Tagebuch

20. September 2019

Was Lido di Jesolo ist, lässt sich kaum sagen, eine Agglomeration von Hotels und Appartements vor allem, ein Strand mit endlosen Reihen von Liegen und Sonnenschirmen, die Liegenpreise reichen von 13,50 bis 21 Euro pro Tag, abhängig von der Reihe. Zur Hochsaison fassen sich die Liegenden vermutlich ständig ins Gesicht beim Umdrehen, es gibt endlose Reihen von Läden und Restaurants aller Art, Busse in Richtung dessen, was vielleicht Zentrum ist, fahren keine, man weiß eigentlich gar nicht, wo man sich befindet, orientiert sich an den Farben der Sonnenschirme. Den Ausflug nach Venedig heute haben wir uns verkniffen. Nach 33 Übernachtungen in Venedig, davon 30 am Canale Grande, brauchen wir keine Tagestouren mehr, in zwei Jahren sind wir wieder eine Woche dort. Am Strand auffallend viele dicke alte Frauen. Die Rückkehrer sind alle begeistert, was wir verstehen können. Am Abend wieder Schnelldurchlauf mit vier Gängen, danach Balkon-Abschied.

19. September 2019

Abschied von der Adria, eine Frau hat den Safe-Schlüssel eingepackt und muss noch einmal an den schon verstauten Koffer. In Padua nach drei Führerinnen heute ein Mann: Graziano, der nicht ganz so geläufig deutsch sprach wie die Damen. Zuerst der Platz, den unsere Reisebegleiterin Kerstin als drittgrößten, Graziano als zweitgrößten Europas bezeichnete. Dann die Kirche, die fast alles in den Schatten stellt, was wir bisher im Leben sahen: die Antonius-Basilika, für die uns viel zu wenig Zeit blieb. Immerhin sahen wir die Kapelle der Reliquien mit den Überbleibseln des Heiligen, darunter Zunge, Kinn und Kehlkopf, was einigen eher antireligiös gestimmten Mitreisenden Kopfschütteln abzwang. Wir waren im historischen Innenhof der drittältesten Universität Italiens nach Bologna und Modena. Den berühmten Anatomie-Hörsaal sahen wir nur auf dem Foto. Den gibt es nur im Rahmen einer Führung durch die Universität. Unser Hotel in Lido di Jesolo sehr weit vom Zentrum.

18. September 2019

Unsere allererste Italienreise nach Pesaro enthielt auch einen Tagesausflug nach San Marino, mein Erinnerungstext „San Marino forever“ ist unter REISE-LOB, 11. Mai 2011, noch nachlesbar. Drei Stunden blieben uns heute, 28 Jahre später. Wir hatten deutlich bessere Sicht bis zur Adria als am 16. Oktober 1991. Man kauft jetzt Eintrittskarten für ein, zwei und mehr Museen, Plastikkarten, die man seltsamerweise sogar behalten darf. Ich fand Biere aus San Marino, einige unverschämt teuer und gar nicht in San Marino gebraut, sondern in Padua, eines, das seine Herkunft nicht verriet, den Brauer aber auf dem Etikett zeigt. Ich nahm zwei Weine mit, den ersten genossen wir nach dem Abendessen auf dem Balkon, der zweite fährt mit nach Hause. Auf dem zweiten Turm Myriaden  fliegender Ameisen, mit jedem Schritt tötet man Dutzende. Viel Zeit für den Strand von Cesenatico, unser Hotel hat einen eigenen schmalen Abschnitt, auch eine kleine Bar dabei, kräftiger Wind heute.

17. September 2019

100. Geburtstag von Horst Krüger, den ich viel zu spät für mich entdeckte. Der fakultative Ausflug nach Ferrara und zum Kloster Pomposa. Heute führte uns eine Elisabetta. Ferrara ganz anders als Ravenna, wir liefen ab Palazzo dei Diamanti in Richtung Castello Estenense. Der Dom wegen Renovierungsarbeiten geschlossen, rundherum kleine wie angeklebte Geschäfte, in deren winziger oberer Etage früher die Inhaber wohnten. Pizza-Stücke als Zwischenmahlzeit, Eis bei den Kuchen-Lieferanten der Deutschen Lufthansa. Die Klosterkirche von Pomposa wie auch das dazu gehörige Museum nur mit Eintrittskarte zu sehen, wir zahlten gern. Von Touristengewimmel hier keine Spur mehr, die knapp bemessene Zeit reichte ausnahmsweise einigermaßen. Wir haben von weiteren Versuchen, an Weingläser fürs Zimmer zu kommen, Abstand genommen, trinken den Balkonwein aus den Plastebechern, nur roten natürlich, für weißen hätten wir einen Kühlschrank haben müssen.

