Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder; Bühnen der Stadt Gera

Schon der Blick auf das Spiel der stummen Kattrin ist, wenigstens in bestimmter Hinsicht, ein Blick gegen Brecht. Die stumme Kattrin hat natürlich keinen Text. Und jeder Kritiker, der ein wenig auf sich hält, lässt seinen Blick nicht nur wie die Kamera bei Musik-Übertragungen im Fernsehen auf dem Sänger, dem Frontmann, dem eben agierenden Solisten ruhen, er beobachtet, was derweil die anderen tun oder lassen. Das stumme Spiel, das gehört zu meinen Theater-Überzeugungen, ist ein Qualitätsausweis einer Inszenierung. Und ich habe, auch Kritiker sind eitel, mindestens eine Darstellerin, die längst nicht mehr in Thüringen und Umgebung spielt, mit meiner Beobachtung ihres stummen Agierens zu der Überzeugung gebracht, dass die Kerle mit den Freikarten in Reihe 6 Mitte doch nicht nur böswillige Kameraden sind. Dass sie ins Theater gehen, weil sie es lieben und nicht, weil sie ihre Komplexe abarbeiten müssen und stets mit dem falschen Bein aufstehen. Also: Brechts stumme Kattrin in „Mutter Courage und ihre Kinder“ hat immer das Potential, den Kritiker zu fesseln, weil sie mitten im epischen Theater das tun muss, was des Schauspielers ist: spielen. Den Kalauer zu wagen: Nicht umsonst heißen sie Schauspieler und nicht Schaugestiker.

In Gera ist Anne Diemer die stumme Kattrin. Der in Recklinghausen geborene deutsch-türkische Regisseur Turgay Doğan hat ihr insofern etwas von der Aufgabe des Erfindens abgenommen (ein stattlicher Rest blieb dennoch und wurde gemeistert), dass er seine Inszenierung insgesamt zu einem hohen Teil wie eine Choreographie stummen Spielens auffasste, ballettartige, pantomimische Elemente bestimmen über weite Strecken den Abend, der Brecht auf rund hundert Minuten einkürzt. Und es blieb ein Eindruck, der mir schon auf der Heimfahrt aus Gera vom Platz am Lenkrad vorgetragen wurde: Es fiele schwer zu sagen, wer denn am eindrucksvollsten gespielt habe: Ausnahme Anne Diemer. Eben. Das trifft freilich vor allem Brecht, den Bühnen-Epiker, da ja eben nicht einer Stanislawski-Schule folgen wollte und darauf bei seinen Darstellern auch streng achtete. Henning Rischbieter hat vor vielen Jahren formuliert: „Realismus ist für ihn gestische Formulierung der Realität auf die theatralische Darstellbarkeit hin. Die Geste ist das wichtigste Kunstmittel des Brechtschen Theaters.“ Und: „Requisiten haben gestische Qualität.“ Sie zeigen etwas, das Zeigen ist ihre Funktion, was ihre bei aller Dialektik oft eindimensionale Art ausmacht.

Es wird deutlich: bei Brecht geht es kaum ohne Theorie. Was dem Zuschauer im Parkett genau die Schwierigkeit bereitet, mit der er umgehen muss: Brecht verlangt einen anderen Zuschauer als, sagen wir: Ibsen, nur im wirklichen Leben ist der Ibsen-Zuschauer auch der Brecht-Zuschauer. Wenn zum Beispiel ich nach der kürzlichen Meininger Premiere von „Mutter Courage und ihre Kinder“ den singenden Michael Jeske als Koch besonders loben zu müssen glaubte, dann ist klar, dass mir unvermeidlich in Gera der singende Koch Thorsten Dara außerordentlich schwach vorkam (beim Singen). Ein Kollege spricht bei den Meiningern Jeske und Rodewald gern von alter Schule und ich brauchte eine Weile, bis ich merkte, dass das gar nicht so abschätzig gemeint ist, wie es in meinen Ohren manchmal klang. Aber in Gera haben Regie und Dramaturgie just die Konfrontation zwischen dem Feldprediger (Manuel Kressin) und dem Koch (Thorsten Dara) so heftig beschnitten, dass beide gar nicht erst in die Verlegenheit kamen zu spielen. Auf ein kaum bemerkbares Minimum Text ist auch die Beziehung zwischen der Hure Yvette (Katerina Papandreou) und dem Koch gestrichen. In Gera ist sie letztlich fast nur wegen der roten Stiefel auf der Bühne.

