Tagebuch

14. Juli 2020

Zurück aus Langebrück. Keinerlei Stau diesmal, keinerlei Verzögerungen unterwegs. Sogar alle Zeitungen waren zurückgelegt, was nach dem großen Personaltausch an der Tankstelle nicht ganz selbstverständlich ist. Die Genossenschaft bedankt sich bei mir für meinen Beitrag zur nächsten Haus-Zeitschrift, deren Titel ich zieren werde, innen gibt es ein Gespräch mit mir. Ich bin in Langebrück sogar ein wenig zum Lesen gekommen: Alexander Kuprin. Es ist lange her, dass ich den zuerst las, es war 1980 im August und dann vor allem im Oktober. Mein Archiv ist dennoch leer zu ihm, weil damals nur das Tagebuch einige Informationen aufnahm. Diverse Nachschlagewerke schweigen sich über ihn aus, im Westen kannte man ohnehin neben Tolstoi und Dostojewski im besten Falle noch Tschechow und Turgenjew. Vor 25 Jahren hatten wir unseren letzten Strandtag auf Bornholm: Baden im Nebel, ungewöhnlich, kein Hinderungsgrund trotzdem, Abschiedsstimmung.

13. Juli 2020

Nachtrag Langebrück: Vormittags Besuch in Pirna, kleine Runde, wir waren vorher nie dort wie auch in Görlitz nicht, weiter als bis Bautzen bin ich nie gekommen. Von Bad Schandau aus sah ich 1963 dies und das, aber das ist natürlich lange her. Wir staunten vor den Hochwassermarken: die Hilfsgelder nach drei Hochwassern in elf Jahren haben die Stadt in ein Schmuckstück verwandelt. Seltsame Graugans-Kolonie an der Elbe. Ruhiger Nachmittag vor der Fahrt zum Elbschloss Übigau, wo die Komödie Dresden ihr Sommertheater öffnet, jetzt die zweite Saison. Wir sahen „The Addams Family“, geschickte Nutzung der Örtlichkeit seitens der Regie über alle Etagen, Premiere war am Freitag, doch da gab es keine Karten mehr. Es wird abends empfindlich kühl, wenn man die Elbe im Rücken hat, mehrere Heißluftballons überflogen die Spielstätte. Von Hans Blumenberg und seinem 100. Geburtstag heute redeten wir nicht. Saßen aber noch lange am Kamin auf der Terrasse.

12. Juli 2020

Nachtrag Langebrück: Vormittags ausführliche Wanderung in der Dresdner Heide, Kriegerdenkmal, Hofewiese und zurück, Erdbeerbowle. Nachmittags nach Radebeul auf den Weinwanderweg. Nach einem Appetizer in Form eines Secco die vielen Stufen der Spitzhaustreppe mit etlichen Pausen für Menschen fortgeschrittenen Alters, oben erste Weinprobe, vier Personen, vier Sorten, jeder kostete reihum. Unterwegs allerlei Begrüßungsszenen, Corona-Symbolumarmungen und ein Prospekt für eine frisch aus der Taufe gehobene Veranstaltung „Kunst geht in Gärten“, Wir griffen uns nur die Nummer 15 heraus: Terrasse Wilhelmshöhe, wo Günther Baby Sommer Malerei, Grafik, Skulptur zeigte, Action Painting war schon vorbei, als wir kamen, dafür sahen wir originale Pencks, Peter Graf und andere. Zwei weitere Weinproben im Weingut Drei Herren und Hoflößnitz, bei den Drei Herren auch das Abendmahl. Bilanz des Tages: 14327 Schritte, Weine einer besser als der andere.

11. Juli 2020

Nachtrag Langebrück: Reichlich anderthalb Stunden verloren wir gestern durch einen Stau auf den allerletzten Kilometern vom Dresdner Tor bis Dresden Flughafen. Irgendwann waren wir doch da, es gab Kaffee und Kuchen, unser verspätetes Geburtstagsgeschenk und einen ruhigen Tagesrest auf der Terrasse. Heute Ausfahrt nach Görlitz, wobei wir kurz nach Polen gerieten, weil wir die Abfahrt verpassten. Man kann auch in Polen auf der anderen Seite der Autobahn wieder auffahren. Görlitz ist mehr als nur sehenswert, für uns waren da zunächst Erinnerungsorte, von denen wir nur gehört hatten, das Ziel: Elternwohnung, eigene Wohnung, Schulen, Garten des Großvaters, eine Rundfahrt mit dem Doppeldecker-Bus gelang uns nicht, wir hätten vorbestellen müssen. In der Kulturbrauerei Siesta, ich nahm sieben Sorten für zu Hause mit. Mückenreicher Treff am Stadtpark mit Freundin der Freundin, die wir auch seit Jahren kennen. Abends Erinnerung an Simrishamn vor 25 Jahren.