16. September 2019

Milde Enttäuschung von Ravenna. Grandios die Basilika Sant’Appolinare in Classe, einem Vorort, der einst Hafen war. Mosaiken aus uralten Zeiten. Zweite Station außerhalb des Zentrums von Ravenna: das Grabmal Theoderichs, das Dach aus einem einzigen riesigen Stein wirft die Frage nach der Montage des Monuments auf. Stadtrundgang mit Claudia, die uns auf der Piazza del Popolo verlässt für die kleine Freizeit. Wir schauten zuerst zum Dante-Grabmal, suchten dann vergeblich in den Gassen nach einem normalen Geschäft mit Spezialitäten und Weinen. Zeitig zurück in Cesenatico. Die unangenehme Überraschung: es fahren keine Busse mehr, wir sahen die letzten gestern von unserem Balkon aus. Heute ist Schulbeginn in Italien. Langer Fußmarsch ins Zentrum, wo uns eine kleine Fähre für 40 Cent übersetzte. Auf dem Busparkplatz in Ravenna erstaunlich viele Busfahrerinnen, bei uns immer noch eher selten. Schrittrekord gebrochen: 21019.

15. September 2019

Das Taxi vor unserem Haus war fast auf die Minute pünktlich, am Bahnhof aber kein Bus. Dafür kam ein weiteres Taxi, das uns zum Hermsdorfer Kreuz brachte. Wir stiegen in einen Berliner Bus bis Torbole, von wo aus es heute weiter ging nach Verona und dann Cesenatico, Ortsteil Zadina. Gestern beim zweiten Halt Stress mit einem Holländer, der sich genüsslich auf einen Busparkplatz gestellt hatte. 8.42 Uhr passierten wir unser Hotel vom Sommer in Torri del Benaco. In Verona kurze Stadtrundfahrt, dann Gang zu Fuß mit Aurora, die uns natürlich auch zum berühmten falschen Balkon führte. Zu den Schmierereien an den Wänden sind jetzt angeklebte Zettel gekommen. Neu für uns der riesige Friedhof, in dessen Nähe unser Bus wartete, mit mehreren Abteilungen. Eigene Grabfelder für Nonnen und Schwestern. Im Hotel das Zimmer 124, keine Gläser, nur ein Stuhl im Zimmer, nur ein Stuhl auf dem Balkon. Nach dem Marzemino gestern heute ein Romagna-Wein.

14. September 2019

Während wir im Bus gern Süden rollen, norditalienische Kulturstädte zu besichtigen, tobt landauf, landab der Jubiläumsbär zu Alexander von Humboldt. In Bad Steben, wohin es uns angelegentlich verschlägt, man kann dort beispielsweise Silvester in der Sauna feiern, hat man eigens ein Bier zum Jubiläum gebraut, es heißt überraschend: Humboldt-Bier. Das erste Fass wird um 15 Uhr angezapft und dann geht es los. Humboldt lebte von 1792 bis 1795 im heute Humboldthaus genannten Bau Badstraße 2, wurde dort vor allem als Förderer des fränkischen Bergbaus geehrt, längst aber auch darüber hinaus. Hinter mir steht die gute alte Humboldt-Biographie von Herbert Scurla, der noch dicker auch über Wilhelm geschrieben hat, den Bruder Alexanders. Mein Humboldt-Archiv ist so stark angeschwollen, dass ich zwei Nachwuchs-Forscher ans Auswerten setzen könnte allein zum Thema: Humboldt als Medienereignis. Nun aber zum Alltag zurück, Ravenna und Ferrara rufen.

13. September 2019

Geh ich vom Parkdeck Richtung Rolltreppe, nach unten zu meinem Zeitungsladen zu rollen, sehe ich: am 20. September wegen Feiertag geschlossen. Frag ich meine Lieblingszeitungsverkäuferin, was das denn für ein komischer Feiertag sei und erfahre: Kindertag. Sie freut sich, weil sie in der kommenden Woche Urlaub hat und einen Tag weniger nehmen muss, mir ist es egal, weil ich zwar auch im Urlaub bin, aber keine Anrechnung mehr habe als Rentner. Was um alles in der Welt aber ist unserer rot-rot-grünen Import-Regierung denn eingefallen, einen 20. September zum Kindertag zu ernennen? Für uns ist der 1. Juni Kindertag. Und da schwafeln diese Komiker, die bald gewählt werden wollen, ständig davon, dass wir „Ostdeutschen“ uns nicht mitgenommen fühlen in die heile Wunderwelt des Westens. Warum oktroyieren sie uns nun auch noch einen gesetzlichen Feiertag neu an einer Stelle auf, wo wir ihn nicht brauchen? Freut sich der 100 Jahre alte Beamtenbund??

