Tagebuch

19. September 2020

Die Menge der Pflichten, die ich auferlegt bekomme vor einer Urlaubswoche, ist freundlich viel geringer, als die Menge der Pflichten, die ich mir selbst auferlege. Immerhin habe ich heute noch einmal mehr als 3200 Wörter geschrieben, die als kleiner Ausgleich für ausfallende etwa 1000 Wörter hier im Tagebuch gelten sollen. Eigentlich sollten es zwei Sachen werden, aber für die zweite reichte die Zeit nicht. Es gehen jetzt sogar wieder Mails von Theatern ein, die mich fragen, zu welchen Premieren ich bis Dezember kommen möchte. Schleicht sich da etwas Normalität ein ganz heimlich, still und leise? Natürlich nicht, die Plätze reichen nicht für zwei Pressekarten. Mein Urlaubsziel liegt laut Routenplaner 663 Kilometer von hier entfernt, ich werde 6 Stunden und 17 Minuten unterwegs sein, wenn ich keine Pausen mache, nicht tanke und nirgends ein Stau ist. Das ist natürlich Unsinn und so schlage ich ein wenig auf in der Ankunftszeit, morgen bin ich schlauer.

18. September 2020

Mit „Umbrische Tage“ bin ich auch fertig, werde aber frühestens nach unserer Reise in die Nähe eines großstädtischen Risikogebiets darüber schreiben. An manchen Stellen wird Hanns Cibulkas 100. Geburtstag schon vorgefeiert, denn es gibt in der Provinz keine Sonntagszeitungen. Zu meinem nicht geringen Erstaunen hat auch Adolf Endler am 20. September Geburtstag, den 90. zwar nur, aber in fast all meinen Dateien steht er unter dem 10. September. Inzwischen habe ich alle mir zur Verfügung stehenden Nachschlage-Medien überprüft: es steht 4:3 für den 20. September, die für den 10. September plädierende Minderheit muss schweigen. Adolf Endler, das sei verraten, kam 1955 aus dem Westen in die DDR und durfte gleich den vollen Lehrgang am Literatur-Institut Leipzig absolvieren. Sage nie wieder einer, erst nach der Wende hätten es Wessis im Osten leichter gehabt. Sie haben sich dafür gerächt, indem sie Tarzan vom Prenzlauer Berg wurden. Oder so ähnlich.

17. September 2020

Donnerstage waren jahraus, jahrein Tage, da ich am frühen Morgen in unterschiedlichen Graden von Munterkeit zu Fuß oder zu Fuß in Kombination mit Bus oder mit Auto erst den Bäcker, dann den Zeitungshändler besuchte. Man registrierte, wenn ich etwas früher kam, man wunderte sich, wenn ich etwas später kam. Jetzt ist das Wundern für mich nicht mehr spürbar. Ich gehe nicht mehr zum Bäcker, weil ich aus irrationalen Gründen keine Semmeln mehr esse, ohne dass mich meine Ernährungsberater dazu aufgefordert hätten oder gar mein Blutzuckerwert. Teilschuld räume ich der Übergangsphase zwischen meinen alten und meinen neuen Zähnen ein. Zum Zeitungshändler gehe ich ebenfalls nicht mehr, weil eine in meinem Haushalt lebende freundliche Person weiblichen Geschlechts dies übernimmt, da sie ohnehin in der Stadt ist. So kann ich erst nach ihrer Rückkehr fluchen, dass schon wieder keine „Berliner Zeitung“ nach Ilmenau gekommen ist: Scheiß-Logistik.

16. September 2020

Die Versuchung ist groß, da weiterzumachen, wo ich gestern vor dem Sauna-Nachmittag aufhörte. In der 1976er Ausgabe „Tagebücher“ von Cibulka folgt auf das erste, „Sizilianisches Tagebuch“, das zweite, „Umbrische Tage“ und es beginnt mit der Ortsangabe „Orvieto“. 2002 waren wir da auf dem Weg nach Rom und der „Illustrierte Reiseführer Orvieto mit herausnehmbarem Stadtplan“ steht noch in meinem Italien-Regal nicht weit von einem der DuMont Reise-Taschenbücher mit dem einfachen Titel „Umbrien“. Aus dieser Reihe besitze ich etliche Bände und nutze sie auch in jedem Fall, wo ich die entsprechende Region besuche. Wie konnte ein DDR-Bürger, und auch noch ein berufstätiger dazu, mit Frau und Sohn komplette 30 Tage in Italien verweilen im Jahr 1960? Ich habe in meinem fast 68 Jahre dauernden Leben nie einen Menschen getroffen, der zu DDR-Zeiten Italien sehen durfte, später kannte ich einen Rom-Pilger, der nach 1990 Professor geworden war.

