Tagebuch

3. August 2020

Wenn sich rechtsradikale Impfgegner mit lesbischen Verschwörungstheoretikerinnen verbünden, um Seite an Seite mit Trillerpfeifen-Gewerkschaftern, Hochradfahrern und Mitgliedern des Zentralrats der Lurchschützer vereinen, um gegen dies und jenes zu kämpfen, dann muss das in Berlin sein. Oder wahlweise aus Stuttgart angekarrt. Das Leben ist schön. Noch darf man annehmen, dass einer, der Nelson heißt, Nelson Mandela zum Vorbild hatte, wann aber schlägt die ganze Wahrheit zu: es war Nelson Müller? Oder war es Lord Nelson, der seinen Familiennamen nicht zeitig hatte schützen lassen in seinem Reichs-Patentamt? Wir dürfen, las ich eben von einem polnischen Historiker, nicht zulassen, die ganze Schuld am Holocaust Deutschland zu geben, auch wenn wir gern alle Schuld tragen, ein paar haben doch noch geholfen. Es ist genug Schuld für alle da, meint der Pole, und ich kann nicht sagen, dass es mir als Verharmlosung von irgendetwas erscheint. Eher als eine Wahrheit.

2. August 2020

Das Büchlein lag wochenlang auf einem Haufen von Büchern, die ich noch nicht wieder ins Regal stellte, weil ich glaubte, sie weiter oder gar zu Ende lesen zu können: einer der Irrtümer, denen ich am häufigsten unterliege. Nun aber las ich es: 130 kleine Seiten gestern und heute und es schien, als hätte ich es tatsächlich noch nicht gekannt. Doch mein Register ist zuverlässig: als Titel 201, 1965 gelesen, finde ich es: „Der beste Freund. Friedrich Engels, sein Leben und sein Werk“. Von Walther Victor. Ich gebe zu, dass man im Jahr des 200. Geburtstages von Engels gewichtigeren Quellen Vertrauen schenken könnte, doch las ich es nicht als Quellenwerk. Wozu auch? Ich habe vermutlich mehr originale Seiten Engels in den blauen Bänden der Werkausgabe gelesen, als die meisten, die in diesem und schon im vorigen Jahr so taten als ob. Der erste Abend im Wohnzimmer nach so vielen Balkon-Abenden bringt uns den ersten Nik-Tschiller-Tatort, den wir kannten und vergessen hatten.

1. August 2020

Wenn bestimmte Namen immer wieder zitiert werden, tritt irgendwann der Übersättigungseffekt ein: der Eindruck entsteht, man wüsste alles von diesen Menschen, obwohl man von ihnen nichts weiß. In diesem Fall rede ich von mir und Pierre Bourdieu, der heute 90 Jahre alt würde, wäre er nicht am 23. Januar 2002 schon gestorben. Von ihm gibt es eine winzige Schrift, vier Druckseiten nur, die heißt „Der Rassismus der Intelligenz“. Man müsste sie als Postwurfsendung allen in die Briefkästen schieben, die dauernd und im Brustton ihrer Überzeugung auf Rassisten eindreschen. Bourdieu spricht von Rassismen, also Plural: „Alle Rassismen sind sich gleich.“ „Der Rassismus der Intelligenz ist ein Rassismus der herrschenden Klasse“, mit ihm und da zitiert Bourdieu dann Max Weber, produziert sie eine „Theodizee ihres eigenen Privilegs“. Und sie tarnt sich, indem sie den platten Rassismus, den kleinbürgerlichen, zum Vorzugsgegenstand ihrer Kritiken aufbauscht.

31. Juli 2020

Gestern, als DER FREITAG im Briefkasten lag, las ich nur Überschrift und Vorspann und hatte schon die Nase voll. Heute schaue ich näher hin und sehe, dass dort, wo früher noch Kompetenz und Ahnung walteten, heute offenbar die Linke nicht mehr weiß, was die andere Linke tut (denn die Rechte gibt es im Hause Augstein ja per Definition nicht, die wird bekämpft). Neben der dummen Extrem-Behauptung, dass derzeit Ost-Autorinnen mit Preisen überhäuft werden, wird auch noch Helga Schütz, Jahrgang 1937, der Bachmann-Preis zugeordnet, den Helga Schubert, Jahrgang 1940, erhielt, der CICERO hatte eben ein sehr schönes, ein würdiges Foto von ihr. Abgebildet sind Elke Erb, Jahrgang 1938, und Irina Liebmann, Jahrgang 1943, alle mit Jugendfotos. Ein Blatt mit einer wöchentlichen Gender-Seite hätte diese Foto-Lügen nie durchgehen lassen dürfen. Schönen per Foto, das ist Yellow Press. Ich schrieb einen Leserbrief, obwohl ich das eigentlich nicht mehr mag.