12. September 2019

Mein Kalender verrät mir, dass heute vor 100 Jahren Leonid Andrejew starb, was mich an Maxim Gorki erinnert, dessen Essay über Leonid Andrejew ich vor beinahe fünfzig Jahren erstmals las mit der Nebenfolge, dass ich neugierig wurde auf diesen alten Russen, der einfach kein Revolutionär war wie die Guten und trotzdem laut Gorki ein Guter. Da Swetlana Geier zu lange damit befasst war, den unschuldigen „Jüngling“ von Dostojewski in einen „Grünen Jungen“ zu verwandeln, blieb ihr keine Zeit zu einer weiteren überflüssigen Neuübersetzung, weshalb Andrejew im Feuilleton des gesamtdeutschen Westens nicht vorkommt. In meinem dürftigen Andrejew-Archiv dämmern drei Beiträge aus späten DDR-Zeiten vor sich hin. Sie betreffen „Das rote Lachen“ sowie „Judas Ischariot“, Erzählbände der Aufbau-Ausgabe „Gesammelte Werke in Einzelbänden“, gediegene Ausgaben. Bei Reclam gab es „Gullivers Tod“, „Der Gouverneur“ im Verlag der Nation Berlin.

11. September 2019

Der Titel des komischen Beitrags mit dem „Lese-Flow“ hieß „Bücher als Impfstoff gegen platte Parolen“ und ist kaum besser als Friedrich Wolfs „Kunst ist Waffe“, das wenigstens noch in eine einspaltige Überschrift passt. Es darf zumindest keine Luft zwischen den Buchseiten sein, wenn geimpft wird, dann wäre es nämlich Mord, weshalb bekanntlich Schwestern gegen die Spritze klopfen, ehe sie einstechen und ein wenig raus lassen an die Luft außerhalb der Kanüle. Folgt man der Logik von „Report Mainz“, dann müssen Gemeinderäte der so genannten System-Parteien in ihren Dörfern stets gegen den Neubau eines Kindergartens stimmen, falls der Pfui-Teufel-Mann aus der AfD (wahlweise NPD) mehr Platz für die Dorf-Kleinsten will. Sonst wäre es, was verboten ist: Zusammenarbeit. Im Abspann sah man auch den „Ilm-Kreis“ unter den schlimmen Gegenden, in denen CDU und AfD schon gemeinsam gestimmt haben sollen. Heinrich, mich graust vor mir.

10. September 2019

Lange vor der Olsen-Bande reiste schon einer nach Jütland: Theodor Fontane. Nachdem ich im Wachau-Urlaub seine Italien-Reisetagebücher las und den Anfang des ersten Reisetagebuches, das eben nach Jütland führt, griff ich heute nach den „Reisebriefen aus Jütland“, sieben sind es an der Zahl, rasch gelesen und für mich mit allerlei angenehmen Assoziationen verbunden. Denn 1997 im August sah ich die Mehrzahl jener Orte rund um den Limfjord, die Fontane besucht und beschreibt. Auch die Orte und Gegenden in Südost-Jütland mit dem Zielpunkt Düppeler Schanzen kenne ich gut, sah mir den berühmten Kriegsschauplatz des Deutsch-Dänischen Kriegs von 1864, der mir allenfalls vom Hörensagen her vertraut war, aus nächster Nähe an. Das war aber zehn Jahre später, 2007. Neben Fontane heute auch alte Zeitungen der Vorwoche. Die neue Chefin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels schwärmt vom „Lese-Flow in Romanen“, was auch immer das ist.

9. September 2019

Ödestes Wetter. Daher Blick zurück ins Jahr 2004. Wir traten am 8. September die „Tour de France“ an, 15 Übernachtungen in 10 Hotels, wir sahen Paris wieder, Caen, St. Malo, Quimper, Tours, Bordeaux, Nimes, Cannes, Albertville, reihenweise tolle Erlebnisse, nur in den Pyrenäen eine so gnadenlose Überfütterung, dass wir kapitulierten, ehe wir platzten, in Nimes tippten wir auf alten Stier vom Stierkampf, als wir Rindfleisch auf dem Teller hatten mit zu weichen Nudeln, sonst gute französische Küche. Meine drei Joseph-Roth-Texte haben mich gut vertreten, die Post sah ich mir gestern nur flüchtig an. Vor neun heute schon ein lange überfälliges Päckchen, es rundet meine Hofmannsthal-Bestände ab. In der Wachau las ich in Fontanes Reisetagebüchern, schaffte mehr, als ich zu hoffen gewagt hätte. Die Früchte der vergangenen Monate lasse ich bald zu Boden purzeln. Dann erst einmal vorbereitend Zahnarzt, die zweite große Runde rückt Schritt für Schritt näher.


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