15. September 2020

„Nachtwache“ heißt das Buch von Hanns Cibulka, das ich gestern zu späterer Stunde zu lesen begann und heute, ehe wir das herrliche Wetter zu einem Ausflug nach Sohnstedt nutzten, schon zu Ende brachte. Zwei Bücher signierte mir Cibulka am 27. Oktober 1989, eben diese „Nachtwache“ und den Gedichtband „Losgesprochen“. Erst 2014 ergriff ich die Gelegenheit seines zehnten Todestages, um ein paar Zeilen über ihn zu schreiben, das Ergebnis steht noch im Netz und kann dort nachgelesen werden. Er gehörte zu denen, die man gern die „Stillen im Lande“ nennt, weil sie nicht vor den Kameras hopsen, sobald die sich einmal auf sie richten, ja nicht einmal wirklich in diese Situationen geraten, dass der ARD-Korrespondent oder die ZEIT-Korrespondentin just da gerade lustwandeln, wo Cibulka aus seiner Gothaer Bibliothek kommt, um ein Statement über alte Griechen abzugeben. Ein Schriftsteller, der immer eine feste Anstellung hatte, ein DDR-Wundertier.

14. September 2020

Eine sehr blondierte Frau in einem sehr weißen offenen Audi zeigte, dass man auch an Montagen Sperrschilder missachten darf, wenn man blond genug ist, um in die Kopernikusstraße abbiegen zu dürfen, obwohl die auch gesperrt ist. Wahrscheinlich ist bereits die Erwähnung der Haarfarbe purer Sexismus, sie hätte ja aber auch Kopftuch tragen können wie Grace Kelly auf der Haarnadelstraße nahe Monaco. Zu denken wäre jetzt an Erich Ebermayer, der heute vor 120 Jahren geboren wurde und acht Tage nach seinem 70. Geburtstag 1970 starb. Leider weiß ich (fast) nichts von ihm, las nie etwas von ihm und bin auch vorerst nicht willig, etwas von ihm zu lesen. Freunde hat er ohne mich genug. Der Reiseteil der WELT vom Samstag hatte eine ganze Seite über die dänische Insel Läsö, die tatsächlich aber Læsø geschrieben wird, was uns die Dänen voraushaben. In meiner Archivkiste fand ich heute tatsächlich ein Heft „Erlebnisreiche Inselferien 1997“, Dokument meiner Sehnsucht.

13. September 2020

Man soll nicht glauben, wie viele Kraftfahrer und Kraftfahrerinnen meinen, ein Schild mit der Bedeutung „Durchfahrt verboten“ verlöre am Wochenende seine Bedeutung vollständig, man dürfe es beliebig missachten. Seit 2000 missachte ich selbst Hirschbraten, der Karawankenhirsch, den ich am 12. September 2000 in Egg am Faaker See verspeiste, lag mir am 13. September noch immer im Magen wie weiland dem Wolf die Wackersteine. Nun gut, heute strebten wir an, in Königsee zu Mittag zu essen, eine Straßensperrung hätte uns aber gezwungen, über Rom, Wien und Dröbischau zu fahren, was die Essenzeit fraglich gemacht hätte. So hielten wir in Dörnfeld auf der Heide, wo wir am Ort mancher Familienfeiern mit und ohne Großeltern sehr gut und sehr preiswert tafelten. Wir spazierten ein wenig umher und ich setzte zu Hause die Arbeit an meiner Sternheim-Datei fort, die ich unbedingt so weit führen wollte, dass ich nach meiner Kritik nicht noch einmal ranmusste.

12. September 2020

Erinnert sich noch jemand an Werner Toelcke? Seinen heutigen 90. Geburtstag hat er gar nicht so sehr verfehlt, er starb am 19. Oktober 2017, 87 Jahre alt und weitestgehend vergessen. Die paar Krimis, die ich von ihm besaß, brachte ich vor einem Jahr mit vielen anderen Büchern in das Bücherdorf in Sachsen-Anhalt, das die Bibliothek meiner Mutter zu übernehmen bereit war. In Erinnerung sind mir die Fernsehkrimis, in denen er den Privatdetektiv Weber spielte, einen aus dem Westen, wohin der in Hamburg geborene Toelcke 1984 auch selbst wieder übersiedelte. Glück hatte ich gestern in Meiningen: ein einsamer Parkplatz war noch frei am gesperrten Platz mit Rummel und später sogar Feuerwerk, den besetzte ich. Vor 15 Jahren sahen wir die Wolfsschanze, von der viel Beton übrig ist, bemoost und bewachsen. Der Autor eines Wolfsschanzen-Buches verkaufte und signierte es, nachdem er uns alles gezeigt und erläutert hatte, was zu zeigen und zu erläutern war.