30. Juli 2020

Wer heute 75 Jahre alt wird, dem lässt sich auch wohlwollend keine Jugend mehr andichten. Im Fall des Nobelpreisträgers für Literatur des Jahres 2014, des Franzosen Patrick Modiano, geht es dennoch: „Eine Jugend“ hat er sich selbst geschrieben, allerdings erschien das Buch schon 1981 und hat somit gewissermaßen bereits alles Anrecht auf graue Schläfen. Lang ist die Liste seiner Bücher inzwischen, Romane vor allem. Seine Nobelpreisrede kann man auf Englisch, Schwedisch und Französisch im Internet leicht nachlesen, ist mir also verwehrt. Dafür sitze ich seit nunmehr einer kompletten Woche jeden Abend auf dem Balkon, beobachte die Schwalben in der Annahme, dass es keine Mauersegler sind, beobachte den zunehmenden Mond, zünde ab einer gewissen Dunkelheit zwei Kerzen an, befülle in gewissen regelmäßigen Abständen zwei Weingläser, lausche auf die Geräusche der Nacht. Modiano ist seit 1970 mit derselben Frau verheiratet, ich seit 1976.

29. Juli 2020

Als der Schwede Eyvind Johnson 1974 gemeinsam mit seinem Landsmann Harry Martinson den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, war er in der DDR bekannter als im Westen, dessen Weltoffenheit in dieser Hinsicht bis heute eher der bekennenden Lippenkirche angehört als dem wirklichen Leben. Der arbeitsteilig auf skandinavische Literaturen spezialisierte Hinstorff-Verlag Rostock veröffentlichte schon in den sechziger Jahren eine Reihe Johnson-Bücher (am Ende waren es sieben) und das dünnste, die „Winterreise“, las ich im Oktober 1971, bevor ich unfreiwillig selbst nach Rostock geriet, um dort einige Winterreisen zu absolvieren und zwar in Uniform. Am 29. Juli 1900 ist Johnson geboren, am 25. August 1976 gestorben. Bis heute las ich nichts wieder von ihm und in meinem kombinierten Polen/Schweden-Regal (zufällig von IKEA) steht nur ein einziges seiner Bücher: „Die Nacht ist hier“. Auch das muss wohl noch etwas warten, ehe ich es heraushole.

28. Juli 2020

Zwischen Ernst Tollers „Hinkemann“ und Alfred Matusches „Das Lied meines Weges“ las ich Ende Juni 1978 das Buch „Bert Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917 – 1922“ von Hanns Otto Münsterer. Münsterer war zwischen Herbst 1917 und 1920 in Augsburg eng mit Brecht befreundet, er überlebte ihn um 18 Jahre. Bescheiden endet sein Rückblick: „Es ist anders gekommen. Der Tod verschmähte das kleine Leben und nahm das unersetzliche.“ Es war, soweit ich sehe, das erste Buch über Brecht, das ich las, es folgten etliche nach später. Eine Zeit lang versuchte ich sogar, das freilich vorher, Gedichte nach Brecht zu schreiben, Vorlagen von ihm zu variieren, etwas davon ist sogar gedruckt worden. Allein deshalb will ich heute an diesen Mann denken, der am 28. Juli 1900 geboren wurde und am 30. Oktober 1974 in München starb. Sein Brecht-Buch erschien zuerst 1963 in Zürich, drei Jahre später im Aufbau-Verlag. Er war eigentlich Arzt, Virologe und Volkskundler.

27. Juli 2020

Am 27. Juli 2005 vermeldete die Zeitung, der ich einige Jahre meine Arbeitskraft gegen geringes Entgelt verkauft hatte, dass Geschäftsführer Werner Griego das Haus auf eigenen Wunsch verlässt, er fehlte auch sofort im Impressum. Das heiterte mich nicht wirklich auf, erinnerte mich doch jede Nennung seines Namens an seinen Vortrag über FREIES WORT, als ich ihm 1992 als neuer fester Mitarbeiter vorgestellt wurde. Man hatte ihm weder gesagt, dass ich den Laden bestens kannte, noch dass ich ein Hiesiger war, dem man nicht erzählen musste, wo am Baum die Wurzeln sind. Immerhin, bei meinem Rauswurf hatte er besser informiert gefragt, warum denn die besten Leute rausgeworfen werden. Was mein bald ebenfalls rausgeworfener Chefredakteur antwortete, habe ich nie erfahren. Vielleicht hat er die Frage ja sogar auf sich selbst bezogen, als er an der Reihe war, aus dem Impressum zu verschwinden. Ich las an jenem Mittwoch zur Entspannung Arthur Schnitzler.

