt für Archivarinnen gehört, freundlich und entgegenkommend zu sein, in Ilmenau kenne ich es, hatte es auch in Bad Kissingen. Immerhin lieferte ich selbst einen kleinen Text für die Bestände, der in der Goethe-Passage bis dato völlig unbekannt war. Ein gewisser Johann Peter Uz hat übermorgen seinen 300. Geburtstag, was ihn in Konflikt mit den offiziellen Feierlichkeiten bringt, die Aufmerksamkeitsökonomie betreffend. In Ansbach immerhin wird man seiner jedenfalls gedenken und ich bin in aller Stille auch an Bord.

30. September 2020

Der 30. September 2000 war ein Sonnabend, da wir innerhalb von 21 Stunden 1680 Kilometer fuhren bis nach Calais und wieder zurück nach Ilmenau, davon 300 Kilometer die Frau an meiner Seite. Unser Plan, in Eupen zu nächtigen, schlug fehl, weil sich kein freies Doppelzimmer fand. Nie war ich kaputter und näher am Sekundenschlaf am Steuer. Als wir am Hoverport ankamen, legte eines der Hovercrafts gerade ab, das nächste fuhr verspätet, es gab Tränen natürlich auch. Calais sahen wir später noch viermal. Und überquerten den Kanal selbst samt Auto in beide Richtungen. Damals hatten wir noch Respekt vor der französischen Autobahn wegen der Maut, als wir sie dann doch befuhren, mussten wir gar nicht zahlen. Wir hätten uns also ein paar Kilometer ohne Navi durch Dünkirchen sparen können. Der Mantel der Geschichte streifte uns nicht, erst ein Jahr später, als wir in Dover in den Küstenfelsen die unterirdischen Kommando-Bunker sahen mit Kanalblick.

29. September 2020

Da müssen wir jetzt durch: ein Trommelfeuer Deutsche Einheit, produziert von sehr vielen, die nicht dabei waren mit einigen Zeugen, die dabei waren. Die Zeit, in der sich jede große Redaktion einen Vorzeige-Ossi ohne Migrationshintergrund hielt, möglichst aus einem Pastorenhaushalt, ist noch nicht vorbei, nur geht die Ossi-Kleinstgruppe jetzt massiv in Rente. Neu ist das Wort Respekt und pflichtgemäß freuen sich vor Kameras die Zeugen, dass es endlich Respekt gibt vor unseren so genannten Lebensleistungen. Ich gestehe, dass ich noch immer keinen Respekt vor meinen Brüdern und Schwestern dritten Grades habe, die mir Pakete im Wert von bis zu zwölf Westmark sandten und dafür 50 Mark beim Finanzamt absetzten in der Steuererklärung. Nie wäre ich im Leben auf die Idee gekommen, einem aus dem oberen Schwarzwald zu erklären, wie er vierzig Jahre lebte, ich war nie da bis heute, von dort aber kamen Bataillone, Regimenter, die wussten, wie ich gelebt habe.

28. September 2020

Es dauert, bis alles wieder in normalen Bahnen verläuft, die ersten Waschmaschinen gewaschen sind, die eingegangene Post gesichtet ist. Aus Wien keine Nachricht über meine fehlende Lieferung, dafür spät noch in einem Hamburger Antiquariat die beiden Bände, die ich dringend brauche. Ich komme tatsächlich mit dem Cibulka-Band „Tagebücher“ zu Ende, den ich einst kaufte, um nicht fünf einzelne Büchlein suchen zu müssen, von denen mir vier ohnehin noch fehlten. Der Markt ist weitgehend leergefegt, vor allem seine Lyrik-Bände kaum greifbar. Das verstehe, wer will. Ohne Urlaub, Cibulka, Eloesser hätte ich heute einen Text zu John Dos Passos ins Netz gestellt, weil ich den 50. Todestag als guten Anlass sah, über „Das Land des Fragebogens“ zu schreiben, seine „Reportagen aus dem besiegten Deutschland“ des Jahres 1945. So aber bin ich mit dem Gedanken befasst, warum Soldat Hanns Cibulka in Wolhynien einmarschierte und nicht in die Sowjetunion.