10. Juli 2020

Was für ein Freitag! Wir sammeln Würste und Eier ein, wir transportieren Weine, individuelle Mundschutz-Masken in Schwarz und Hellblau, freuen uns auf einen Garten, der dem Hörensagen nach in einen Park verwandelt wurde und haben Pläne für drei Tage, weshalb es hier erst wieder kommende Woche Ein- und Nachträge geben wird. Vor 25 Jahren kombinierten wir auf Bornholm den sandigen Boderne-Strand mit dörflichen Idyllen nahe der Rundkirche Osterlars. Sahen den Sonnenuntergang vor Hammerhavn mit Ruine Hammershus. Heute wird es auf andere Weise idyllisch. Vor 50 Jahren starb René Schwachhofer, der seinem Namen in meinen Regalen alle Ehre macht. Seit gestern habe ich 2020 schon so viele Bücher zu Ende gelesen wie 2019 im ganzen Jahr. Da ist also noch sehr viel Luft nach oben. Ich sortiere mit Blick auf Ende August, was in welcher Abfolge ich lesen muss, um wirklich alles schreiben zu können, was ich bis dahin schreiben will.

9. Juli 2020

Unter ihrem Corona-Schutz-Präsidenten haben unsere amerikanische Freunde mittlerweile die Drei-Millionen-Grenze an Infizierten überschritten, es werden an einem Tag mehr als in Schweden seit Januar insgesamt, aber das liegt nur an des Tests. Würde niemand getestet in den Staaten, wären auch alle gesund. Auf Platz 2 folgt der Corona-Schutz-Präsident Bolsonaro mit seinen Samba-Tänzern und erst sehr weit abgeschlagen danach Boris und seine Brexit-Insel. Wie wohltuend ist es, an vernieselten Juli-Tagen des Abends Große und Kleine Pandas auf ARTE zu sehen, dazu diverse Tiere, von denen man nie hörte oder sah. Heute waren wieder alle drei Donnerstags-Zeitungen zu haben, 30 Cent kosten sie mehr als bis Ende Juni. Ich erinnere noch Zeiten, da kosteten sie zwei Euro weniger, sie waren besser und umfangreicher. Zu meiner Zeit hieß die Faust-Regel, jede neue Preiserhöhung kostet zwei bis vier Prozent Abonnenten, wann war das eigentlich? Wann, verdammt.

8. Juli 2020

Die FDP, lese ich in einem kostenlosen Blatt, will den Prozess beschleunigen, an dessen Ende in den Formularen zur Steuererklärung die Bezeichnungen Ehemann und Ehefrau durch „Person A“ und „Person B“ ersetzt werden. Das ist wegen der Diskriminierung in den alten Bezeichnungen gar nicht vermeidbar, meinen die Liberalen, die früher gern Steuern senken wollten, was auf die Dauer wohl langweilig wurde. Ich verstehe zutiefst, dass ein Diverser, der mit seiner Hauskatze in wilder Ehe lebt, sich diskriminiert fühlt, wenn er sich als Frau oder Mann outen soll, nur um ein paar laue Rückzahlungen zu ergattern, weil er immer mit dem Fahrrad ins Gemeindezentrum fährt. Ich wäre sogar bereit, die Person B zu sein, falls meine Frau dann die Erstellung der Steuerunterlagen in ihre Hände nähme, ansonsten bleibt sie Person B und ist auf neutrale Weise immer noch diskriminiert. Wegen des 130. Geburtstages von Walter Hasenclever heute entrang sich mir ein arg langer Text.

7. Juli 2020

Vor 90 Jahren, am 7. Juli 1930, starb ein gewisser Arthur Conan Doyle. Das war nicht der volle Name von Conan, dem Barbaren, der hatte gar keinen Familiennamen, dafür aber sehr viel mehr Muskeln als dieser Doyle. Wegen seiner Beliebtheit auch in der kleinen DDR brachte der Gustav Kiepenheuer Verlag dereinst fünf fliederviolette Bändchen heraus mit den schönen Titeln „Die Abenteuer von Sherlock Holmes“, „Die Memoiren von Sherlock Holmes“, „Die Wiederkehr von Sherlock Holmes“, „Der letzte Streich von Sherlock Holmes“ und „Das Notizbuch von Sherlock Holmes“. Vielleicht wäre die DDR später untergegangen, hätte sie mehr solche preiswerten Bücher auf den Markt geworfen. Die Leser hätten dann weniger Zeit für umstürzlerische Gedanken gehabt. Ähnlich lenkte bekanntlich der Klassenfeind seine Bürger von den nötigen Revolutionen ab. Den imposanten Schauplatz von „Sein letzter Fall“ bei Meiringen sah ich eigenäugig im August 2010.