26. Juli 2020

Als sie am 25. Juli 1950 an den Folgen ihrer Erkrankung an Multipler Sklerose starb, war sie 51 Jahre alt. Was immer sie an Seltsamkeiten ihres religiösen Weltbildes ausgeprägt hatte, zu welchen teils haarsträubenden Konsequenzen ihr Denken führte: die sehr kurze Geschichte „Saisonbeginn“ ist ganz große Literatur. Und wenn sie nur diese dreieinhalb bis vier Druckseiten geschrieben hätte, müsste sie in jeder deutschen Literaturgeschichte exponiert genannt werden. Gemeint ist Elisabeth Langgässer, deren Ruhm nur sehr kurz währte und sich nie erneuerte. Aus Berlin am frühen Abend die Nachricht, dass alle wohlbehalten wieder zu Hause angekommen sind. Wir vermissen die vielen kleinen Schuhe im kleinen Flur, wir werden vermissen die tägliche Morgenfrage: „Opa, dürfen wir was gucken?“ Immerhin gab es schon die vorsorgliche Erkundigung, ob es beim nächsten Besuch wieder so ein süßes Kästchen zur Versorgung auf dem Rücksitz von Mama und Papa gibt. Gibt es.

25. Juli 2020

Es gibt Menschen, die mit dem Fahrrad zum Fröbelturm fahren, den Wegweiser fotografieren und dann wieder abwärts rollen. Wir sind mit der Bergbahn gefahren, Steilstrecke, Flachstrecke, dann Oberweißbach am Wegweiser Fröbelturm: 1 km geradeaus, 0,4 km eine Wiese steil empor, rechts nach oben abgebogen. Oben besteigen wir den Turm gegen ein geringes Entgelt, ich verspeise eine Wildknacker nebst Brötchen und beobachte nebenher im Kreise der erweiterten Familie die Buben auf dem Spielplatz. Auf dem Rückweg nehmen wir alle die Wiese zwischen Tausenden von sehr kleinen Grashüpfern, erwischen gerade noch den Zug und fahren bis Obstfelderschmiede. Um der Tageskarte einen weiteren Nutzen zu verschaffen, steigen wir in die Bahn nach Katzhütte um und bleiben bis zur Rückfahrt in Richtung Rottenbach einfach sitzen. Am Ende des Tages habe ich den zweiten Enkeltag der Woche mehr als 10.000 Schritte absolviert, die Kondition steigt und steigt.

24. Juli 2020

Die enkelzentrierte Reisetätigkeit findet ihre Fortsetzung mit einem Ausflug zur Kunst- und Senfmühle Kleinhettstedt, wo wir nach ausgiebiger Besichtigung des musealen Teiles über alle Etagen später auch zu Mittag essen. Vorher aber sehen wir noch den Straußenhof Kleinhettstedt, der fast 300 Jahre jünger ist als die Mühle, aber neben dem Anblick von Straußen aller Altersstufen auch viele nützliche Informationen auf Farbtafeln bietet. Es gibt dort einen Hofladen, den wir sicher besucht hätten, doch seine Öffnungszeiten harmonierten nicht mit unserer Anwesenheit. Immerhin sind wir fest entschlossen, bei nächstbester Gelegenheit zur richtigen Zeit zu kommen, um auch etwas zu kaufen. Wie schmeckt Straußensalami? Von Straußenbratwurst hörten wir schwärmen. Im Restaurant entstanden zwei Collagen für Mama und Papa am Smartphone. Abends Kurzbesuch auf dem Spielplatz Kopernikusstraße, wo lustige Großfamilien beim Sitzen beobachtet werden können.

23. Juli 2020

Selbst Enkel-Tage gehen vorbei, auch wenn sie lang sind wie angeblich die Kreuzberger Nächte. Aber Kinder aus Charlottenburg kennen diese Nächte ohnehin noch nicht. Unser Ausflug gilt der Mühlburg, die ich seit meiner Kindheit kenne und die nun sogar über Toiletten verfügt und einen kleinen Kiosk. Wir zahlen nicht mehr als 6,50 Euro für drei Personen, weil für die kleinste Person noch alles nichts kostet, wir besteigen den Turm und suchen von oben das Haus vom Opa des Opas. Den Versuch, auch noch die Burg Gleichen zu sehen, geben wir auf mit Rücksicht auf die Kondition des kleinsten Wanderers. Wir sehen ein geschlossenes Gasthaus Freudenthal. Am Abend der zweite Ausflug zum Sportplatz Unterpörlitz, wo die Fußballer wieder trainieren und die Enkel die hinteren Tore benutzen dürfen. Unglaublich, wie lange man mit fünf und acht Jahren auf richtigem Rasen Fußball spielen kann. Zwischendurch gibt es für beide Wasser aus  personengebundenen Flaschen.


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