11. September 2020

Eigentlich hatte das Theaterjahr gar nicht schlecht begonnen: am 10. März stellte ich die sechste Kritik des Jahres ins Netz, bis zur Sommerpause sollten elf weitere folgen. Dann aber, erinnern wir uns wie an ferne Zeiten, ging plötzlich gar nichts mehr: schon für mich ausgedruckte Karten sind zu Lesezeichen geworden. Heute aber ist für mich das, was wir nach dem hochdeutschen Lock Down nun Re-Start nennen. Ich sehe in Meiningen „Die Kassette“ von Carl Sternheim, die ich eigentlich am 24. April sehen wollte. Nun ja. In Vorbereitung eines Artikels für FREIES WORT, der dort am 1. April 2003 gedruckt wurde, las ich nicht weniger als acht Sternheim-Stücke zwischen dem 15. Februar und dem 16. März 2003, meine umfangreichen Notizen sind noch mit Schreibmaschine geschrieben, ein paar Blätter sogar mit Hand, schwer vorstellbar heute. Nur zu „Die Kassette“ gibt es eine Datei auf meiner Festplatte, die ich jetzt noch ein wenig aufbesserte: ich bin gut vorbereitet.

10. September 2020

Zwölf Stunden waren wir unterwegs von Ilmenau bis Poznan am 10. September 2005, wir trafen unsere Reiseleiterin Cindy wieder, die uns auf der „Tour de France“ begleitet hatte und sie verriet uns, dass sie zum Jahresende aufhören wird in ihrer Firma und nach Südafrika ziehen, dort heiraten will. Poznan überraschte uns sehr angenehm. Unterwegs sahen wir die Straße in Glogau wieder, wo uns 2004 mit Ketten befestigte Ansichtskarten in Erstaunen versetzt hatten: sicher gegen Diebstahl. Zwischen Bautzen und Görlitz hatte es einen schweren Unfall gegeben, wir fuhren an der schon zugedeckten Leiche vorbei. Poznan war nur Übernachtungsort vor der Weiterreise nach Mikolaijki. Heute wollen wir zum Sommerfest an den Großen Teich, noch sieht es nicht wie Sommer aus. An Franz Werfel denke ich natürlich heute auch, sein 130. Geburtstag erinnert mich an Offenes im ganz privaten Pflichtenheft. Gestern Sichtung der Eloesser-Theaterkritiken in meinen Archiv-Beständen.

9. September 2020

Der 9. September 2000 war ein Samstag, wir siedelten von Terenten in Südtirol nach Egg am See am Faaker See um. Kurz vor der Grenze eine dieser Stellen, wo Busse anhalten, um deren Insassen zum Großkauf zu animieren, Jahre später war dort alles fast ausgestorben. Erster Halt hinter der Grenze in Sillian, weil ich Arnolt Bronnens „Anarchie in Sillian“ noch im Kopf hatte, am Ende meiner Studentenzeit gelesen. Am Faaker See der reine Wahnsinn, Unmengen Harley Davidsons, kein Parkplatz zu sehen und als wir vorbei waren an unserem Feriendorf, gab es keine Möglichkeit, zu wenden, wir drehten eine komplette Runde um den See, befuhren später einen Schleichweg und kamen dennoch erst 16.45 Uhr zum Auspacken. Bis spät das unverwechselbare Harley-Geräusch, wir sahen Unmengen von Buden, Zelten, überall Heavy Metal, zwei Zelte mit Striptease. Das Reisebüro hatte uns vorgewarnt, wir die Warnung nicht ganz ernst genommen. Es war ein Erlebnis.

8. September 2020

Gut geschlafen im neuen hohen Bett. Draußen nur zehn Grad, der Himmel aber so blau wie vor zwanzig Jahren, als wir vom Antholzer See zum Stallersattel und nach Osttirol auffuhren. Das ist eine tolle Tour mit genau festgelegten Zeiten für Auf- und Abfahrt, denn die Straße ist für den Begegnungsverkehr zu schmal. 412 Höhenmeter zu überwinden ist ein kleines Abenteuer, oben wartet der Nationalpark Hohe Tauern mit dem kleinen Obersee, den wir umwanderten. Wir bleiben länger als geplant, nutzten erst die 15-Uhr-Abfahrt, unterwegs ein verlassener Grenzbau, ein Kitschblick auf den Antholzer See, der Tag vor der Abreise nach Kärnten, wo wir mitten in die European Bike Week geraten. Und wo meine gute alte Nikon 801 schon vorher gezeigte Marotten zur Blüte bringt, es gibt reihenweise verdorbene Fotos. Auf dem Rückweg von Antholz noch ein  Einkaufshalt in Bruneck, ich finde ein belgisches Bier, das ich noch nicht kenne, für die Sammlung.


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