6. Juli 2020

„Unmittelbarkeit ist zwar der professionelle Wunsch, doch Wirklichkeit nur bei den gestellten und bestellten Terminen von Reportern, die schon dadurch an Glaubwürdigkeit einbüßen, dass sie immer zur rechten Zeit das signifikante Bild vor ihrer Optik haben. Zur entblößten späteren Symbolfigur kommt man nicht auf Geratewohl.“ Das schrieb vor einigen Jahren der Philosoph Hans Blumenberg, dessen 100. Geburtstag heute in einer Woche zu feiern ist, während ich im fernen Osten des einigen Deutschland weile. Es passt zu einem Foto, welches mich dieser Tage in einer großen Zeitung ärgerte, weil es passte wie das Alibi zum Mord bei Colombo: einfach zu gut, um wahr zu sein: Zwei Männer verbrennen das alte Geld: Männer war schon zu viel gesagt: es waren zwei dämliche Jogging-Jacken-Dödel aus dem kommenden Kernbestand der ostdeutschen Hartz-IV-Elite männlichen Geschlechts. Westfotografen eine helle Freude: zwei, die sich nicht zu blöd sind.

5. Juli 2020

Der siegreiche Einmarsch der Deutschen in Frankreich 1940 allein war es nicht, der eine wahre Selbstmordwelle unter Emigranten auslöste; zunächst Ernst Weiß, dann Walter Hasenclever, dann, heute vor 80 Jahren, Carl Einstein. Walter Benjamin wartete bis September, ehe er sich seinen Vorgängern anschloss. Es war ein perfider Paragraph, den die Franzosen unterschrieben hatten innerhalb des Waffenstillstandsvertrages: sie verpflichteten sich, auszuliefern, wen immer die Deutschen haben wollten. Das erzeugte Panik unter allen, die wussten oder glaubten, sie könnten auf einer diesbezüglichen Wunschliste stehen. Die Sonntagszeitung fragt heute in ihrem Feuilleton, warum Theaterkritiker nicht klatschen. Mitten im Text kommt dann der Satz: „Der Standesdünkel lässt nach.“ Und es stehen ein paar Argumente der Großkritiker-Generation 2.0 da. Ich klatsche, seit ich Kritiken schreibe, nicht mehr und nicht weniger, als ich früher klatschte. Das zeugt gegen mich.

4. Juli 2020

Den fröhlichsten Dänen, den ich je belichtete, erwischte ich in Hasle am 4. Juli 1995, er würzte eben diverse Filets mit verschiedenfarbigen Würzmischungen. Hasle hat mehrere Räuchereien, die Fische sind herrlich und nur 1900 Einwohner leben da. In Gehren war ich heute nach längerer Pause wieder einmal im „Steinbruch“, kam zu spät, weil ich von zwei Einladungen nur eine bekommen hatte. In jungen Jahren war ich selten dort, warum auch immer, zuletzt aber wegen der Vorbereitung von Klassenfeiern und der Klassenfeier selbst mehrfach. Gut, dass ich das Auto hinterm Friedhof abstellte, Parkplätze waren alle besetzt. Mein heutiger Text zu Max Klinger überrascht mich selbst, weil ich nicht nur nicht gedacht hätte, ihn je zu schreiben, sondern auch, weil er sich fast wie von allein schrieb. Dafür ersetze ich morgen einen möglichen Text zu Carl Einstein durch einen alten aus dem fernen Jahr 1989. Der brachte damals 90 Mark Honorar, für uns eine ganze Monatsmiete.

3. Juli 2020

Die Mitte der Gesellschaft müssen wir uns als eine Art Kopfbahnhof vorstellen. Ständig kommt etwas in der Mitte der Gesellschaft an, nie fährt etwas von dort weg oder geht zu Fuß in Richtung der Ränder. Einige Abende öffentlich-rechtliches Fernsehen und man erfährt: der Antisemitismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, rechtes Gedankengut sitzt dort bereits auf der Bank, nachdem es in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Gestern hörte ich, dass nun auch der Kampf ums Tierwohl in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei. Ich mache mir ernste Sorgen um die Mitte der Gesellschaft. Die meisten Menschen, die an der Bahnsteigkante stehen, wenn etwas ankommt, machen beim Bericht darüber ernste Gesichter. Noch ernster sind die Gesichter derer, die die Ankunftsberichte an- und abmoderieren. Dürfen wir eigentlich die platonische Liebe noch so nennen, wo doch Platon alle Nicht-Griechen Barbaren nannte, diese rassistische Sau?


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