Den Planwagen gibt es in Gera nicht. Hätte es ihn gegeben, wäre es die größere Überraschung gewesen. Die Zeit ist noch nicht reif für den Planwagen auf höherer Ebene. Zu viele kennen noch das Gefährt der Therese Giehse, der Helene Weigel, der Gisela May, der Carmen-Maja Antoni. Die ja mit ihrem seit mittlerweile mehr als zehn Jahren auf der Bühne des Berliner Ensembles unterwegs ist, übermorgen gibt es dort die nächste Vorstellung. Aber wir leben in einer Zeit, deren Vortextern es verdächtig erscheint, wenn ein Theater Stücke zehn und mehr Jahre laufen lässt und das nur aus dem nun wirklich albernen Grund, weil das Haus immer wieder voll wird. Sogar aus fernen Ländern kommen Zuschauer, die das sehen wollen, ist es denn möglich? Aus wirklich guten Theatern rennen fünfzig Prozent der Zuschauer in der Pause, wenn es eine gibt, entsetzt und unter Zurücklassung von Teilen ihrer Garderobe aus dem Haus. Und kommen so schnell nicht wieder. Solche Häuser werden dann, wenigstens in Berlin, gern Theater des Jahres. Ein bisschen postmigrantisch geht es denn auch in Gera zu, nur ist „Mutter Courage“ dann doch ein anderes Stück, eins, das Aktualisierungen, selbst wo sie mit dem Holzhämmerchen auftreten, erlaubt.

Statt der Räder des Planwagens dreht sich in Gera die Drehbühne. Die mit Kartons bestapelt ist (Bühne und Kostüme Lilith-Marie Cremer), in denen man Dinge aufbewahren, auf die man steigen, von denen man rutschen kann. Man kann sie auch abräumen. Die Projektionen, die sehr urbrechtisch zum Einsatz kommen, verlieren sich nach unten auf eben den Kisten etwas. Zu sehen sind ganz am Anfang Köpfe, zu hören Stimmen, die in fremder Sprache reden, später sprechen sie in dieser Sprache auch die Titularien der Szenen. Während die Projektionen, die heutigen Krieg zeigen wollen, aber auch, mir auf die Schnelle nicht erschlossen, den nordkoreanischen Diktator oder Obama, sichtbar machen, was angesichts allabendlicher Nachrichtenbilder nicht unbedingt noch zusätzlich im Theater sichtbar gemacht werden muss. Das Theater ist heute, man muss es nicht bedauern, für Tagesaktualität einfach zu langsam, selbst die fixe Elfriede Jelinek schafft es nicht, jedes Brennpunkt-Thema, das den Tatort später anfangen lässt, sofort in Textfläche zu wandeln. „Mutter Courage und ihre Kinder“ aber schafft es, den Unterschied zwischen einem modernen Klassiker und den üblichen Anderthalbtagsfliegen der Jahresspielpläne evident zu machen.

An der Rampe lässt die Geraer Inszenierung eine Kinderpuppe liegen, die naturalistisch an jenes ertrunkenen Jungen erinnert, dessen Bild so etwas wie das Medienbild des Jahres von der Flüchtlingskrise wurde. Als die stumme Kattrin das Kind aufnimmt, erschließt sich auch die Symbolik des gedrehten Strandes in der Eingangsprojektion, als Manuel Struffolino und Johannes Emmrich, wenig später Werber und Feldwebel, noch den Anschein erwecken, sie hätten obercool Teilnahmslosigkeit einer Sonne-Strand-Cocktail-Unkultur vorzuführen. Sie treten dann ans Mikrofon. Leider, möchte ich sagen. Aus einem Brecht-Stück wird so eher eine musikalisch-literarische Matinee. Die Söhne der Courage werden von Ouelgo Tené (Eilif) und Ioachim Zarculea (Schweizerkaas) gegeben, ihr Agieren ist textarm gehalten. Und Mechthild Scrobanita, die Mutter, überzeugt mit Abstand am stärksten, wenn sie singt. Sie lässt die unverwüstliche Kraft dieser Brecht-Songs spüren und hören. Mit der Umkehr des Sprechens und des Singens am Ende hat die Inszenierung für mich ihren stärksten Einfall: die stumme Kattrin singt, die Mutter verstummt. Vergessen all das nervige Maschinenpistolen-Geballere aus Darstellermündern.
www.tpthueringen.de


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