27. September 2020

Nachtrag: Dies ist nun schon der erste Todestag meiner Mutter. Sie hätte sich viele Sorgen gemacht um uns in diesen Corona-Zeiten. Wir schaffen es, schon 9.40 Uhr im Auto heimwärts zu sitzen, es gibt an der Grenze keinerlei Kontrollen, es entfallen alle Fragen, wo wir waren. Wir fahren durch bis Jura Ost, wo  auch diesmal wieder einige merkwürdige Gestalten zu sehen sind, die an ihren Fahrzeugen vorn und hinten unterschiedliche Kennzeichen haben, deren Frauen sehr bunte Röcke tragen und ruhelos mit zwei Kaffeebechern auf und ab pilgern, während die Männer unsichtbare Defekte besichtigen im Bereich der Stoßstange. Kurz nach 16 Uhr sind wir zu Hause, entladen alles, tragen alles in den Keller, was in den Keller gehört. Ich hole die Zeitungen von der Tankstelle, wo es wieder eine neue Angestellte gibt. Zwei unserer Orchideen sind den Urlaubstod gestorben, in beiden Fällen absehbar. Anders als vorigen Sonntag verschlafen wir den frischen Tatort heute nicht.

26. September 2020

Nachtrag: An einem letzten Tag mit mittelprächtigem Wetter und stark gesunkenen Temperaturen fährt man gut, zum Stift Göttweig zu fahren. Dort gibt es, anders als auf der Schallaburg, für die geneigten Ohren gut funktionierende Audio-Guides mit noch besser portionierten Informationen. Ich fotografierte emsig vor mich hin, auch in der Stiftskirche, diesmal ohne Gesang. Nur eine einsame Marillenmarmelade aus dem Klosterladen kauften wir, die Weine sind einigermaßen teuer, den Messwein kosteten wir schon am zweiten Abend in Langenlois. Den Balkon mit dem herrlichen Blick durften wir nicht betreten, das blieb denen vorbehalten, die an einer Führung teilhatten, was wir nicht so lieben, wenn es Alternativen gibt. Nach der Heimkehr vom Hauermandl lud ich die Weinkisten in den Kofferraum, immer noch schwer übersättigt vom großen Mahl für zwei Personen auf einem Brett, wir hätten es wissen müssen. Walter Benjamin nahm sich vor 80 Jahren das Leben.

25. September 2020

Nachtrag: Nach vier langen Wanderungen zum Bäcker heute wegen heftigen Regens mit dem Auto dorthin und gleich Vorrat bis Sonntag gekauft. Die Idee mit dem Vorrat hätte mir eher kommen können, dann aber wäre mein Schrittzähler unterfordert geblieben. Stilles Frühstück, kein Gedanke an Erich Maria Remarque, der vor 50 Jahren starb und vor 45 Jahren gewisse Teile meines Bestands an ungarischen Forint forderte, um einige seiner in der kleinen DDR nicht veröffentlichten Bücher in Budapest, Vaci utca, zu erwerben. Kurz entschlossen heute die Fahrt zum Schloss Walpersdorf, wo wir einmal schon waren, was kein Grund ist, nicht erneut dort zu erscheinen. Es ist eigentlich nur eine Verkaufsausstellung, aber eine mit enormem Schauwert und neckischen Kleinigkeiten, die zum Kauf verlocken. Ein Olivenholz-Salatbesteck zum Beispiel. Im Schlossgraben weiden gehörnte Schafe und weiße Gänse, die man ultraweiß nennen könnte. Doppel-Schnitzel im Hauermandl.

24. September 2020

Nachtrag: Klänge es nicht rentnertypisch kindisch, würde ich sagen: Mein Haupterlebnis heute war im Naturpark Geras das Füttern zweier Esel sowie einer deutlich größeren Zahl kleinerer und auch größerer Ziegen. Sie alle schleckten begeistert aus meiner Hand die Futterpellets, die ich gegen ein geringes Entgelt erwerben durfte, nachdem wir zuvor zwei Achtel zur Stärkung genommen hatten. Stift Geras ist ansehnlich und sehenswert, noch mehr, wenn sich strahlend blauer Himmel darüber wölbt. In der Stiftskirche zelebrierten drei Männer in Straßenkleidung und einer im Ornat im Chorgestühl etwas mit Gesang und Gebet, was uns eine Weile zum Lauschen nötigte. Auch den Kräutergarten des Stifts nahmen wir ausführlich in Augenschein. Von den Tieren des Naturparks, die nicht zum Streicheln und Füttern gedacht sind, sahen wir nur zwei sehr schöne Luchse und drei Hirsche, alle anderen zogen es vor, sich jeglicher Besichtigung zu entziehen. Am Abend bei Nastl.

23. September 2020

Nachtrag: Zu Hause hätte ich gestern über Hanna Heide-Kraze geschrieben, deren 100. Geburtstag war und wie ich in Hohen Neuendorf auf dem Grundstück neben ihrem Grundstück hörte, dass sie immer splitternackt im Garten duscht. Heute aber bin ich wie gestern im Kamptal, was mich einiger Pflichten enthebt, etwa, an Prosper Merimée zu denken. Wir sahen heute erstmals in all den Jahren Schloss Grafenegg von außen, spazierten lange im ausgedehnten Park umher bei schönstem Wetter, wir pflückten mit etwas Mühe einige gräfliche Äpfel von einem frei zugänglichen Baum. Wenn das alle machen würden, dachte ich als gut erzogener Rentner, aber es machen ja nicht alle. Es kommen nicht einmal alle nach Grafeneck. In Krems verspeisten wir sehr leckeres Eis beim Italiener, der nur noch bis Mitte Oktober geöffnet hat. Im „Wellen.Spiel“ am Donau-Kai kaufte ich einen Karton voll Gelber Muskateller. Die Sammlung wächst in aller Stille. Am Abend wieder zum „Hauermandl“.

22. September 2020

Nachtrag: Natürlich besuchen wir auch von Langenlois aus die Schallaburg, deren diesjährige Ausstellung den Titel trägt „Donau. Menschen, Schätze & Kulturen“. Man folgt der Donau von der Mündung bis zur Quelle, muss viel lesen, weil es keine Audio-Guides in Corona-Zeiten gibt, dafür aber überall die übliche Maskerade. In Österreich reicht ein Meter Abstand und auf den Tischen finden sich Salz- und Pfefferstreuer, Kerzen und Zahnstocher, alles, was bei uns verbannt ist. Die einzelnen Staaten an der Donau nutzen die Gelegenheit der Präsentation, um Werbung für sich zu machen. Nicht wenige Informationen waren neu für uns, etwa über die Vojvodina oder über Russe. Wir besuchten auf dem Heimweg das Ursin-Haus in Langenlois, in dem es nicht nur die Tourismus-Information, sondern auch eine sehr gute Vinothek gibt. 58 heimische Winzer sind versammelt mit ihren Weinen, ich kaufe zunächst ausschließlich Gelbe Muskateller, etliche mir noch unbekannte.

21. September 2020

Nachtrag: Weil wir eher abfuhren und unterwegs rein gar keine Zeitverzögerung eintrat, waren wir gestern schon 14.20 Uhr in Langenlois. Das erste, was wir vermissten: eine Kaffeemaschine. Heute Morgen stand sie vor der Tür. Das zweite, was wir vermissten: der angekündigt nahe Bäcker. Ich muss mehr als 2600 Schritte laufen, um mit Brötchen wieder in der Ferienwohnung zu sein. Der Fußweg ins Ortszentrum ist nur für Menschen, die ein Konditionstraining absolvieren oder für den Marathon trainieren. Gestern und heute mehr als 10.000 Schritte, obwohl wir eigentlich nur zum Loisium gestern und zur Sandgrube 13 heute unterwegs waren.  Die Führung in der Sandgrube 13 war inklusive Geruchsproben während eines Films und Weinproben während des Rundgangs ein echtes Erlebnis. Wir sahen auch die drei Weine, die bei uns im Supermarkt stehen, Teil eines Teilsegments. Glatte Fehlanzeige ist das mehrfach ausgeschilderte Beethovenhaus Gneixendorf.

20. September 2020

Da ist er nun, der 100. Geburtstag von Hanns Cibulka, der mich allein durch seine ausdauernd fragmentarischen Aussagen dazu zwingt, aus allen Mosaiksteinen, die er liefert, etwas wie ein Bild zu erstellen, das auch in der Summe wieder nur ein Fragment sein wird. Immerhin ist es aufregend, jemandem Geheimnisse zu entlocken, die er offenbar gar nicht preisgeben wollte. Wenn einer Tagebücher veröffentlicht, die keine sind, weckt er Erwartungen, die er gar nicht erfüllen will. Als einer, der selbst im Lauf der Jahre seit 1971 Tausende Seiten gefüllt hat, wobei nur dieses Tagebuch für die Öffentlichkeit geschrieben wird, alle anderen Handschriften habe nicht einmal ich selbst je wieder gelesen, falls ich nicht einfach nach sachlichen Informationen suchte, hege ich bestimmte eigene Erwartungen, die ich ungern enttäuscht sehe. Auch meine Erwartungen ans Urlaubswetter sehe ich ungern enttäuscht, heute erleben wir die erste Probe und schweigen bis zur Wiederkehr.


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